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vom:
August 2001


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FF4/2001:

  "Humanitäre Intervention"

Die Pflugscharbewegung in den USA und in Europa

Was ist der Preis des Friedens?

Wolfgang Sternstein

Zu den Mythen des Kalten Krieges gehört die Behauptung, die Politik der atomaren Abschreckung habe einen dritten Weltkrieg zwischen der Sowjetunion und den USA verhindert. Daraus wird abgeleitet, sie werde es auch in Zukunft tun. Die Bombe als Friedensstifterin sozusagen. Pazifisten haben diese Behauptung stets als Betrug und Selbstbetrug zurückgewiesen. Seit geraumer Zeit erhalten sie jedoch Unterstützung von einer Seite, von der sie es am wenigsten erwartet hatten: dem Militär.


Einer dieser Unterstützer ist der amerikanische General George Lee Butler, der in den Jahren 1991-93 Oberbefehlshaber der amerikanischen Atomstreitkräfte war. In einem Vortrag vor kanadischen Friedensorganisationen sagte er: "Wir sind im Kalten Krieg dem atomaren Holocaust nur durch eine Mischung von Sachverstand, Glück und göttlicher Fügung entgangen, und ich befürchte, das Letztere hatte den größten Anteil daran."

Und in einem Interview, das er dem SPIEGEL 1998 gab, führte er aus: "Wir handelten wie ein Betrunkener beim russischen Roulett, der zehnmal die Pistole abdrückt und dann erklärt: Guck mal, es ist überhaupt nicht gefährlich. In Wahrheit war das Nuklear-Roulett überaus gefährlich und arrogant. Es ist ein Wunder, dass wir es geschafft haben, uns irgendwie durchzuwursteln. Nukleare Abschreckung ist ein Hasardspiel, das irgendwann verloren geht."

Nukleare Abschreckung ist ein Hasardspiel, das irgendwann verloren geht. Wir wissen nur nicht, wann und wo. Was Atomkrieg bedeutet, brauche ich hier nicht darzulegen. Es genügt die Feststellung, dass er die Verwüstung ganzer Länder und Kontinente, ja die Auslöschung allen höheren Lebens auf der Erde zur Folge haben kann. Hinzu kommt, dass Atomwaffen heute nicht nur im klassischen Ost-West-Konflikt, sondern auch an anderen Krisenherden der Welt, wie dem Nahen Osten (Israel) und im Kaschmir-Konflikt (Indien - Pakistan) zum Einsatz bereitstehen.

Butler hat aus seiner Analyse die Schlussfolgerung abgeleitet: Der einzige Weg, den Atomkrieg auf lange Sicht zu verhindern, ist die völlige Beseitigung der Atomwaffen und ihre völkerrechtliche Ächtung. Sechzig Generäle und Admiräle aus mehreren Ländern haben sich seinem Aufruf angeschlossen.

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Die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki vor 56 Jahren erzeugten einen weltweiten Schock. Zahlreiche Männer und Frauen erkannten damals die Bedeutung dieser furchtbaren Ereignisse. Ich nenne hier nur die Namen Albert Einstein, Albert Schweitzer, Robert Jungk, Günther Anders, Bertrand Russell und Mahatma Gandhi. Albert Schweitzer schrieb 1961 im fernen Urwaldwinkel Lambarene:

"In der Menschheitsgeschichte von heute handelt es sich darum, ob die Gesinnung der Humanität oder die der Inhumanität zur Herrschaft gelangt. Wenn es die der Inhumanität ist, die nicht darauf verzichten will, unter Umständen von den grausigen Atomwaffen, die heute zur Verfügung stehen, Gebrauch zu machen, ist die Menschheit verloren. Nur wenn die Humanitätsgesinnung, für die solche Waffen nicht in Betracht kommen, die Gesinnung der Inhumanität verdrängt, dürfen wir hoffend in die Zukunft blicken. Die Gesinnung der Humanität hat heute weltgeschichtliche Bedeutung."

Schweitzers Warnung ist gegenwärtig noch aktueller als zu der Zeit, als er sie niederschrieb. Die nuklearen Arsenale sind noch immer randvoll. Die Zahl der Atommächte ist gewachsen und wird weiter wachsen, die Zahl der internationalen Krisenherde auch. Es scheint, als sei der Kampf zwischen der Gesinnung der Humanität und der der Inhumanität bereits verloren. Die meisten Menschen haben sich an die Existenz der Bombe gewöhnt, manche nehmen sie überhaupt nicht mehr wahr und einige fühlen sich von ihr beschützt. Die jüdisch-christliche Religion kennt zehn Gebote. Vielleicht brauchen wir heute neben dem fünften Gebot: Du sollst nicht töten, noch ein elftes Gebot: Du sollst dich nicht an Atomwaffen gewöhnen. Sonst wird der Atomkrieg eines Tages wie eine Naturkatastrophe über uns hereinbrechen, weil wir die Zeit nicht genutzt haben, in der er hätte verhindert werden können - und diese Zeit ist jetzt!

