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FF4/2003


vom:
Oktober 2003


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FF2003-4:

  Hintergrund

Zum 60. Jahrestag der Rettung von dänischen Juden vor der Vernichtung im Jahr 1943:

"Wir waren zuerst Dänen und dann Juden"

Renate Wanie

Interview mit Salle Fischermann, Zeitzeuge und Überlebender aus Dänemark

Von Mai bis Juli diesen Jahres zeigte die Werkstatt für Gewaltfreie Aktion, Baden in der Heideleberger Volkshochschule die Ausstellung "Ein Volk praktiziert zivilen Widerstand - Die Rettung der Juden in Dänemark 1943". Mehrere begleitende Veranstaltungen wie Vorträge zu couragiertem Handeln in Diktatur und Demokratie und zum unbewaffneten Widerstand im Nationalsozialismus in Europa gehörten dazu. Auch Möglichkeiten des Widerstands gegen jetzige Diktaturen wurden angesprochen. Mehrere Schulklassen und eine russisch-jüdische Immigranten-Gruppe wurden von dem Zeitzeugen Salle Fischermann durch die Ausstellung geführt. An zwei Tagen referierte er über die Rettungsaktion der dänischen Bevölkerung, seine Deportation nach Theresienstadt und kommentierte aus eigenen Erfahrungen die Video-Fragmente aus dem zynischen Propaganda-Film über Theresienstadt "Der Führer schenkt den Juden eine Stadt".



Mit dem dänischen Zeitzeugen und Überlebenden Salle Fischermann sprach Renate Wanie von der Werkstatt für Gewaltfreie Aktion, Baden.

Renate Wanie: Die Ausstellung in Heidelberg berichtete über die großartige Rettungsaktion von 7000 Juden in Dänemark in der Nacht zum 2. Oktober 1943 während der deutschen Besatzung. Wie haben Sie diese Nacht erlebt?

Salle Fischermann: Es war zwei Uhr nachts, als es plötzlich heftig an der Wohnungstür klopfte. Wir hatten bereits davon gehört, dass die Deutschen Juden abholen. Zunächst dachten wir, sie würden nur meinen Vater und meinen älteren Bruder holen. So haben wir ihnen ganz schnell geholfen über den Balkon zu entkommen. Als wir öffneten, befahlen deutsche Soldaten meiner Mutter, meiner Schwester und mir uns anzuziehen. Dann schleppten sie uns auf einen Lastwagen und anschließend auf ein Schiff. Wohin es ging, wusste keiner. Schließlich kamen wir nach 1 1/2 Tagen im Konzentrationslager (KZ) Theresienstadt an.

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FF4/2003
Renate Wani: Sie gehörten zu den 480 jüdischen Dänen, die tragischerweise in das KZ Theresienstadt deportiert wurden. Wie ist es Ihnen dort ergangen?

Salle Fischermann: Theresienstadt war eine Garnisonsstadt in der Nähe von Prag. Normalerweise lebten dort zwischen drei- und viertausend Menschen. Man kann sich vorstellen, wie furchtbar es gewesen ist, als plötzlich über 50 000 Menschen dort den Alltag fristen mussten. Zunächst richteten die Nazis ein KZ für politische Gefangene ein, dann wurde Theresienstadt ein Durchgangslager für mitteleuropäische Juden bei der Deportation nach Auschwitz. In der Zeit von 1941 - 45 sind in Theresienstadt etwa 35.000 Menschen unter den Lagerverhältnissen gestorben. 85.000 Menschen wurden in Vernichtungslager wie Auschwitz deportiert. Die Situation war schrecklich. Alle Lagerinsassen wurden zum Arbeiten abkommandiert, zu essen gab es Kartoffelschalensuppe. Man konnte jeden Tag die Menschen sterben sehen. Ich war dort 18 Monate zusammen mit meiner Mutter und meiner Schwester. Das Schwedische Rote Kreuz hat uns noch vor Kriegsende rausgeholt. Im Juni 1945 kam ich nach Hause und konnte neu mit dem Leben anfangen.

Renate Wani: Wie war die Stimmung in Dänemark vor der Deportation? Und wie verhielt sich die dänische Bevölkerung bis dahin den bedrohten Minderheiten gegenüber?

