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 Hintergrund

Die atomare Welt

Die Gefahr eines Atomkrieges wächst

Xanthe Hall

Im Besitz der acht Atomwaffenstaaten (USA, Russland, China, Großbritannien, Frankreich, Israel, Indien und Pakistan) befinden sich 30.000 Atomwaffen. Das ist zwar nur die Hälfte der Atomwaffenzahl auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, bedeutet aber immer noch einen Overkill für die Welt. 96% der Atomwaffen gehören den USA oder Russland. Ungefähr 17.500 sind sofort einsatzfähig. Davon sind ca. 4.000 in ständiger Höchstalarmbereitschaft und können ihr Ziel in Minuten erreichen. Alle anderen befinden sich in Reserve, im Lager oder sind für die Abrüstung vorgesehen.




USA

Offiziell anerkannter Atomwaffenstaat und Mitglied des Atomwaffensperrvertrags seit dem Jahr 1970, in dem sich auch die USA verpflichteten, "in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung" (Artikel VI).

Als erster Staat, der 1945 die Atombombe entwickelte, trieben die USA seit Beginn des atomaren Zeitalters das weltweite Wettrüsten an. Die USA besitzen noch 10.650 Atomwaffen, wovon sich 3.000 in "aktiver" Reserve befinden. Seit 1945 produzierten sie etwa 70.000 Atomwaffen; darunter 70 verschiedene Typen, von der kleinen Atommine bis zu riesigen Wasserstoffbomben mit Megatonnensprengkraft. Zur Zeit überholen sie ihr komplettes atomares Arsenal, um für die neue Bedrohungslage gewappnet zu sein. Dies bedeutet eine Modernisierung aller Atomwaffen, die in ihrem Besitz sind, sowie die Entwicklung neuer Atomwaffen, wie z.B. die sogenannten Mininukes und Bunker Busters (mehr Informationen dazu im IPPNW-Aktuell 10/03).

Die erklärte Strategie der USA hat sich geändert: Atomwaffen können nun auch gegen Staaten eingesetzt werden, die keine Atomwaffen besitzen, oder als "präventive" Waffe beim Verdacht eines geplanten Angriffes mit Massenvernichtungswaffen. Vor und während des Irakkrieges 2003 drohten die USA, Atomwaffen einzusetzen, falls Irak die USA mit Massenvernichtungswaffen angreifen würden. Seit langem blocken die USA die Realisierung des Atomteststopps: Sie ratifizieren den Vertragnicht. Gleichzeitig erwägen sie die Möglichkeit, das atomare Testen wieder aufzunehmen, obwohl sie aufgrund ihrer über 1.000 Atomtests seit 1945 ausreichend Daten besitzen, um ihr Atomtestprogramm ohne volle Atomexplosionen fortzuführen.

US-Atomwaffen in Europa (NATO)

Die USA haben ausreichend Stationierungsplätze in europäischen Depots für bis zu 348 taktische Atomwaffen vom Typ B-61. Experten gehen davon aus, dass etwa 150-180 Atomwaffen tatsächlich stationiert sind. Diese Atomwaffen gehören unter US-Kommando, dennoch können sie im Ernstfall von europäischen Piloten und Flugzeugen eingesetzt werden. Dies geschähe im Rahmen der "nuklearen Teilhabe", über die alle NATO-Mitglieder in die Planung eines Atomkriegs eingebunden sind. US-Atomwaffen sind in den folgenden Staaten stationiert: Belgien (bis zu 22 in Kleine Brogel), Deutschland (bis zu 22 in Büchel, bis zu 108 in Ramstein), Großbritannien (bis zu 66 in Lakenheath), Niederlande (bis zu 22in Volkel), Italien (bis zu 22 in Ghedi Torre, und bis zu 36 in Aviano), Türkei (bis zu 50 in Incirlik). Zusätzlich befinden sich wieder aktivierbare Atomwaffendepots in Deutschland (Memmingen und Nörvenich), in Griechenland (Araxos) und in der Türkei (Murted und Balikesir), wo momentan jedoch keine Atomwaffen stationiert sind .

Großbritannien

Die Briten sind seit 1968 Unterzeichnerstaat des Atomwaffensperrvertrages und damit als offizieller Atomwaffenstaat anerkannt, was ihre Macht in der Weltordnung Seite an Seite mit den USA sichert. 185 Atomsprengköpfe befinden sich im britischen Arsenal.

