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FF2/2002


vom:
Mai 2002


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FF2/2002:

  "Freiheit stirbt mit Sicherheit"

Wie eine Verfasste Studierendenschaft für den "Rechtsstaat" die Zähne zeigte

Rasterfahndung contra Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung

Oliver Stoll

Seit September 2001 wurden berlinweit und bundesweit die Daten von ausländischen Studenten der Humboldt-Universität nach Anhaltspunkten untersucht, die eine Tätigkeit als Schläfer vermuten lassen. Dabei handelt es sich um eine Folge der Ohnmacht von Polizei- und Sicherheitsbehörden, Probleme zu lösen, die von der Sozial- und Wirtschaftspolitik ignoriert werden.


Im Nachhinein hat das Berliner Landgericht im Januar 02 die Rasterfahndung untersagt und als rechtswidrig erklärt. Eine Beschwerde des Innensenators Körting, vertreten durch das Landeskriminalamt (LKA) Berlin, ist beim Kammergericht Berlin noch anhängig. Dabei stellen sich u.a. folgende Fragen: Gibt es nicht gewisse Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Zusammenlebens zwischen Kriminalität und der materiellen Divergenz in der Gesellschaft? Proportionalität und Verhältnismäßigkeit, ist eine davon. Eine zweite ist die Beobachtung, dass in dem Maße, wie staatliche Zuwendungen an die Bevölkerung zur Kaschierung der Vermögensunterschiede gestrichen werden, die Ausgaben und Befugnisse für Sicherheit und Militär steigen.

Über die Anschläge des 11. Septembers und ihre Bedeutung ist viel diskutiert worden. Das Bedürfnis nach mehr Sicherheit ist der Bequemlichkeit gewichen, sich gegen die "Bedrohungen der Dritten Welt" durch hohe Mauern, Grenzposten, Videokameras und Ausweisung alles Fremden zur Wehr zu setzen, anstatt die Wurzeln des Problems anzugehen: Die Armut auf der Welt, auf der sich unser Reichtum begründet. Es ist die schlichte Logik Diogenes`: Besitz macht unfrei!

Am Beispiel Berlin: Entscheidung, die 1.

Berlin ist reich. Reich an Kultur und Individualität, besonders dort, wo sie von Einflüssen aus der ganzen Welt bereichert wird. Ein solcher Ort des Reichtums sind die Universitäten - noch. Allerdings fällt ein Schatten auf ihren Glanz. Während Bundesbildungsministerin Bulmahn (SPD) unbeirrt mit millionenteuren Kampagnen ausländische Studierende anwirbt, werden ausländische Kommilitonen seit September vergangenen Jahres als potenzielle "Schläfer" und Sicherheitsrisiko durch das Landeskriminalamt gerastert. Berlinweit wurden Studenten aus 29 Herkunftsländern Opfer der aktionistischen Polizeikampagne, die vor allem als Beruhigungsspritze diente - auf Kosten der als potentielle TerroristInnen stigmatisierten Bevölkerungsgruppen (insbesondere vieler Studierender).

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FF2/2002
Als rassistisch und überflüssig hatten die Studierendenvertretungen von HU, FU und TU die Maßnahmen bezeichnet, an ihrer Rechtmäßigkeit gezweifelt, Studierende beraten, durch Rechtsbeistand unterstützt und die Unileitungen wiederholt zur Beschwerde gegen die Rasterfahndung aufgefordert, der ReferentInnenRat hat sie sogar auf Unterlassung der Datenherausgabe verklagt. Zu Recht, wie das Landgericht Berlin am 15. Januar 2002 bestätigte. Auf Antrag des ReferentInnenRates der HU, dreier von der StudentInnenschaft unterstützter Studenten aus dem Sudan und aus Algerien und schließlich auch der Humboldt-Universität hob das Berliner Landgericht die Beschlüsse des Amtsgerichts Tiergarten auf, das die Rasterfahndung im September und Oktober angeordnet hatte. Ein Erfolg, mit dem man nicht mehr rechnen konnte, nachdem vorhergehende Bemühungen erfolglos geblieben waren. Eine Niederlage für Innensenator Körting (SPD), die er anfangs zu ignorieren gedachte.

