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 Sagt Nein!

Erziehung zum Ungehorsam - Zur Pädagogik ungehorsamen Verhaltens

Bernhard Nolz

Struwwelpeter

Struwwelpeter, Terrorist

weg geschlossen du bald bist

Daumen-Konrad, Taliban,

schon ist nichts mehr an dir dran

Pazifist, Hans Luftikus

mit Geduld ist endlich Schluss

aller euer Widerstand

landet doch nur an der Wand




Friedenserziehung als Medienerziehung

"Der Struwwelpeter" erschien vor 160 Jahren. Meine spontane Nachdichtung möchte ich als eine aktuelle Würdigung des Struwwelpeter-Autors Heinrich Hoffmann verstanden wissen, der sich mit seinem Buch gegen die Droh- und Strafpädagogik seiner Zeit wandte und der meinte, dass "der Verstand sich sein Recht schon verschaffen wird". Er ging von der Überzeugung aus, "das Kind erfasst und begreift nur, was es sieht."

Das nennen wir heute Medienerziehung. Sie wird zur Friedenserziehung, wenn es ihr gelingt, positive Leitbilder zu entwickeln. D.h. sie will dazu beitragen, dass bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen Einstellungsorientierungen und Verhaltensdispositionen zur Wirkung kommen können, die dem Frieden, der Gewaltlosigkeit und den Menschenrechten verpflichtet sind.

Heinrich Hoffmanns klassisches Beispiel des Ungehorsams wird in der "Geschichte vom Daumenlutscher" erzählt. Wenn wir heute Konrads Daumenlutschen auch eher als ein pubertäres Suchen zwischen Angst und Sehnsucht interpretieren würden, können wir doch den Widerstand im Verhalten des Jungen erkennen. Er tut, was er nicht soll, wenn die Mutter weg ist. Er ist ungehorsam.

Kommunikation im Dienste des Friedens

Es ist leicht, die Metapher "Daumenlutschen" auf heutige Verhältnisse kindlicher bzw. jugendlicher Sozilisation zu übertragen. "Sei hübsch ordentlich und fromm", heißt es im Struwwelpeter, rauche, kiffe, trinke nicht, stell den Fernseher nicht heimlich an ...! Erziehung, wo immer sie stattfindet, steht eben in einem gesellschaftlichen Kommunikationszusammenhang, der geprägt ist von dem, was gesellschaftlich erwünscht ist, und dem, was gesellschaftliche Wirklichkeit ist. Diesen Widerspruch kann die Friedenserziehung nicht aufheben. Aber sie macht erkennbar, dass es darauf ankommt, sich auf die Seite des Friedens und der Gewaltlosigkeit zu schlagen. In heutigen Struwwelpeter-Geschichten zur Friedenserziehung würde kein Vertreter einer übergeordneten Macht, der Schneider mit der überdimensionalisierten Schere, dem Konrad den Daumen abschneiden. Vielmehr käme ein Medien-Künstler daher, der Konrad lehrte, ein Daumenkino herzustellen, um sich und andere zu erfreuen.

Die Gewalt - individuell motiviert, medienmäßig emotionalisiert oder staatlich monopolisiert - stellt das Hauptproblem am Beginn des 21. Jahrhunderts dar. Eine Erziehung zum Ungehorsam wäre demnach eine Erziehung zum Widerstand gegen Gewalt und gegen die Menschen, Gruppen und Institutionen, die Gewalt ausüben oder legitimieren.

Politischer Widerstand

Politischer Widerstand ist immer da angesagt, wo die Regierenden gegen Verfassungs-, Völkerrechts- oder Menschenrechts-Grundsätze verstoßen. Bedeutende Beispiele dafür sind der Krieg in Jugoslawien, der Afghanistan-Krieg, der Tschetschenien-Krieg oder der Irak-Krieg.

Der Widerstand der Friedensbewegung gegen den Krieg hat neben anderen Zielen auch das Ziel, die Bereitschaft der Politiker zu stärken, den Menschenrechten und dem Völkerrecht gegenüber "gehorsam" zu sein, wozu sie ihr Amtseid verpflichtet. All zu leicht möchten Politiker vergessen, dass ihre Macht zeitlich begrenzt ist, während die demokratischen Grundrechte den BürgerInnen ein ganzes Leben lang verliehen sind.

Hartmut von Hentig hat das im Jahre 1987 in seinem Buch "Arbeit am Frieden. Übungen im Überwinden der Resignation" so formuliert: "Erziehung zum Frieden kann nur Erziehung zur Politik heißen. Und Erziehung zur Politik wiederum ist Sache der ganzen polis - zu vollziehen an der ganzen Person und wohl das ganze Leben lang."

