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 UNO-Reform: eine wirkliche Chance?

Argumente für Aufbau und Einsatz einer internationalen Polizei

Karlheinz Koppe

Das Dilemma, vor dem wir alle - Regierung wie Opposition, Friedensbewegung wie Friedensforschung und nicht zuletzt die Bundeswehr - stehen, ist klar: Was soll geschehen, wenn im Verlauf von Gewalteruptionen Menschen gequält, geschädigt und ermordet werden, wie es in nahezu allen gegenwärtigen Kampfgebieten der Fall ist, und friedliche Streitbeilegungsmechanismen nicht greifen? Vor allem, wenn es zu fundamentalistisch motivierten Terrorakten wie am 11. September 2001 kommt? Es gibt nicht nur ein Recht auf individuelle und kollektive Notwehr, es gibt eine Verpflichtung zur individuellen und kollektiven Nothilfe. Auch die Mitarbeiter ziviler Friedensdienste und humanitärer Hilfsorganisationen haben einen Anspruch darauf, in Ausübung ihrer Tätigkeit geschützt zu werden. Der berechtigte Vorwurf, dass die internationale Gemeinschaft es an Krisen- und Gewaltprävention missen lässt, hilft weder den betroffenen Menschen noch den engagierten Helfern. Und selbst wenn es gelingen sollte, künftig Krisen präventiv zu entschärfen, gibt es keine Gewähr, dass es nicht doch zu Gewalteruptionen kommt.

Das, was in Ex-Jugoslawien, im Kaukasus, in Afghanistan, in Ruanda, in Somalia, in Algerien, im Sudan, im Irak und anderswo geschah und geschieht, geht auf politische Umbrüche und soziale Verelendungsprozesse zurück. Diese Prozesse bilden den Nährboden für skrupellose Akteure, für die Verfestigung längst überholt geglaubter ethnischer, nationaler und religiöser Konflikte, für Fremdenhass, Terrorismus und religiösen Fanatismus. Das dürfte der Grund sein, weshalb Interventionen - gewaltsame (militärische) wie gewaltfreie (zivile) - so schwierig sind. Es kommt hinzu, dass die Vereinten Nationen seit Jahren an der Erfüllung ihrer Aufgaben gehindert werden, obwohl es doch sie sind, die internationale Streitigkeiten schlichten sollen, notfalls mit militärischer Gewalt unter der direkten Kontrolle des Generalsekretärs. Zahlreiche friedensengagierte Personen, darunter überzeugte Pazifisten (auch Grüne und linke Sozialdemokraten) haben daraus den Schluss gezogen, dass militärisches Eingreifen in solchen Fällen nicht nur unvermeidlich, sondern ethisch geboten sei.

Genau das ist der falsche Schluss. Zum einen gibt es keine Gewähr dafür, dass solche Einsätze den gewünschten Erfolg zeitigen, ja nicht einmal für die praktische Durchführbarkeit. Selbst Militärs zweifeln an der Möglichkeit, einen heißen Krieg gegen guerillamäßig organisierte Kampfgruppen führen, geschweige denn gewinnen zu können. Es sei denn unter hohen eigenen Verlusten und noch höheren Verlusten unter der Zivilbevölkerung. Die fehlgeschlagene Intervention in Somalia und die nicht minder fehlgeschlagene russische Intervention in Tschetschenien sind dafür abschreckende Beispiele. Und jüngstes Beispiel ist die Entwicklung im Irak, wo die Streitkräfte der USA und ihrer Verbündeten weder den Aufstand der Interventionsgegner noch die Kämpfe unter den verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu stoppen in der Lage sind.

Zum anderen stellt sich die Frage, ob die Vereinten Nationen und die für Militäreinsätze noch immer souverän zuständigen nationalen Regierungen es sich überhaupt leisten können, geschweige denn in der Lage sind, überall dort einzugreifen, wo es ethisch und politisch geboten erscheint, beispielsweise in Ruanda, im Sudan, im Kongo oder in Simbabwe. Und eine weitere Überlegung verstärkt die Zweifel an Sinn und Erfolg militärischer Interventionen in Krisengebieten: Wie lange und wie oft werden die interventionsfähigen Staaten, allen voran die USA, angesichts ihrer defizitären Haushalte noch gewillt und in der Lage sein, solche Operationen durchzuführen? Der Aufwand für die Durchführung der Interventionen ist konterproduktiv zu den nichtmilitärischen Hilfeleistungen. In Somalia kosteten die drei Interventionen 3,5 Milliarden US$, der Wert humanitärer Hilfe belief sich auf ziemlich genau ein Zehntel, nämlich 350 Millionen US$. Weder im Falle Somalias noch im Falle Bosniens und des Kosovo ist ernsthaft geprüft worden, ob die Bereitstellung von Hilfen größeren Ausmaßes die Konfliktparteien nicht doch an einen Tisch gebracht hätte, vor allem wenn damit die Bedingung verbunden gewesen wäre, dass solche Hilfen tatsächlich nur gezahlt würden, wenn die Gewalt beendet wird.