"Die Rasterfahndung geht weiter", tönte er und wollte lediglich die drei klagenden Studenten und vielleicht auch die HU-Studis aus den Ermittlungen herausnehmen. Überhaupt sei der Beschluss schlicht falsch und weit entfernt "von jeder Realität des Terrorismus". Das Gericht ging in seiner Entscheidung unter anderem von Presseerklärungen und Gefahreneinschätzungen der Bundesregierung aus, in denen verlautbart wurde, dass es keine Anzeichen dafür gebe, dass die Verübung terroristischer Gewalttaten in Deutschland bevorstehe oder dass sich daran etwas geändert habe, seitdem der Bundestag am 16.11. 2001 beschloss, deutsche militärische Kräfte für den Einsatz in Afghanistan bereit zustellen. Es bestehe keine unmittelbare Gefahr nach dem Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG).

Da muss man doch fragen, wer denn nun "von jeder Realität des Terrorismus" entrückt ist? Sollte etwa die Bundesregierung absichtlich lügen? Wem können die Gerichte bei der Überprüfung exekutiven Handelns denn noch trauen, wenn nicht der Bundesregierung? Etwa den zahlreichen unbenannt gebliebenen Hinweisen aus Geheimdienstkreisen und Zentren der unkontrollierten Machtmaschinerie? Zentrale Forderungen waren in der Folge schnelle, rechtsmittellose Abschiebungen von AsylbewerberInnen und schärfere Zuwanderungsgesetze sowie allgemeine Sicherheits- und Ordnungsgesetze (Otto-Katalog I und II)- schließlich lägen in diesen Kreisen die Potentiale des Terrorismus. Schubladen auf, AusländerInnen und unauffällige Menschen rein und Deutschland wird wehrhafte Nation. Wozu Multikulti? Leitkultur kennt nur Integration. Und integriert wird, wer herrschaftsdeutsch genug ist.

Entscheidung, die 2.

Kurz danach, im Januar, entschied Innensenator Körting in Berlin, die Fahndung doch zu beenden. Offenbar hatte ihn seine eigene Rechtsabteilung davon in Kenntnis gesetzt, dass auch InnensenatorInnen manchmal an die Beschlüsse von Gerichten gebunden sind. Zu befürchten ist allerdings, dass das LKA seine Ermittlungen angeblich zum 16.01.02 bereits abgeschlossen hatte und nun von den "normalen polizeilichen Ermittlungsmethoden" Gebrauch macht.

Was das bedeutet, zeigen Hamburger Beispiele, wo die Polizei 140 Studenten "zu einem Gespräch" eingeladen hat. Wer nicht erscheint, macht sich verdächtig (wer der Einladung folgt, erst recht) und dessen soziales Umfeld wird beleuchtet. Dabei gehören Hausbesuche ebenso zum Repertoire polizeilichen Handwerkzeugs wie Befragungen von VermieterInnen, in der Nachbarschaft und am Arbeitsplatz. Was das für ausländische Studierende bedeutet, die im Dunstkreis der Berliner "Weltoffenheit", in der Formulare prinzipiell nur auf deutsch gedruckt werden, ohnehin Schwierigkeiten haben, bedarf nicht viel Fantasie, bleibt aber noch weit hinter dem zurück, was Betroffene zu berichten wissen: Verlust der Geldkarte im Bankautomat, des Arbeitsplatzes und des Wohlbehagens in der Nachbarschaft, Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche und besorgte ErmittlerInnen im eigenen Schatten tragen kaum zur Steigerung des Wohlbefindens bei.

Wie war das mit der Unschuldsvermutung? Die BürgerInnen müssen dem Staat beweisen, dass sie nicht gefährlich sind. Es geht ja schließlich um die Staatssicherheit, da müssen individuelle Freiheiten mal zurücktreten. Man weiß schließlich nie, ob nicht irgendwer unter uns schläft, der/die dem Staat gefährlich werden könnte. "Seien Sie vorsichtig und gewarnt, auf der Straße, in der Uni und überall sonst! Seit dem 11. September ist die Welt nicht mehr die gleiche. Wir müssen uns darüber klar werden, dass der Terrorismus unter uns ist und jederzeit zuschlagen kann." (Norbert Geis, MdB CSU).

Vielleicht sollte das Bildungsministerium bei seinen Anwerbeversuchen im Ausland die deutsche Lösung für verstärktes Sicherheitsbedürfnis stärker hervorheben, die sich als gemeinsames Bemühen von Volk und Staat einer langen Tradition erfreuen: "Ausländer können sich in Deutschland fast immer sicher bewegen."

(aus: www.campus-germany.de "Hi Potentials!") Mehr Info unter: www.refrat.hu-berlin.de/raster und www.astafu.de

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