Bis auf 25 Sprengköpfe, die in Reserve gehalten werden, befinden sich alle strategischen Atomwaffen auf Trident U-Booten. Nur eins von den insgesamt vier U-Booten befindet sich ständig auf dem Meer, bestückt mit bis zu 48 Atomwaffen. Die Trident-Raketen an Bord tragen Mehrfachsprengköpfe, deren Atomwaffen gegen verschiedene Ziele im selben Zielgebiet eingesetzt werden können. Jeder Sprengkopf hat eine Sprengkraft von 100 Kilotonnen (das entspricht der 960-fachen Sprengkraft von Hiroshima mit ca. 200.000 Toten). Manche Trident-Raketen haben aber auch nur einen Sprengkopf für die Bekämpfung einzelner Ziele, z.B. in einem regionalen Konflikt. Sie haben sogenannte sub-strategische Aufgaben.

Die gute Nachricht ist, dass diese Atomwaffen nicht mehr in Sekunden abgefeuert werden können: Der Abschuss dauert inzwischen einige Tage. Zudem können in Großbritannien bis 66 US-Atomwaffen besonders gesichert gelagert werden (Lakenheath). Großbritannien ist dem Atomteststoppvertrag beigetreten.

Frankreich

Zur "Force de Frappe" der Franzosen gehören Atomwaffen auf Flugzeugenund U-Booten, insgesamt 350 Sprengköpfe. Sie kosten 2,3 Milliarden US $ pro Jahr. Bis auf 60 Luft-Boden-Raketen für Flugzeuge handelt es sich um U-Boot-gestützte Raketen mit einer Reichweite von 6.000 km und einer Sprengkraft von 100-150 Kilotonnen.

Auch Frankreich nutzt einzeln zielbare Mehrfachsprengköpfe. Frankreich ist der einzige Atomwaffenstaat, der sein Atomtestgelände auf Moruroa im Südpazifik nach weltweiten Protesten geschlossen hat. Der Atomteststoppvertrag und Raratonga-Vertrag (siehe "Atomwaffenfreie Zone") sichern den französischen Atomteststopp, da es Vertragspartei ist und das Verbot durch Verifikationsmaßnahmen unterstützt. Zudem erklärte Frankreich 1992 seine Absicht, kein Plutonium mehr für Atomwaffen herzustellen und schloss seine Plutoniumfabrik in Marcoule 1997. Dennoch wird in La Hagues Wiederaufarbeitungsanlage weiterhin Plutonium für zivile Zwecke produziert. Laut Zeitungsberichten überarbeitet Frankreich seine Atomwaffendoktrin, wird das Arsenal auf sogenannte "Schurkenstaaten" ausrichten und plant, Miniatomwaffen zu entwickeln.

Südafrika

Südafrika zerstörte seine sechs Atomwaffen kurz vor dem Ende der Apartheid, um dem Atomwaffensperrvertrag 1991 beizutreten und sich damit wieder in die internationale Gesellschaft eingliedern zu können. Bis 1994 wurden alle südafrikanischen Atomwaffenanlagen komplett abgebaut.

Glossar

Atomwaffensperrvertrag (NPT = Non-Proliferation Treaty) 1970

Damit wurde festgeschrieben: Kein anderes Land außer China, Frankreich, Großbritannien, der UdSSR (später Russland) und den USA darf legal Atomwaffen entwickeln oder erwerben. Die inzwischen mehr als 180 Vertragsstaaten bekommen im Gegenzug atomareMaterialien, wissenschaftliches Know-How und Technologien zur Nutzung der Atomenergie für zivile Zwecke zur Verfügung gestellt. Der Vertrag enthält auch die Verpflichtung, alle Atomwaffen abzurüsten (Artikel VI). 1995 wurde der Vertrag aufunbefristete Zeit verlängert.

Atomteststopp-Vertrag (CTBT = Comprehensive Test Ban Treaty), 1996 abgeschlossen, noch nicht in Kraft getreten

Die Verhandlungen über den Vertrag über das Verbot von Atomtests wurde 1996 abgeschlossen und umfasst bisher 170 Unterzeichnerstaaten (zuletzt Libyen). Allerdings zweifelt man, ob der Vertrag jemals in Kraft treten wird, da alle 44 Staaten, die Atomenergie nutzen - also auch Atomwaffen herstellen könnten - beitreten müssen, um den Vertrag gültig werden zu lassen. Nichtunterzeichner: Indien, Pakistan und Nordkorea. Noch nicht ratifiziert: USA, China und Israel.

Russland

Die Sowjetunion, der Vorgänger von Russland, wurde 1949 Atomwaffenmacht und führte über 700 Atomtests durch. Man schätzt, dass Russland bzw. die Sowjetunion seit 1949 etwa 55.000 Atomwaffen produzierte. Die Sowjetunion trat dem Atomwaffensperrvertrag 1970 bei.

