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FForum 3/2003


vom:
Juli 2003


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  Vergessene Kriege

Tibet - Die vergessene Dimension

Niru Vora und Rajiv Vora

In Reaktion auf die Resolution des Europäischen Parlamentes, in der die chinesische Regierung aufgefordert wurde, einen Dialog ohne Vorbedingungen mit seiner Heiligkeit dem Dalai Lama auf der Basis dessen Fünf-Punkte-Friedensplans zu eröffnen, entließ die chinesische Regierung kürzlich eine politische Gefangene und empfing im September des Vorjahres eine tibetische Delegation. Eine weitere Delegation besucht China zum jetzigen Zeitpunkt. Das Ultimatum des Europäischen Parlamentes in Bezug auf den Dialog - das Minimum, das der Dalai Lama gefordert hatte - läuft im Juni 2003 aus. Obwohl es keine substantiellen Schritte hin zur Freiheit Tibets gegeben hat, ist selbst ein nominaler Raum, den der offizielle Empfang von Delegationen schafft, besser als eine totale Verweigerungshaltung von Seiten Chinas.


Falls jedoch diese nominale chinesische Geste dem Europaparlament als Entschuldigung dient, seine Warnung nicht auszuführen - die Anerkennung der tibetischen Exilregierung unter seiner Heiligkeit dem Dalai Lama -, dann wird China keine Dringlichkeit spüren, sich mit der sehr ernsthaften Natur seiner gewaltsamen politischen und kulturellen Zerstörung Tibets auseinanderzusetzen.

Die tibetische Kultur als Heilmittel für die Menschheit

Eine Eroberung kann politische Freiheit zurückgeben, aber wenn die Kultur, in der eine Nation ihre politische Freiheit visualisiert und geplant hat, zum Großteil durch kalkulierte Aggression und Unterdrückung beschädigt wurde, liegt ihre Wiederherstellung jenseits des politischen Gebens und Nehmens. Das chinesische Projekt der tiefreichenden Verfälschung tibetischer Kultur und Geographie ist auf gutem Wege, die einzigartige tibetische Nation als eine lebende spirituelle Kultur der Gewaltfreiheit unerkennbar zu machen. Selbst eine anerkannte tibetische Regierung wird dann nicht in der Lage sein, das zivilisatorische Mandat ihrer Nation zu erfüllen. Das chinesische kommunistische Regime hat mit einer Kampagne begonnen, die einzige lebende Kultur der Gewaltfreiheit, die eine Symbiose von Rationalität und Glauben an das Göttliche darstellt, vom Gesicht der Erde zu fegen. Diese Kultur hätte das Potential, die Welt von der Gewalt der gott- und glaubenslosen westlichen Rationalität zu befreien, wie sie sich im Triumvirat des hedonistischen Materialismus-Konsumismus-Imperialismus auf der einen Seite, von Fundamentalismus und Terrorismus, die aus vernunftlosem Glauben geboren werden, auf der anderen Seite, ausdrücken. Denn sie negiert die Dualität zwischen dem Rationalen und dem Spirituellen. Wie die begehrten tibetischen Medikamente Heilmittel für viele physische Krankheiten sind, bei denen die moderne Medizin versagt, so ist die tibetische Kultur Heilmittel für die tödlichste aller Krankheiten, der Krankheit der modernen Zivilisation selbst. In diesem intellektuellen, kulturellen und spirituellen Kontext unseres Verständnisses des tibetischen Freiheitsbegriffes kann die wahre Bedeutung der Gewalt, die gegenüber Tibet ausgeübt wird, und eine wahre Wertschätzung des tibetischen Freiheitskampfes erst begriffen werden.

