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FF2004-1


vom:
März 2004


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FF2004-1:

  Krisen und Kriege

Zivile Konfliktbearbeitung in irakisch Kurdistan.
Perspektive für den Wiederaufbau im Irak?


Roland Wünsch

Als Folge der Niederlage im 2. Golfkrieg um Kuwait, des kurdischen Volksaufstandes und der Einrichtung der Schutzzone im Nord-Irak (1) wurden Ende Oktober 1991 alle irakischen Streitkräfte aus den drei kurdischen Distrikten Arbil, Suleymaniya und Dohuk abgezogen, eine Wirtschaftsblockade durch den Irak verhängt und sämtliche Leistungen in der Region eingestellt. Durch das Embargo wurde die Region für den Winter fast gänzlich von der Brennstoff- und Stromversorgung abgeschnitten, die staatliche Lebensversorgung brach weitgehend zusammen.


Historischer Hintergrund

Am 19. Mai 1992 wurden in Kurdistan-Irak - mehr oder minder - demokratische Wahlen abgehalten, aus denen die Demokratische Partei Kurdistan (KDP) und die Patriotische Union Kurdistan (PUK) als Sieger hervorgingen. Seit Juni 1992 stellen sie in einer Koalition das "Kurdistan Regional Government" für das unter ihrer Kontrolle stehende Gebiet. Es stimmte bis zum aktuellen Irak-Krieg weitgehend mit der 1974 anerkannten "Autonomen Region Irakisch-Kurdistan" vom Irak überein. Nach heftigen innerkurdischen Auseinandersetzungen (1994-1996) wurde es in zwei Hälften - unter Kontrolle der KDP bzw. PUK - mit je eigenständiger Verwaltung aufgeteilt. Seitdem befindet sich der Westen des Landes mit der Hauptstadt Arbil unter der Kontrolle der KDP, der Osten mit Sulemani unter der der PUK.

Kurdistan-Irak und die kurdische Regionalregierung

Faktisch genoss das gesamte kurdisch kontrollierte Gebiet im Nordirak mit ca. 40.000 qkm eine partielle Eigenstaatlichkeit, die von den UN mit 13% der Einnahmen des Food-for-Oil-Programms unterstützt wurde. Die Haupteinnahmequelle bildeten legale und illegale Ölexporte in die Türkei und Schmuggel mit den Nachbarländern.

Wiederaufbau bis zum 3. Golfkrieg

Beim Abzug der irakischen Truppen waren als Folge des ersten Golfkrieges (Irak-Iran), der Al-Anfal-Kampagne (1987/88, rd. 150.000 Tote (2)) und des Aufstandes von 1991 (rd.1,5 Millionen Flüchtlinge) etwa 90% der Dörfer und 20 Städte zerstört. Diese Schäden konnten auch mit deutscher Hilfe (etwa durch das Land Niedersachsen) bis zum Beginn des 3. Golfkrieges 2003 weitgehend behoben werden: 90% dieser Dörfer und Städte wurden wieder aufgebaut.

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Zusätzlich wurden - unterstützt durch die UN und ihre Unterorganisationen - zahlreiche Entwicklungsprojekte in den Bereichen Erziehung, Gesundheit, Medien und Landwirtschaft initiiert. Bereits Anfang 2000 konnten nahezu alle Kinder eingeschult werden. Die Zahl der Schulen stieg von 804 (1991) auf 3.627 (2003), die der Ärzte von 549 auf 1.870, die der Zeitungen von 1 (1991) auf 138 allein in der Region Suleymaniya und weiteren 150 in der Region Arbil. 12 Fernseh- und Radiostationen sowie 2 Satelliten-TVs ergänzen das Angebot.

In Kurdistan gibt es eine vielfältige Parteien- und Presselandschaft, die nach westlichen Maßstäben von freier politischer Betätigung und Pressefreiheit aber noch weit entfernt ist: Die Zulassung von Parteien ist nach wie vor in erster Linie von deren Verhältnis zur jeweiligen Regierungspartei abhängig. Die meisten Medien fungieren als Haus- und Hofpostille der einen oder anderen Partei. Ausnahmen wie die Wochenzeitung "Hawlati" kämpfen ums Überleben und werden wegen unliebsamer Berichterstattung immer wieder mit Prozessen überzogen oder vom Zugang zu Informationen abgeschnitten. (3)

Die Situation der ethnischen und religiösen Minderheiten hat sich verbessert. 14 assyrisch-chaldäische und 9 turkmenische Schulen wurden eingerichtet, beide Minderheiten, die rd. 400.000 Chaldäer und etwa 300.000 Turkmenen, verfügen über eigene Rundfunk- und Fernsehsender.