Das russische Arsenal beinhaltet 8.200 Atomsprengköpfe, wovon 5.000 strategische Atomwaffen sind. In Lagern befinden sich etwa 4.600 Atomwaffen, zudem sind 5.000 für die Abrüstung im Rahmen der bilateralen Verträge START I und II vorgesehen. Das Moskauer Abkommen aus dem Jahr 2002 zwischen USA und Russland sieht vor, dass beide Staaten ihr strategisches Arsenal auf 1.700 bis 2.200 aktive Atomwaffen bis 2012 reduzieren, obwohl es für Russland wirtschaftlich schwierig wird, auch nur 1.000 langfristig zu behalten. Das Abkommen enthält jedoch keine Verifikationsmaßnahmen und hebt den START-II-Vertrag auf. Beide Parteien dürfen mit nur dreimonatiger Kündigungsfrist ohne Begründung aus dem Abkommen austreten. Wahrscheinlich wird es nicht zu weiteren Verhandlungen über taktische Atomwaffen kommen, die bitter nötig wären.

Russland hat im Oktober 2003 eine Modernisierung der Atomstreitmacht angekündigt. Um mit den USA mithalten zu können, drohte das russische Verteidigungsministerium, eine neue Generation strategischer Atomwaffenzu entwickeln. (Der Beschluss ist noch nicht gefallen). Die russische Föderation ist Mitglied des Atomteststoppvertrages.

Weißrussland, Ukraine, Kasachstan

Diese ehemaligen sowjetischen Republiken sind nach der Auflösung der Sowjetunion atomwaffenfrei geworden. Alle Atomwaffen wurden bis 1996 nach Russland abgezogen, und die drei Staaten haben sowohl den Atomwaffensperrvertrag als auch den Atomteststoppvertrag unterzeichnet und ratifiziert.

China

China ist erst seit 1992Mitglied des Atomwaffensperrvertrags. Es forderte zwar stets einen Vertrag zur Abschaffung aller Atomwaffen und unterhielt nur eine kleine atomare Abschreckungsmacht, rüstete aber auch nicht ab, sondern modernisiert jetzt seine Streitkräfte, vor allem die Trägersysteme. Im Arsenal befinden sind rund 400 Atomwaffen meist kürzerer Reichweite, aber auch taktische Atomwaffen, stationiert auf U-Booten, Flugzeugen und landgestützten ballistischen Raketen. Nur maximal 20 chinesische Interkontinentalraketen können die USA erreichen. Man vermutet, dass China in Zukunft aufrüstet, insbesondere um die US-Raketenabwehr zu überwinden.

Indien und Pakistan

Diese beiden Staaten sind nicht anerkannte Atomwaffenmächte und treten dem Atomwaffensperrvertrag aus diesem Grund auch nicht bei. (Sie können nicht als Atommacht beitreten, weil der Vertrag festschreibt, dass Atommacht nur sein darf, wer vor dem Vertrag schon getestet hatte). Obwohl vermutet wird, dass sie bereits seit langem Atomwaffen besitzen, ist ihr Atompotenzial erst seit der beiderseitigen Atomtestreihe 1998 definitiv bekannt. Indien hat schätzungsweise 30 bis 35 Atomwaffen, Pakistan 24 bis 48, das Arsenal wächst jedoch ständig. Auchdie Stationierung in Indien geht voran, und eine Befehlsstruktur wird aufgebaut, so dass das indische Abschreckungspotenzial "glaubwürdiger" wird.

Beide Staaten besitzen weitreichende ballistische Raketen und entwickeln sie immer weiter. Die Bedrohungsrhetorik beider Staaten erreichte im Jahr 2002 erschreckende Ausmaße, als die Welt vor einem Atomkrieg in Südasien bangen musste. Seitdem ist die Lage zwar entspannter geworden, sie bleibt jedoch - trotz der jüngsten Gesprächsbereitschaft - höchst gefährlich.

"Das internationale Sicherheitssystem wurde stufenweise unter eine globale nukleare Weltordnung gebracht, die die Hegemonie der fünf Atomwaffenmächte vorsieht. Indien will ein Mitspieler und nicht ein Objekt in dieser Ordnung sein." (K. Subrahmanyam, Direktor des Indian Institute of Strategic Studies)

Israel

Israel hat sein Atomwaffenpotenzial nie offiziell zugegeben, droht jedoch in Krisensituationen immer wieder damit, es könne Atomwaffen einsetzen. Experten schätzen, dass Israel 75 bis 200 Atomwaffen besitzt, die Arabische Liga behauptet, es habe eher 350 im Arsenal. Um die Diskussion über seine Atomwaffen und eine eventuelle Abrüstung zu umgehen, tritt Israel dem Atomwaffensperrvertrag nicht bei.