Salle Fischermann: Von 1940 bis 1941 schaffte es die dänische Regierung, wenigstens einen Teil der Souveränität des Landes zu bewahren. Damit die Wirtschaft weiter funktionierte und der Energiebedarf gedeckt werden konnte, gab es jedoch punktuell eine Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht. Eine Widerstandsbewegung kam erst nach dem Angriff auf die Sowjetunion 1941 in Gang. Im August 1943 nach "Stalingrad" haben dann breite Volksproteste die bisherige Zusammenarbeit zwischen Besatzungsmacht und dem dänischen politischen System zu Fall gebracht. Danach griffen die Nazis zu einer so genannten Politik der harten Hand.

Das Wichtigste aber ist: Für die Bevölkerung waren wir zuerst Dänen und dann erst Juden. Auch der dänische Außenminister äußerte sich gegenüber dem Nazi Hermann Göring, dass es keine Judenfrage gebe. So haben die Dänen es bis 1943 geschafft, sich schützend vor die jüdische Minderheit zu stellen. Dann erzwangen die deutschen Besatzer die Deportation.

Renate Wani: Wie sah der Widerstand gegen die Deportation aus?

Salle Fischermann: Spontan ergriffen viele, viele Dänen die Initiative - alle halfen mit, wo sie nur konnten, Verstecke oder Fluchtwege zu organisieren: in Krankenwagen, ja sogar in Müllwagen, alles, was fahren konnte. Auch Krankenhäuser und Kirchen waren wichtige Verstecke. Die Dänen haben sogar Geld gesammelt, um die Fischer für die gefährliche Fluchtüberfahrt zu bezahlen. Sie hatten ja während dieser Zeit keine Einnahmen. Selbst die dann Deportierten vergaßen sie nicht und sammelten Geld für Hilfspakete, die sie in die Lager schickten. Ich möchte behaupten, dass wir nur dadurch überlebt haben.

Renate Wani: Gab diese begrenzte Öffentlichkeit den dänischen Juden einen gewissen Schutz im Lager oder hatten diese Aktionen eher negative Folgen?

Salle Fischermann: Nein, die dänischen Insassen erhielten durch diese kontinuierliche Unterstützung von außen ein geringes "Privileg" im Lagersystem. Am Ende kamen wir auch eher frei und wurden mit Bussen vom Schwedischen Roten Kreuz noch vor Kriegsende abtransportiert. Ich erinnere mich nach dieser schrecklichen Odyssee noch gut an die Rückkehr einiger jüdischer Familien in ihre Wohnungen. Da standen teilweise die Tassen vom Frühstück noch auf dem Tisch - die Dänen und Däninnen hatten die Wohnung unangetastet gelassen.

Renate Wani: In der NS-Ideologie galten die Dänen als "arisches Volk", das dänische Territorium sollte ein Teil des deutschen Reiches werden. Gab es unter der dänischen Bevölkerung auch Kollaborateure, die mit den Nazis zusammenarbeiteten?

Salle Fischermann: Der SS-Mann, der uns nachts abholte war ein Däne. Allerdings fiel nur eine Promille auf die Propaganda der Nazis herein. Das gibt es in jedem Land.

Renate Wani: Wie konnte es dazu kommen, dass sich die dänische Bevölkerung bis 1943 so lange der NS-Besatzung widersetzt hat? In welcher politischen Tradition ist Dänemark verwurzelt?

Salle Fischermann: Zum einen war die Besatzungspolitik der Nazis bis 1943 relativ moderat. Zum anderen ist Dänemark seit Ende des 19. Jahrhunderts außenpolitisch von friedlicher Konfliktaustragung geprägt. Im Ersten Weltkrieg verhielt das Land sich neutral und unterstützte später den Völkerbund, das Militär war auf ein Minimum reduziert.

Friedfertigkeit und demokratische Tradition prägten auch die innenpolitische Situation. Die verteidigungspolitische Linie der dänischen Regierung im Jahr 1940 - das war das Jahr des Überfalls - hatte der damalige Außenminister Munch so formuliert: "Dänemark kann nur mit diplomatischen, nicht mit militärischen Mitteln verteidigt werden."