Irak-Krieg und Perspektiven

Die 3,5 Mio. Einwohner von Kurdistan-Irak sowie die große Exil-Gemeinde der Kurden standen daher dem 3. Irak-Krieg mit zwiespältigen Erwartungen gegenüber: Es bestand die Chance zur Beseitigung des Regimes der Baath-Partei, das für 200.000-500.000 Tote, ethnische Säuberungen und gezielte Vertreibung von Kurden (4) verantwortlich gemacht werden muss, zur Absicherung der erreichten Autonomie und die Hoffnung auf einen Kurden-Staat. Andererseits bedrohten Kampfhandlungen die erreichte fragile Stabilität. Mit der Türkei droht eine regionale Großmacht mit einer Intervention im Nord-Irak für den Fall, dass Kurden die Erdölgebiete um Kirkuk und Mossul kontrollieren sollten, oder gar ein kurdischer Staat entstünde.

Dies spiegelt sich auch in dem vom kurdischen Parlament im Oktober 2002 verabschiedeten Verfassungsentwurf (5). Darin wurde die Bildung einer republikanischen, demokratischen und parlamentarischen Föderalen Republik Irak, bestehend aus einem arabischen und einem kurdischen Bundesstaat mit weitgehenden Autonomierechten (u.a. eigene Truppen, Finanzautonomie, Veto-Rechte) verlangt. Zugleich wurde die Gründung eines Bundeslandes Kurdistan als Teil eines künftigen föderalen und demokratischen Irak beschlossen.

Die irakische (Exil-)Opposition übernahm auf ihren Konferenzen in London vom 13.-16. November 2002 und Salahaddin (26. Februar bis 1. März 2003) Kernelemente dieser Beschlüsse: demokratisch-parlamentarisches System und föderale Struktur des künftigen Irak, weitgehende Autonomie der Regionen. Die irakische Exil-Opposition repräsentierte allerdings keineswegs die realen Machtverhältnisse im Irak. Arabische Vertreter im Regierungsrat sind bereits von den Beschlüssen abgerückt und haben Vorschläge für eine neue irakische Verfassung unterbreitet, die eine Dominanz der arabischen Mehrheit vorsehen.

Erhebliche Differenzen bestehen z. B. über die Rolle des Zentralstaates, eine laizistische oder religiös begründete Staatsform sowie die konkrete Machtverteilung im Irak zwischen den ethnischen, religiösen und politischen Gruppen. Die gegenwärtige Flut von Terroranschlägen und die nach wie vor desolate Sicherheitslage im restlichen Irak sind ebenso auf diese Auseinandersetzungen wie auch auf noch aktive Gruppen des Geheimdienstes Mukhabarat, der Fedajin und der Republikanischen Garden zurückzuführen. Hinzu kommen "importierte" Konflikte, wie sie sich u.a. in Anschlägen der Al Qaeda nahestehenden, aus Kurdistan-Irak operierenden Extremistengruppe Ansar Al Islam äußern.

Die USA haben bisher jedenfalls keine klare Position zur zukünftigen Entwicklung im Irak bezogen. Der Zeitplan des irakischen Regierungsrats sieht vor, bis Ende Februar 2004 ein vorläufiges Grundgesetz für den Irak zu verfassen. Dann soll bis Ende Mai eine "repräsentative" provisorische Nationalversammlung "ausgewählt" werden, die bis Ende Juni 2004 eine Übergangsregierung ernennen würde. Zu diesem Zeitpunkt sollen sich sowohl der Regierungsrat als auch die Koalitionsbehörde Coalition Provisional Authority (CPA) auflösen.

Die künftige Entwicklung des Irak wird nicht zuletzt davon abhängen, ob es selbst in dieser Situation gelingt, positive Signale für eine zivilgesellschaftliche Entwicklung zu setzen. Aus sich heraus scheint das Land dazu zur Zeit nicht in der Lage zu sein, im Gegenteil: Es deutet sich eine zunehmende Zuspitzung und Radikalisierung der Konflikte an, die dann unter dem Mantel des "Kampfes gegen die Alliierten" ausgetragen werden. Fatal ist in diesem Zusammenhang die Solidarisierung einzelner bundesdeutscher "antiimperialistischer" Gruppen mit dem irakischen "Widerstand gegen die US-Besatzer": Sie geht von falschen Voraussetzungen aus und gelangt zu aberwitzigen Trugschlüssen.

Unabhängig von der politischen Auseinandersetzung um die Legitimität des Irak-Krieges, Rolle, Befugnisse und Aufgaben der UN, US-amerikanische "Entwaffnungskriege" und ähnliche "große" Themen, ist Hilfe und Unterstützung für die Stabilisierung und eine eigenständige Entwicklung des Irak erforderlich. Eine Strategie der Nichteinmischung trägt nur dazu bei, dass der Konflikteskalation weiter Vorschub geleistet und die Transformation des Irak sowie der Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen weiter verzögert wird. Leidtragende einer solchen Strategie wäre erneut die irakische Bevölkerung.