Die Abwertung der Vereinten Nationen ist unverkennbar. Zwar wird nach wie vor die Zustimmung des Sicherheitsrates für Militärinterventionen eingeholt (im Falle des letzten Irak-Krieges wurde ohne solche Zustimmung gehandelt!), doch seit Somalia stehen diese Einsätze nicht mehr in der direkten Verantwortung der Vereinten Nationen, wie es deren Charta vorsieht, sondern werden nur noch mit Billigung des Sicherheitsrates von international gemischten Verbänden (oder wie im Falle Bosniens von der NATO mit russischer Beteiligung) unter amerikanischem Oberkommando durchgeführt.

Der Vorwurf an jene Pazifisten, die nach wie vor militärische Interventionen ablehnen, sie sähen tatenlos dem Mordgeschehen zu, ist angesichts der genannten Tatsachen bereits leiser geworden, vor allem da die Interventionsbefürworter ihrerseits dem Mordgeschehen in anderen Regionen, vor allem in Zentralafrika, hilflos zuschauen. Und somit stehen wir offensichtlich weiterhin dem eingangs beschriebenen Dilemma gegenüber: Was soll geschehen, wenn im Verlauf von Gewalteruptionen Menschen gequält, geschädigt und ermordet werden, wie es in nahezu allen gegenwärtigen Kampfgebieten der Fall ist, und friedliche Streitbeilegungsmechanismen nicht greifen?

Die Pazifisten der Zwanziger Jahre hatten sich mit dieser bedrückenden Frage bereits eingehend auseinandergesetzt. Eine der Antworten lautete: Aufbau einer internationalen Polizeitruppe, die nicht im Verdacht stünde, nationalen Machtinteressen Vorschub zu leisten, sondern dem Völkerbund gegenüber verantwortlich wäre. Die ausführlichste Untersuchung zu diesem Thema unter dem Titel "Das Problem einer internationalen Polizei" wurde von dem Völkerrechtler Prof. Hans Wehberg verfasst. Wehberg war zusammen mit Ludwig Quidde und Walther Schücking Herausgeber der 1899 von Alfred Fried gegründeten "Friedenswarte", die 1933 von Berlin nach Zürich übersiedeln musste. Natürlich war den Völkerrechtspazifisten dieser Zeit bewusst, dass die Autorität und Befugnisse des Völkerbundes und des Haager Schiedsgerichtshofes nicht durchsetzungsfähig genug waren, um eine solche Polizeitruppe aufzustellen. Sie traten deshalb für eine Stärkung des Völkerbundes und des Haager Gerichtshofes ein. Dabei erwies sich die Nichtbeteiligung der Vereinigten Staaten als ein entscheidendes Hindernis. Auch waren die Nationalstaaten noch nicht bereit, eine so entscheidende Befugnis aufzugeben, wie sie die Aufstellung einer internationalen Polizeitruppe mit sich gebracht hätte. Das hatte auch Albert Einstein in den dreißiger Jahren bereits erkannt. Er war ein konsequenter Pazifist, forderte aber dennoch ein militärisches Eingreifen gegen Hitler und den Faschismus mit dem Hinweis, dass er nach wie vor das "Militär verabscheue" und sich eine internationale Polizeitruppe vorstellen könne, da es diese aber noch nicht gebe, müsse eben militärisch gehandelt werden.