Renate Wani: Welche Auswirkugen zeigen die beispielgebenden Volksproteste gegen die Nazis heute in der dänischen Gesellschaft und wie wird über sie gesprochen? Sind sie in den Schulbüchern genannt? Möglich wäre ja auch eine Heldenverehrung der Menschen, die im dänischen Widerstand waren.

Salle Fischermann: Heute im Jahr 2003 bekommen die Schulkinder die Aufgabe, über die Juden in Dänemark zu schreiben. Oder in den Bibliotheken finden wir viel Literatur über die großen Volksproteste in unserem Land. Für die Saboteure, die im Krieg hingerichtet wurden, ist ein spezieller Friedhof eingerichtet worden. Der 4. und 5. Mai ist zum jährlichen Gedenktag der Befreiung erklärt worden.

Renate Wani: Und wie offen wird heute in der dänischen Gesellschaft über die Kollaborateure von damals gesprochen?

Salle Fischermann: Nach der Befreiung wurden einige Kollaborateure hingerichtet, andere wurden später ins Gefängnis gebracht. Die dänische Regierung ist in den ersten Jahren relativ deutschfreundlich gewesen. Bisher erhielt die Bevölkerung darüber allerdings keine Auskunft, die entsprechenden Dokumente werden nicht heraus gegeben. Obwohl dies öffentlich immer wieder gefordert wird.

Renate Wani: Der Historiker Jacques Semelin hat in seiner Studie über den zivilen Widerstand in Europa während des Nationalsozialismus heraus gearbeitet, dass der ausschlaggebende Faktor für die Mobilisierung der Bevölkerung in dem Grad des sozialen Zusammenhalts einer Bevölkerung zu suchen ist. Mit der Solidarität mit der sozialen Minderheit der Juden und Jüdinnen wie auch bei Übereinstimmung mit ihren politischen Institutionen hat diese These ja zugetroffen und das, obwohl die Bevölkerung nicht auf die deutsche Besatzung vorbereitet gewesen ist.

Wie könnte eine Gesellschaft einen solch breiten Widerstand wie in Dänemark bereits heute vorbereiten? Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach die Erziehung? Welche Rolle die demokratische Entwicklung in einem Land? Was ist wichtig dafür?


Salle Fischermann: Europa muss sich weiter vereinigen und auch den Osten mit einbeziehen, um Kriege zu verhindern - das ist die Hauptsache und ein Weg zum Frieden.

Dann müssen die Kinder lernen, Minderheiten zu respektieren und menschenrechtliche Regeln einzuhalten. Werte wie Zivilcourage und Toleranz müssen in der Gesellschaft vermittelt werden. Das beginnt schon im alltäglichen Bereich, dort, wo Menschen diskriminiert und verächtlich gemacht werden.

Gut ist es auch, verschiedenen Sprachen zu lernen und sich weltweit zu verständigen. Durch die Computervernetzung ist unsere Welt kleiner geworden.

Renate Wani: Bei den Veranstaltungen wurden Sie auch gefragt, wie das war, als Sie das erste Mal nach Deutschland kamen, haben Sie da nicht großen Hass gefühlt?

Salle Fischermann: Viele meiner Leidensgefährten kommen nicht mehr nach Deutschland. Doch wenn ich anfange zu hassen, dann komme ich nicht weiter in meinem Leben.

Renate Wani: Woher haben Sie die Kraft genommen, immer wieder so viele Vorträge zu halten?

Salle Fischermann: Ich habe über hundert Vorträge gehalten und Filme gedreht. Erst nach etwa dreißig Jahren haben wir aus Theresienstadt uns zusammengetan, um über alles zu reden. Ich muss es auch deshalb machen, damit meine Kinder dies erfahren. Und ich bin ein Optimist - trotz allem.

Renate Wani: Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch, Herr Fischermann.

Infos zur Ausleihe der 36 Ausstellungstafeln im Heidelberger Büro der Werkstatt, T. 06221-161978.



E-Mail:   buero.heidelberg@wfga.de
Internet: http://www.wfga.de
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