Angesichts der desolaten Sicherheitslage ist eine solche Forderung nach Einmischung und Förderung zivilgesellschaftlicher und konfliktbearbeitender Projekte natürlich hochproblematisch. Zur Zeit erscheinen höchstens Modellprojekte in sicheren Regionen realisierbar, die allerdings landesweite Signalwirkung entfalten könnten. Es müsste darum gehen, modellhaft die Vorteile der Zusammenarbeit zwischen ethnischen, religiösen und politischen Gruppen aufzuzeigen, angepasste Deeskalationsstrategien und win-win-Alternativen zu einer weiteren Konflikteskalation zu entwickeln.

Modell Kurdistan-Irak ?

In Kurdistan-Irak bietet sich - wenn auch immer noch unter schwierigsten Bedingungen - die Chance, derartige Modelle für eine demokratische und wirtschaftlich stabile Entwicklung in der Region zu realisieren: Die Sicherheitslage ist wesentlich besser als im restlichen Irak, politische und Verwaltungsstrukturen bestehen, Bereitschaft zur und Erfahrung in der internationalen Zusammenarbeit sind vorhanden.

Noch basieren die wirtschaftlichen Strukturen stark auf dem "Food-for-Oil"-Programm der UN und auf Einnahmen aus Öllieferungen in die Türkei. Diese Strukturen haben sich bereits drastisch verändert. Das Kurdistan Regional Government Erbil berichtet dazu: "For a short period of time, the KRG was able to generate revenue through the transit of diesel to Turkey; however, this was stopped more than a year ago. In addition, the government collected customs for cross border trade and transit, which reduced significantly during the eight months prior to the war and came to a complete halt when the conflict started. None of these sources of income have revived. [...] Currently, the KRG is without any source of revenue to even pay the salaries of its employees."

Wenn keine Anpassungshilfen geleistet werden, ist abzusehen, dass die bisherige positive Entwicklung in Kurdistan-Irak zusammenbricht. Zur Unterstützung von Kurdistan-Irak gibt es auch unterhalb der Ebene der UN und außerhalb einer Beteiligung an der US-Verwaltung des Irak zahlreiche Möglichkeiten:

 Projekte der Zivilen Konfliktbearbeitung und zur Aussöhnung zwischen den Bevölkerungsgruppen, z. B. bei der Bewältigung der Vertreibung von Kurden aus der Region um Kirkuk, durch Dorf- und kommunale Gemeinschaftsprojekte, lokale Frauenprojekte, interethnische Jugendarbeit usw.

 Projekte zur Demokratisierung von Staat und Gesellschaft, z. B. durch Schulung und Ausbildung von Verwaltungsfachkräften

 Projekte zur Belebung der lokalen und regionalen Wirtschaftsstrukturen, z. B. durch Beratungs- und Kleinkredit-Programme

 Umweltprojekte, z. B. bei der Beseitigung der Kontamination durch chemische Kampfstoffe (wie in Halabja) und der dringend erforderlichen Einführung von Umweltschutzstandards bei Ölförderung und -verarbeitung.

 Maßnahmen zur Verbesserung des Aus-, Fort- und Weiterbildungssystems, der Schul- und Hochschulbildung, z. B. durch Kooperationsprojekte mit den Universitäten in Kurdistan-Irak, Stipendien- und Austauschprogramme

 Projekte zur Minen- und Blindgänger-Räumung sowie zur Demilitarisierung, wie sie in Ex-Jugoslawien z. T. erfolgreich durchgeführt wurden.

Nur die wenigsten dieser Projekte sind groß und teuer. In vielen Fällen können mit entsprechender politischer Unterstützung NGOs und Privatinitiativen ermuntert werden: durch Visa, diplomatische Unterstützung, Beratung und gezielte Projektförderung.

Wesentlich für derartige Projekte müsste ihre konsequente Ausrichtung als offene Modellprojekte unter Beteiligung aller ethnischen, religiösen und politischen Gruppen und die Kooperation mit Partnern im gesamten Irak sein. Nur durch eine derartige Orientierung kann vermieden werden, dass einzelne Gruppen bevorzugt werden und somit die vorhandenen Konflikte zusätzlich verschärft werden.

Roland Wünsch ist Politikwissenschaftler aus Bonn. Er befasst sich seit längerem mit Projekten der zivilen Konfliktbearbeitung. In den letzten zwei Jahren war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei NAVEND - Zentrum für kurdische Studien e. V. tätig.

Anmerkungen

1auf der Basis der UN-Resolutionen 687 und 688

2
David McDowall (1996): A modern history of the kurds

3
Inga Rogg: Die irakischen Kurden auf der Suche nach einer Zukunft im Irak In: NAVEND e. V. (Hrsg.): Kurden heute. Hintergründe - Aspekte - Entwicklungen. Bonn 2003, S. 18

4vgl. Awat Asadi: Arabisierungspolitik in Kirkuk. Hintergründe und Methoden einer zu Ende gegangenen Unterdrückungspolitik. In: NAVEND e. V. (Hrsg.): Kurden heute. S. 41-53

5dt. Übersetzung unter www.navend.de/html/aktuell/irak-krise/Verfassungsentwurf.pdf



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