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FForum 3/2003


vom:
Juli 2003


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  Vergessene Kriege

Bosnien-Herzegowina im Übergang vom Bürgerkrieg zum Frieden

Sabine Klotz

Nachrichten über Bosnien-Herzegowina finden sich in ausländischen Medien nur noch selten. Einerseits ist das ein gutes Zeichen, zeigt es doch, dass sich die dortige Lage gebessert haben muss. Zu schließen ist dies daraus, dass sich gemäß der Devise "Good news are bad news" die Auslandsberichterstattung zumeist auf spektakuläre Ereignisse wie Bürgerkriege, Kriege und Katastrophen konzentriert.


Im Unterschied zu heute stand Bosnien-Herzegowina deshalb zwischen 1992 und 1995 täglich im Zentrum der Berichterstattung. Damals wurde dort ein internationalisierter Bürgerkrieg geführt, in dessen Verlauf mindestens 150.000 Menschen getötet, mindestens ebenso viele verletzt und zahlreiche Menschen vergewaltigt oder gefoltert wurden. Ca. 2 Millionen Menschen, d.h. knapp die Hälfte der ursprünglich dort lebenden Bevölkerung, wurden aus ihren Wohngebieten vertrieben oder sind geflohen, ca. 20.000 Menschen sind nach Angaben des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz auch heute noch vermisst, darunter 90 Prozent bosnische Muslime (Bosniaken).1 Auch beträchtliche materielle und ideelle Werte wurden vernichtet: zahlreiche Häuser wurden geplündert und gesprengt, ganze Ortschaften, inklusive der Moscheen, Kirchen und Kulturdenkmäler sowie Schulen, Krankenhäuser und Transportwege wurden zerstört und großflächig Minenfelder angelegt, von denen auch heute noch eine Gefahr für die Bevölkerung ausgeht.

Dass Bosnien-Herzegowina seit dem am 21. November 1995 paraphierten Vertrag von Dayton, der den Bürgerkrieg formal beendete, weitgehend aus dem Blickfeld geraten ist, hat jedoch auch nachteilige Folgen. Zu leicht kann der trügerische Eindruck entstehen, dort seien Frieden und Wohlstand ausgebrochen und internationale Unterstützung nicht länger notwendig. Das ist jedoch - vermutlich noch lange - nicht der Fall. Bosnien-Herzegowina befindet sich in einer labilen Nachkriegsphase, in der es darauf ankommt, den erneuten Ausbruch eines Bürgerkrieges zu verhindern. Neben dem Transitionsprozess vom Krieg zum Frieden durchläuft es darüber hinaus zwei weitere Umwälzungen: von der Einparteienherrschaft zum demokratischen Mehrparteiensystem sowie von der Staatswirtschaft zur Privatwirtschaft. Bedingt durch die Kriegszerstörungen und durch die Wirtschaftskrise, unter der die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien bereits vor ihrem Zerfall litt, ist die Arbeitslosenquote und damit auch die Anzahl der in Armut lebenden Menschen enorm hoch. In Kombination mit dem Kriegstrauma führen diese mehrfachen parallel verlaufenden gravierenden Veränderungen und die soziale Verelendung zu einer Orientierungslosigkeit und Lethargie großer Teile der Bevölkerung. So sehen die meisten jungen, gut ausgebildeten Menschen ihre einzige Perspektive in der Emigration.

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Als Folge der durch den Bürgerkrieg bedingten Brutalisierung vieler Menschen greift gleichzeitig in allen Lebensbereichen eine Kultur der Gewalt um sich. So sind die Organisierte Kriminalität, die Gewaltkriminalität und die Korruption weit verbreitet. Auch der Handel mit geschmuggelten Waren sowie mit Frauen und Kindern zum Zweck der Zwangsprostitution haben erschreckende Ausmaße angenommen. Physische Gewalt innerhalb von Familien kommt ebenfalls häufig vor, wobei insbesondere vormalige Soldaten oder Kämpfer ihre Ehefrauen und Kinder misshandeln.