Eine gesellschaftlich unterstützte Friedenserziehung kann Kinder, Jugendliche und Erwachsene sensibel machen für Gewalt-Situationen und deren friedliche Überwindung. Dabei soll gelernt werden, wie sie das Denken in Kategorien wie Freund-Feind, falsch-richtig, besser-schlechter u.ä. überwunden werden kann. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist die Fähigkeit, den Anderen als Person zu erkennen, anzuerkennen und ernst zu nehmen.

Friedenskompetenz: Respekt

Der chilenische Erkenntnistheoretiker Humberto R. Maturana macht eine aufschlussreiche Unterscheidung zwischen Respekt und Toleranz, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung sein kann: Solange ich einem Anderen nur mit Toleranz begegne, verachte ich ihn im Grunde, ich gebe ihm nur eine "Gnadenfrist" sich zu ändern, bevor ich dann über ihn herfalle. Begegne ich ihm dagegen mit Respekt, so signalisiere ich, dass mich seine Auffassung, Einstellung, Meinung interessiert, dass ich bereit bin, ihm zuzuhören und mich mit seiner Einstellung auseinanderzusetzen. Erst wenn ich dies überzeugend tue, kann ich entscheiden, ob und inwieweit ich mit ihm übereinstimme oder mich von ihm abgrenze und gegen seine "Politik" Widerstand entwickle. Die Friedenskompetenz "Respekt" muss als ein Prozess auf Gegenseitigkeit verstanden werden.

Friedenskultur orientiert sich an den Prinzipien der Gewaltlosigkeit und Gerechtigkeit, der Mitmenschlichkeit und Nachhaltigkeit:

Gewaltlosigkeit als Fähigkeit, sich kritisch und kreativ mit den verschiedenen Erscheinungsformen von Gewalt auseinanderzusetzen - sei es körperliche oder psychische, verbale oder sexuelle, strukturelle oder kulturelle Gewalt - und jeweils Wege zur Beseitigung oder Minderung dieser Gewaltformen zu finden und zu gehen.

Gerechtigkeit als Sensibilität für Recht und Unrecht im Zusammenleben von Menschen untereinander.

Mitmenschlichkeit als Sensibilität für die Andersartigkeit von Mitmenschen, für deren andere Anschauungen und Probleme, für deren Bedürfnisse nach Verständnis und Verständigung.

Nachhaltigkeit als Sensibilität für Fragen nach einem verantwortungsvollen Umgang mit den Menschen und mit der Natur, mit nicht regenerierbaren und regenerierbaren Ressourcen unserer Erde.

Freie Meinungsäußerung

Für den Widerstand in der Demokratie bildet das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung die wichtigste Grundlage. Wer öffentlich politische Missstände kritisiert, gerät schnell in eine Falle von Denunziation, persönlicher Diskriminierung, Berufsverbot, Zerstörung der Existenz ...

Das habe ich am eigenen Leibe erfahren. Nach einer Friedensrede - eine Woche nach den Anschlägen vom 18. September 2001 in New York - in der ich zum gewaltfreien Widerstand gegen Krieg, Terror und Gewalt aufgefordert hatte, wurde ich Zwangs-versetzt. Die maßlose Reaktion der rot-grünen Landesregierung NRW sollte abschrecken, zog aber tausendfachen Protest - auch von SchülerInnen - nach sich. Bis heute hält die persönliche Benachteiligung und die des Zentrums für Friedenskultur (ZFK) in Siegen an. Das ZFK ist in seiner wirtschaftlichen Existenz ernsthaft bedroht und steht ständig auf der Kippe schließen zu müssen.

Ungehorsam als Tugend

Was ich mit dem Struwwelpeter begonnen habe, schließe ich mit einem Dokument, das die NRW-Landesregierung vor Kurzem aus dem Verkehr gezogen hat: den Erlass zur Friedenserziehung im Unterricht. Darin heißt es: "Erziehung zum Frieden, die sich mit dem Auftrag verbindet, mündige, aktive und demokratische Bürgerinnen und Bürger zu erziehen, ist eine wichtige Aufgabe der Schule." Wer daran mitarbeiten kann, erlebt, wie sich Widerstand entwickelt.

Ungehorsam kann eine Tugend der Jugend sein, wenn sie zur Kritik von Herrschaft wird. Dann ist sie Reaktion auf staatliche Erziehung, die längst ihre Wirkung verspielt hat.

Bernhard Nolz ist Gesamtschullehrer und in der Lehrerfortbildung tätig. Er ist Sprecher der Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden (PPF), Vorsitzender des Bundes für Soziale Verteidigung (BSV), Geschäftsführer des Zentrums für Friedenskultur (ZFK) Siegen, Träger des Aachener Friedenspreises, Träger des Zivilcourage-Preises der Solbach-Freise-Stiftung.



E-Mail: nolzpopp@onlinehome.de

Website: www.friedenskultur.de , info@zfk-siegen.net
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