Prinzipiell ist und bleibt Militär ungeeignet, Frieden zu stiften. Es handelt - wie in Bosnien und im Kosovo zu erkennen ist und vor allem im Irak - letztlich doch in nationaler Verantwortung und bleibt damit einseitiger Parteinahme und Interessenwahrnehmung verdächtig. Auch ist es sehr fraglich, ob und wie einfache amerikanische, russische oder deutsche dienstverpflichtete oder auch professionelle Soldaten überhaupt polizeiliche Aufgaben wahrnehmen können. Im Zweifelsfalle werden sie sich ihrer militärischen Ausbildung entsinnen und auf tatsächliche oder vermeintliche Gegner schießen. Daran wird auch die von der Bundeswehrführung begonnene Spezialausbildung nicht viel ändern. Um die notwendigen Polizeifunktionen erfüllen zu können, müssen ganz andere Voraussetzungen gegeben sein. Die Angehörigen einer Polizeieinheit müssen von vornherein und grundsätzlich aus verschiedenen Staaten rekrutiert sein, sie müssen über zumindest rudimentäre Sprach-, Rechts- und Situationskenntnisse verfügen und mit örtlichen Polizeikräften, soweit solche noch existieren, zusammenarbeiten. Sie sollen durchaus leicht bewaffnet sein (wozu auch gepanzerte Fahrzeuge und Aufklärungsflugzeuge/Hubschrauber gehören, nicht aber schwere Panzer, schwere Artillerie und Kampfflugzeuge). Ich schätze, dass dazu deutscherseits Kontingente zwischen 50.000 und 80.000 Personen (im Polizeidienst kommen auch Frauen in Frage) ausgebildet werden müssen, um jederzeit bis zu 20.000 Personen einsatzbereit zu halten, wobei zu überlegen ist, wie von vornherein die internationale Zusammenarbeit organisiert werden kann.

Gelegentlich ist der Vorwurf zu hören, dieser Vorschlag sei ein Etikettenschwindel, weil die beschriebenen polizeilichen Interventionen doch wieder militärischen Einsätzen gleich kämen. Das ist jedoch nicht der Fall. Allein schon die Rechtslage ist wichtig. Bei militärischen Kampfeinsätzen kommt es nach wie vor darauf an, so viel gegnerische Kombattanten wie möglich "auszuschalten", was in der Regel auf Tötung im Kampf hinausläuft. Der einzelne Soldat oder Offizier braucht sich (unter Bedingungen eines Kampfeinsatzes!) nicht zu rechtfertigen, wie viele "Gegner" (einschließlich Zivilpersonen) getötet werden. Der Polizist dagegen wird für jeden Schuss zur Rechenschaft gezogen, so wie dies im nationalen Recht die Regel ist. Selbstverständlich darf auch ein Polizeieinsatz nur im Rahmen einer Ermächtigung durch den UN-Sicherheitsrat erfolgen. Für mögliche (straf)rechtliche Würdigungen wäre der internationale Strafgerichtshof zuständig. Damit wären - auch ohne "Weltregierung" - die rechtlichen Voraussetzungen für eine wirklich internationale Polizeitruppe gegeben.

Der Einsatz von internationalen Polizeitruppen in Krisen- und Kampfgebieten zur Aufrechterhaltung beziehungsweise Wiederherstellung öffentlicher Ordnung hätte vor allem den Vorteil, dass er von den betroffenen Regierungen und den zu schützenden Menschen leichter akzeptiert würde als der Einsatz von Militär. Es bleibt freilich das Problem, dass wir eine solche Polizei noch nicht haben. Hier sollte ein pragmatisches Vorgehen im Rahmen einer Doppelstrategie möglich sein. Unter der Voraussetzung, dass über die Schaffung solcher internationaler Polizeieinheiten Konsens erzielt sowie mit Ausbildung und Aufstellung ernsthaft begonnen wird, könnte übergangsweise auch über herkömmliche militärische Interventionen mit polizeilichem Charakter Übereinkunft erzielt werden. Zugleich sollte die Verwirklichung eines solchen Konzepts an die weitere Bedingung geknüpft werden, dass in der Abrüstung zügig Fortschritte erzielt werden.

Ein solches Konzept würde es meines Erachtens erlauben, sowohl pazifistische Grundsätze durchzuhalten als auch Fortschritte mit Blick auf eine Entmilitarisierung der Gesellschaft zu erzielen, ohne deshalb gefährdete Menschen eines wirksamen Schutzes zu berauben. Vor allem würde dann auch der Vorwurf gegenstandslos, Pazifisten würden sich vor Hilfe für Menschen in Not drücken. Voraussetzung aber ist, dass die Rolle der Vereinten Nationen, ihres Sicherheitsrates und des Generalsekretärs wieder gestärkt wird.



Karlheinz Koppe ist ehemaliger Leiter der Bonner Arbeitsstelle Friedensforschung.

E-Mail: khkoppe@priub.org
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