Der Kalon Tripa oder Premierminister der Exilregierung, Prof. Samdhong Rinpoche, erklärt: "Freiheit wird in der tibetischen Sprache ´rangwang` genannt. Dies bedeutet mehr als die pure Übersetzung des englischen Wortes für ´Freiheit` oder ´Unabhängigkeit`. Es ist ein altes klassisches Wort, das genaugenommen Souveränität, Selbstbestimmung oder Selbstregierung ausdrückt. Es bezieht sich mehr auf Selbstdisziplin denn auf unkontrollierte Anarchie. Die letzte Freiheit ist der Zustand der Erleuchtung ohne jedes Band von karma und klesha (Taten und geistige Mängel). Um solch eine Freiheit zu erreichen, braucht ein Mensch eine förderliche soziale und physische Umgebung, in der sein Geist in Güte erblühen und das Erwachen bedingungsloser Intelligenz erfahren kann. Das erfordert einen förderlichen inneren und äußeren Zustand, wo die Grundpotentiale des Menschen in ihrer natürlichen Form entwickelt werden können. Die fundamentalen Charakteristika von Tibet als einer Nation waren Frieden, Mitgefühl, Gewaltfreiheit und Spiritualität. Die Existenz von Tibet könnte daher gerechtfertigt werden, wenn sie nur ihre Tradition der Spiritualität bewahren könnte. Sonst wird Tibet wie jede andere moderne Nation werden, und ihre Freiheit würde dann nur politisch sein, ohne jeden Wert für das Volk Tibets. Tibet ohne ´Tibetisch-Sein` hat keine Bedeutung für irgendein lebendes Wesen."

Die chinesische Absicht, Tibet kulturell verschwinden zu lassen, wurde deutlich in der Politik Chinas, das tibetische Land mit chinesischen Siedlern zu überziehen. In Antwort auf eine Frage über den ökonomischen Sinn und Rechtfertigung der unerträglich hohen Kosten von 29 Milliarden US-Dollar für eine Eisenbahnlinie zwischen Amdo und Lhasa antwortete der damalige starke Mann Chinas, Deng Xiaoping, kryptisch. "Es ist kein kommerzielles Projekt." Er wusste, dass die umgesiedelten chinesischen Bauern in Tibet nicht heimisch werden würden, solange sie von China abgeschnitten blieben. Es dauerte Tage anstrengender Reise von chinesischem zu tibetischen Territorium. Für jeden LKW mit Reisenden werden in dem Hochland vier weitere für Ausrüstung und Notfälle gebraucht. Deshalb fühlten sich diejenigen, die in Tibet angesiedelt wurden, nicht heimisch, unfähig, mit ihrem Land und Menschen in Verbindung treten zu können. Die Eisenbahn garantierte die Verbindung, die Stabilität bringen würde, und den Siedlern erlauben wird, ihre Wurzeln in einen ansonsten fremden Boden zu schlagen und die zahlenmäßig inzwischen zehnfach unterlegenen, aber tief verwurzelten Tibeter zu überwältigen.

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FForum 3/2003
Als seine Heiligkeit der Dalai Lama sagte, dass die Zeit knapp würde, wusste er, dass nicht sein Thron, sondern die Macht und Heiligkeit dieses Thrones, die die seltene spirituelle Kultur Tibets symbolisieren, in Gefahr ihrer endgültigen Auslöschung sind. Tibet muss von der Aggression und Zerstörung gerettet und als Treuhänder des Besten im Menschen und als Wegweiser für wahren menschlichen Fortschritt und Freiheit in Gewaltfreiheit bewahrt bleiben. Die epochale Bedeutung der Freiheit Tibets als Befreiung der einzigen lebenden Kultur der Gewaltfreiheit sollte in dem Licht der wachsenden Suche nach gewaltfreien Alternativen in aller Welt gesehen und betont werden.

Rajiv Vora ist ein Gandhianischer Gelehrter und Aktivist. Er ist Herausgeber der Zeitschrift Gandhi Marg, die von der Gandhi Peace Foundation in Delhi herausgegeben wird, und Asian Coordinator der Nonviolent Peaceforce.

Dr. Niru Vora ist eine Sinologin, die eng mit dem tibetischen Kampf verbunden ist, und Geschäftsführerin von Swarajpeeth, einer Institution, die in dem Feld der Gandhi`schen Perspektive von Kultur, Wahrheit und Gewaltfreiheit tätig ist.

Adresse: Gandhi Peace Foundation, 221, 223 D. D. U. Marg, New Delhi 110 002, India, Tel ++-91-11-2323 5965 (R), -2323 7491, -- 93 (o), Fax ++ -91-11-2323 6734_ attn R Vora

Die beiden AutorInnen entstammen der gandhianischen Bewegung und sind seit vielen Jahren in der Unterstützung des tibetischen - gewaltfreien - Freiheitskampfes engagiert. Sie beschreiben in ihrem eigens für das Friedensforum verfassten Beitrag die religiös-spirituelle Bedeutung Tibets. (Red)

Kürzung und Übersetzung aus dem Englischen von der Redaktion.


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