Es gibt Menschen, die sich mit der Existenz der Bombe nicht abfinden, die sich an sie nicht gewöhnen wollen. Sie sind nicht bereit, den Untergang in Ruhe und Ordnung zu erwarten. Sie meinen, angesichts einer in der Geschichte der Menschheit noch nie dagewesenen Bedrohung unserer Existenz sei es mit Unterschriften sammeln, demonstrieren und protestieren nicht getan, so wichtig das auch sein mag. Es sei vielmehr notwendig, vom Protest zum zivilen Ungehorsam, von der Demonstration zur gewaltfreien Aktion fortzuschreiten.

Da sie das Vertrauen in den Abrüstungswillen der Regierungen verloren haben, beginnen sie selbst mit der so dringend nötigen Abrüstungsarbeit. Sie bekennen sich zu ihren Taten und sind bereit, die Folgen hinzunehmen in der Hoffnung, dadurch die Öffentlichkeit, die Gerichte und die Politiker wachzurütteln. Sie nennen sich Pflugschärler unter Berufung auf das bekannte Prophetenwort: "Sie (die Völker) werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Es wird kein Volk wider das andere ein Schwert aufheben und werden nicht mehr kriegen lernen."

Wie so vieles kommt auch die Pflugscharbewegung aus den USA. Ihre Wurzeln reichen zurück bis in die Widerstandsbewegung gegen den Vietnamkrieg. Ende der sechziger Jahre erregten die Brüder Daniel und Philip Berrigan Aufsehen durch spektakuläre Widerstandsaktionen. Zusammen mit einigen Mitstreitern drangen sie nach sorgfältiger Vorbereitung in Kreiswehrersatzämter ein und übergossen Einberufungsakten mit Blut oder verbrannten sie mit Napalm unter der Devise: Lieber Akten verbrennen als Kinder in Vietnam! Dafür wanderten sie für Jahre hinter Gitter.

Aus diesem Kreis friedenspolitisch engagierter katholischer Priester und Nonnen rekrutierte sich auch die erste Pflugschargruppe. Sie bestand aus acht Personen, darunter die Brüder Berrigan, die Ordensschwester Anne Montgomery und der Ordenspriester Carl Kabat. Am 9. September 1980 drang die Gruppe in eine Atomwaffenfabrik von General Electric in King of Prussia ein, zerstörte zwei Sprengkopfhülsen mit Hämmern und goss Blut über Konstruktionszeichnungen, um das "blutige Geschäft" der Atomwaffenherstellung anschaulich vor Augen zu führen. Danach verharrten sie im Gebet bis zu ihrer Festnahme. Die Mitglieder der "Pflugschar Acht" wurden in einem aufsehenerregenden Prozess zu 3-10 Jahren Gefängnis verurteilt. Jahrelang beschäftigte der Fall die Gerichte. Am Ende blieb es bei einer Gefängnisstrafe von eineinhalb Jahren.

Eine breite Volksbewegung hat sich aus den Pflugschargruppen nicht entwickelt. Das war auch nicht zu erwarten. Die Pflugschärler haben sich jedoch stets als Teil einer Friedensbewegung verstanden, in der jede und jeder tut, was in ihren bzw. seinen Kräften steht, um die Beseitigung sämtlicher Atomwaffen zu erreichen. Dieses Ziel haben sie nicht erreicht. Die Pflugschärler blieben gesellschaftlich weitgehend isoliert. Mag sein, dass die Radikalität ihrer Aktionen in der Bevölkerung und selbst in der Friedensbewegung Ängste auslöste, zumal die Strafen, die sie in den USA zu erwarten haben, exzessiv sind. Hier nur ein paar Beispiele: Helen Woodson: insgesamt 17 Jahre, Philip Berrigan: 11 Jahre, Jean Gump und Daniel Sicken: 4 Jahre, Carl Kabat: 9 Jahre Gefängnis.

Doch aufgegeben haben die Pflugschärler nicht. Seit 1980 haben rund achtzig symbolische Abrüstungsaktionen stattgefunden. Es gab Pflugscharaktionen in Australien, in England, Schweden und Holland. Auch in der Bundesrepublik gab es zwei Aktionen in den Jahren 1983 und 1986. Eine vierköpfige Gruppe rüstete jeweils eine Pershing-2-Zugmaschine in der Hardt-Kaserne bei Schwäbisch Gmünd mit Hämmern und Bolzenschneidern ab. Die Aktivistinnen und Aktivisten wurden von der Staatsanwaltschaft wegen Sabotage, Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch angeklagt. Statt der erwarteten mehrjährigen Haftstrafe blieb es jedoch bei einer symbolischen Strafe für eine symbolische Tat: 90 Tagessätze Geldstrafe, die ein Teil der Gruppenmitglieder im Gefängnis absaß. Ich war an beiden Aktionen beteiligt.

In England hat es neuerdings im Rahmen der Anti-Trident-Kampagne mehrere Pflugscharaktionen gegeben. Zwei Gruppen sind sogar freigesprochen worden. Die Aktionen richteten sich gegen die vier Trident-U-Boote, die Großbritanniens Status als Atommacht gewährleisten sollen. Was mich betrifft, so halte ich beides für gleichermaßen notwendig: Legale Massendemonstrationen und sorgfältig vorbereitete gewaltfreie Aktionen von Kleingruppen. Erst durch die Verbindung von beidem entfaltet der gewaltfreie Widerstand seine Wirksamkeit.