Heftige Auseinandersetzungen gibt es um die Rückgabe von Häusern und Wohnungen, die während des Bürgerkriegs von Binnenvertriebenen besetzt wurden oder auch von Menschen, die die Gelegenheit nutzten, um sich ungestraft eine schönere Unterkunft mit besserem Standard anzueignen. Oft können jedoch diejenigen, die momentan in Häusern oder Wohnungen leben, auf die sie keinen rechtmäßigen Anspruch haben, nicht in ihre eigenen Häuser oder Wohnungen zurück, weil diese entweder zerstört oder ihrerseits besetzt sind oder in einer Gegend liegen, in der eine jeweils andere ethnische oder religiöse Gruppe in der Mehrheit ist, bei der sie nicht willkommen wären. Es kann aber als Erfolg der im Land tätigen internationalen Organisationen und Nichtregierungsorganisationen verbucht werden, dass die Rückkehr in solche Gebiete, die "Minderheitenrückkehr", seit 1999 deutlich zugenommen hat.

Seit dem Vertrag von Dayton besteht der im Jahr 1992 als unabhängig proklamierte Staat Bosnien-Herzegowina mit der Hauptstadt Sarajevo aus zwei "Entitäten", aus der Föderation von bosnischen Muslimen und bosnischen Kroaten, deren Hauptstadt ebenfalls Sarajevo ist und die 51 Prozent des Gesamtstaates umfasst einerseits und andererseits aus der Serbischen Republik (RS), die 49 Prozent des Gesamtstaates bedeckt. Das politische System Bosnien-Herzegowinas ist auf die Teilung der Macht zwischen den drei größten ethnischen Gruppen ausgerichtet und besonders kompliziert: Dem Gesamtstaat steht ein dreiköpfiges Präsidium aus je einem bosnischen Muslim, bosnischen Serben und bosnischen Kroaten vor, wobei der Vorsitz alle acht Monate rotiert. Es gibt für den Gesamtstaat ein Abgeordnetenhaus mit 42 direkt gewählten Mitgliedern, von denen 28 aus der Föderation und 14 aus der RS stammen, sowie eine indirekt gewählte Kammer der Völker, in der fünf bosnische Muslime, fünf bosnische Kroaten und fünf bosnische Serben vertreten sind. Die RS hat einen direkt gewählten Präsidenten, ein Parlament namens Nationalversammlung und eine Kammer der Völker. Demgegenüber verfügt die Föderation über ein Parlament namens Abgeordnetenhaus und eine Kammer der Völker sowie über einen vom Abgeordnetenhaus der Föderation gewählten Präsidenten und einen Vizepräsidenten. Einer der beiden muss bosnischer Muslim und der andere bosnischer Kroate sein, und beide müssen sich jedes Jahr gegenseitig im Amt ablösen. Im Unterschied zur RS, die nicht in Kantone gegliedert ist, besteht die Föderation aus zehn Kantonen, deren Parlamente ebenfalls von der Bevölkerung gewählt werden. Die Ministerien in den Kantonen müssen ebenso wie das Präsidialamt der Föderation einen Proporz nach ethnischen bzw. religiösen Gesichtspunkten einhalten.

Über die geringsten Kompetenzen aller dieser Institutionen verfügt der Gesamtstaat, der lediglich u.a. für die Außenpolitik, den Außenhandel, die Geldpolitik, Migrationsfragen, die Internationale Strafverfolgung und die Staatsbürgerschaft zuständig ist. Alle anderen Bereiche - einschließlich der Verteidigung und der inneren Sicherheit - werden auf der Ebene der Entitäten geregelt. Besonders problematisch ist die Tatsache, dass die bosnischen Muslime, die bosnischen Serben und die bosnischen Kroaten nach wie vor jeweils über ihre eigenen Streitkräfte verfügen. Aus diesem Grund besteht die größte aktuelle Bedrohung für Soldaten dieses Staates durch andere Soldaten des selben Staates und damit durch ehemalige Kriegsgegner, die womöglich noch offene Rechnungen begleichen wollen. Ein Zeichen hierfür ist die Tatsache, dass das in Bosnien-Herzegowina stationierte internationale Militär SFOR immer wieder große illegale Waffenlager der drei vormaligen Kriegsgegner findet. Wehrdienstverweigerung ist zwar in beiden Entitäten unter der Berufung auf moralische oder religiöse Gründe möglich, Zivildienstplätze wurden jedoch bis Mitte 2002 nicht eingerichtet. Zudem ist das Recht auf Wehrdienstverweigerung den meisten jungen Männern, die gemustert werden, nicht bekannt. Der latenten Gefahr, dass es erneut zu einem Kriegsausbruch zwischen Angehörigen der drei größten ethnischen bzw. religiösen Gruppen kommen könnte und dass auch die Nachbarstaaten Serbien und Kroatien sich an einem solchen Krieg beteiligen könnten, wurde auch im Dayton-Vertrag nicht vorgebeugt. Obwohl der Vertrag einerseits das Ziel verfolgt, einen einheitlichen Staat Bosnien-Herzegowina einzuführen und zu erhalten, erlaubt er andererseits den beiden Entitäten Sonderbeziehungen mit Serbien bzw. Kroatien. Die bosnischen Muslime, die im Gegensatz zu den bosnischen Serben und den bosnischen Kroaten über kein "Mutterland" außerhalb des Staates Bosnien-Herzegowina verfügen, befürchten daher, dass Serben und Kroaten Bosnien-Herzegowina unter sich aufteilen könnten. Auch bosnische Kroaten, insbesondere die in der Herzegowina lebenden, fühlen sich durch den Dayton-Vertrag diskriminiert, da sie mit den bosnischen Muslimen, also ihren ehemaligen Bürgerkriegsgegnern eine gemeinsame und nicht wie die bosnischen Serben eine eigene Entität haben.