Nordkorea

Nordkorea hat für Schlagzeilen gesorgt, als es Anfang 2003 aus dem Atomwaffensperrvertrag ausgetreten ist. Ungewiss ist, ob Nordkorea bereits im Besitz von Atomwaffen ist. Die US-Geheimdienste behaupten, dass Nordkorea bereits mindestens zwei Atomwaffen gebaut habe und genug Plutonium besitze, um weitere zu bauen.

Glossar:

Atomwaffenfreie Zonen

Fast die gesamte südliche Hemisphäre ist atomwaffenfrei. Der Pelindaba-Vertrag regelt die afrikanische atomwaffenfreie Zone, der Vertrag von Tlatelolco betrifft ganz Süd- und Mittelamerika, der Raratonga-Vertrag den Südpazifik.

Der Vertrag von Bangkok deckt einen großen Teil von Südasien ab, leider nicht Indien und Pakistan. Auchdie Mongolei hat sich für atomwaffenfrei erklärt.

Bunker Buster

Eine erdeindringende Waffe, die unterirdische Anlagen oder Massenvernichtungswaffen-Lager zerstören soll. Es gibt bereits konventionelle "Bunker Buster", die im Irakkrieg eingesetzt wurden, und eine US-Atombombe mit begrenzten Fähigkeiten dieser Art, die B-61 Modell 11. Bei dem "Nuclear Earth Penetrator" handelt es sich um die Entwicklung einer neuen Generation erdeindringender Atomwaffen (siehe IPPNW-Aktuell 10/03 und die IPPNW-Studie: Nukleare "Bunkerknacker" und ihre medizinischen Folgen.)

Mininuke, Miniatomwaffe

Eine Mininuke ist eine Atomwaffe mit einer Sprengkraft unter fünf Kilotonnen. Die Forschung an kleinen, technisch hochentwickelten Atomwaffen hat in den USA bereits begonnen, nachdem das 10 Jahre alte Verbot der Entwicklung von Mininukes aufgehoben wurde.

Nukleare Teilhabe der NATO

Die nukleare Teilhabe in der NATO besteht aus zwei Komponenten: Zum einen der technischen Teilhabe, mittels derer Piloten und Flugzeuge der nichtnuklearen NATO-Staaten im Kriegsfall US-Atomwaffen einsetzen können und dies im Frieden üben. Zum anderen aus der politischen Teilhabe, d.h. dem Recht, über Nuklearstrategie, Nuklearwaffenstationierung und Nuklearwaffeneinsatzplanung in der NATO mitdiskutieren zu können.

START-Verträge (Strategic Arms Reduction Talks)

START-I (1991) und II (1993) waren bilaterale Verträge zwischen der UdSSR bzw. Russland und den USA. Sie regelten die beiderseitigen Reduzierungen von strategischen Atomwaffen. START-I sah innerhalb von 7 Jahren eine Reduzierung der strategischen Nuklearwaffensysteme der USA und Russlands um circa ein Drittel gegenüber dem Stand bei Vertragsschluss 1991 auf gemeinsame Obergrenzen von 1.600 Trägersystemen und 6.000 Gefechtsköpfen vor. START-II regelte eine über START I hinausgehende Reduktion der beiderseitigen Atomwaffenarsenale auf maximal 3.500 Gefechtsköpfe pro Seite,d.h. auf ein Drittel des Bestandes von 1991. Mit dem Moskauer Abkommen (2002) hat der START-II-Vertrag keinen Bestand mehr.

Quellen:



Bulletin of Atomic Scientists, NRDC Nuclear Notebook 2001-2003, www.thebulletin.org/issues/nukenotes/nukenote.html;



Nassauer, Otfried: "NATO`s Nuclear Posture Review. Should Europe end nuclear sharing?" BITS Policy Note, April 2002;



Nuclear Weapon Free Zones: www.opanal.org/NWFZ/NWFZ`s.htm (OPANAL);



SIPRI Handbuch 2001.


Atomkrieg?

Chefwaffeninspektor Mohammed al-Baradei:

"Noch nie war die Gefahr (eines Atomkrieges) so groß wie heute. Ein Atomkrieg rückt näher, wenn wir uns nicht auf ein neues internationales Kontrollsystem besinnen."

Der Spiegel Nr. 5/26.1.04:"Ein Atomkrieg rückt näher", Interview mit Mohammed al-Baradei", S. 104



Xanthe Hall ist Atomexpertin in der IPPNW-Geschäftsstelle Berlin.

E-Mail: ippnw@ippnw.de

Website: www.ippnw.de
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