Pflugscharaktionen sind der deutschen Öffentlichkeit gegenwärtig nicht zu vermitteln. Wir sind daher seit 1990 zu weniger spektakulären, aber auch weniger riskanten "Entzäunungsaktionen" am EUCOM bei Stuttgart und "Inspektionen" am Atomwaffenstandort Büchel übergegangen. In Büchel üben deutsche Tornadopiloten den Einsatz mit 11 US-amerikanischen Atombomben im Rahmen der "nuklearen Teilhabe" der Bundesrepublik.

Angesichts der neuen Nato-Strategie und der amerikanischen Pläne für einen Raketenabwehrschirm im Weltraum muss von Seiten der Friedensbewegung weit mehr getan werden als bisher, soll ein neues nukleares Wettrüsten verhindert werden. Es ist höchste Zeit herauszufinden, ob die Friedensbewegung nur schläft oder ob sie sanft entschlafen ist. Im Blick auf die Diskrepanz zwischen dem, was notwendig ist und dem, was getan wird, kann ich Daniel Berrigan verstehen, auch wenn seine Radikalität manchen Pazifisten verstören mag:

"Wir haben den Namen Pazifisten (von lateinisch pacem facere = Frieden machen) angenommen, doch wir waren - aufs Ganze gesehen - nicht bereit, einen nennenswerten Preis dafür zu bezahlen. Und weil wir den Frieden mit halbem Herzen und halbem Leben wollen, geht der Krieg natürlich weiter, denn das Kriegmachen ist seiner Natur nach total, doch das Friedenmachen ist aufgrund unserer Feigheit partiell. So gewinnt ein ganzer Wille, ein ganzes Herz und ein ganzes nationales Leben, auf Krieg aus, Oberhand über das kraftlose Wollen des Friedens. In jedem nationalen Krieg seit Gründung der Republik hielten wir es für selbstverständlich, dass der Krieg die härtesten Kosten auferlegt und dass diese Kosten mit freudigem Herzen bezahlt werden sollten. Wir halten es für selbstverständlich, dass in Kriegszeiten Familien für lange Zeit getrennt, Männer eingesperrt, verwundet, in den Wahnsinn getrieben, an fremden Stränden getötet werden. Vor solchen Kriegen erklären wir ein Moratorium für jede normale menschliche Hoffnung - für Ehe, Gemeinschaft, Freundschaft, für moraliches Verhalten gegenüber Fremden und Unschuldigen. Wir werden belehrt, dass Entbehrung und Disziplin, privates Leid und öffentlicher Gehorsam unser Los sind. Und wir gehorchen. Und wir erleiden es - denn leiden müssen wir -, denn Krieg ist Krieg, und guter Krieg oder schlechter, wir haben ihn und seine Kosten auf dem Hals.

Doch was ist der Preis des Friedens? Ich denke an die guten, ehrbaren, friedliebenden Leute, die ich zu Tausenden kenne, und ich frage mich: Wie viele von ihnen leiden an der zehrenden Krankheit der Normalität, so dass, selbst wenn sie sich zum Frieden bekennen, ihre Hände in instinktivem Krampf in Richtung ihrer Angehörigen, in Richtung ihres Komforts, ihres Helms, ihrer Sicherheit, ihres Einkommens, ihrer Zukunft, ihrer Pläne greifen - des Fünfjahresplans für das Studium, des Zehnjahresplans für die berufliche Stellung, des Zwanzigjahresplans für das familiäre Wachstum und die familiäre Eintracht, des Fünfzigjahresplans für ein anständiges Berufsleben und eine ehrenvolle Entlassung in den Ruhestand.,Natürlich wollen wir den Frieden`, so rufen wir, doch zugleich wollen wir die Normalität, zugleich wollen wir nichts verlieren, wollen wir unser Leben unversehrt erhalten, wollen wir weder Gefängnis, noch schlechten Ruf, noch die Zerreißung persönlicher Bindungen. Und weil wir dieses erlangen und jenes bewahren müssen, und weil der Fahrplan unserer Hoffnungen um jeden Preis - um jeden Preis - auf die Minute eingehalten werden muss, und weil es unerhört ist, dass im Namen des Friedens ein Schwert niederfahren soll, das jenes feine und kluge Gewebe, das unser Leben gesponnen hat, zertrennt, weil es unerhört ist, dass gute Menschen Unrecht leiden sollen, Familien getrennt werden oder der gute Ruf dahin ist - deswegen rufen wir Friede und rufen Friede, und da ist kein Friede. Da ist kein Friede, weil da keine Friedensmacher sind. Es gibt keine Friedensmacher, weil das Frieden machen mindestens so kostspielig ist wie das Kriegmachen - mindestens so anspruchsvoll, mindestens so zerreißend, mindestens so geeignet, Schande, Kerker und Tod nach sich zu ziehen."


Dr. Wolfgang Sternstein langjähriger Pflugscharaktivist.
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