Bosnien-Herzegowina steht unter internationaler politischer Verwaltung durch das Office of the High Representative (OHR) der internationalen Gemeinschaft. Es hat die Aufgabe, die zivile Friedensordnung aufzubauen und die Umsetzung des Dayton-Vertrags durch die einheimischen Politiker/innen zu überprüfen. Das OHR darf Dekrete erlassen und einheimische Politiker/innen absetzen, wenn sie gegen den Dayton-Vertrag verstoßen. Auch eine internationale Polizeitruppe befindet sich im Land, deren Aufgabe darin besteht, multiethnische einheimische Polizeikräfte zu unterstützen. Für die Durchsetzung der militärischen Bestimmungen des Dayton-Vertrags ist die von der NATO geleitete internationale Truppe SFOR verantwortlich.

Die zahlreichen in Bosnien-Herzegowina tätigen staatlichen und nichtstaatlichen externen Akteure der zivilen Konfliktbearbeitung haben wesentlich dazu beigetragen, dass der Waffenstillstand von den Kriegsparteien weitestgehend eingehalten und damit die Bedingung für ein friedliches Zusammenleben erfüllt wurde. Gemessen an den Kriegsgräueln, der hohen Zahl der Opfer und dem beträchtlichen Ausmaß an Verwüstung ist dieser Erfolg nicht zu unterschätzen. Darüber hinaus wurden insbesondere in den letzten drei Jahren erhebliche Fortschritte beim Wiederaufbau zerstörter Infrastruktur sowie bei der Minderheitenrückkehr erzielt. Ein wichtiger Schritt zur Normalität besteht auch darin, dass die im Oktober 2002 abgehaltenen allgemeinen Wahlen in Bosnien-Herzegowina erstmals eigenständig durch die einheimischen Behörden durchgeführt werden konnten. Von hohem symbolischen Wert ist auch die Tatsache, dass seit 2002 erstmals seit Kriegsende einheimische Fußballteams trotz Protesten von Nationalisten wieder in einer gemeinsamen Liga spielen. Diese positiven Entwicklungen sollten jedoch nicht zu der Ansicht verleiten, dass der Friedensprozess in Bosnien-Herzegowina damit unwiderruflich sei und ausschließlich von den Einheimischen bewerkstelligt werden könnte. Vielmehr brauchen sie dafür auch weiterhin die Aufmerksamkeit und die Unterstützung von externen staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen.

1 Tjaden, Oliver / Rüb, Matthias: Flucht in die Zukunft. Bosnien nach dem Krieg. Herausgegeben von der Deutschen Stiftung für UNO-Flüchtlingshilfe e.V. Bern. Benteli Verlag. 2001. S. 7. Zum Kriegsverlauf in Bosnien-Herzegowina siehe Calic, Marie-Janine: Der Krieg in Bosnien-Hercegovina. Ursachen. Konfliktstrukturen. Internationale Lösungsversuche. Frankfurt am Main: Edition Suhrkamp. 1995, sowie das von der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST), der Hessischen Stiftung Friedensforschung (HSFK) und dem Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) gemeinsam herausgegebene Jahrbuch "Friedensgutachten" aus den Jahren 1992, 1993, 1994, 1995 und 1996, erschienen im Lit Verlag Münster. Zum Vertrag von Dayton siehe: Dokumentation. Dokumente zum Friedensabkommen von Dayton für Bosnien-Herzegowina. In: Internationale Politik Nr. 1 / 1996. Jg. 51. S. 71-98


Sabine Klotz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft Heidelberg und ehemaliges Mitglied der OSZE-Mission in Bosnien-Herzegowina.
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