FF2005-7


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 Hintergrund

BürgerInnen zwischen Nationalstaat, Europäischer Union und Globalisierung

Die Staatenwelt in der wir leben

Andreas Buro

Immer wieder wird die Frage aufgeworfen, ob der Staat nicht zum hilflosen Gehilfen der großen Kapitale herabsinke und eigentlich an Bedeutung verliere. Während von vielen Menschen "der Staat" als ihr Sachwalter empfunden wird, wächst die Angst, bei seinem möglichen Verfall schutzlos zu werden. Doch was ist eigentlich "der Staat" für EU-Bürger?

Hinter uns liegt eine lange Phase neo-liberaler Politik. Wahrscheinlich ist sie im Bewusstsein vieler Menschen charakterisiert durch die Privatisierung immer weiterer Bereiche des öffentlichen Sektors, durch große Zugeständnisse an die mächtigen Kapitale und Konzerne in Hinblick auf die Minderung ihres Beitrags zum gesellschaftlichen Wohlstand; durch Deregulierung bisheriger Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und von Elementen der sozialen Solidarität; durch den Versuch, die Bedeutung der Gewerkschaften zu vermindern und betriebliche Mitbestimmung zurück zu drängen; durch Entdemokratisierung der Gesellschaften in der EU im Rahmen der sogenannten Terrorismusbekämpfung zu Lasten der bürgerlichen Grundrechte und durch die Zurichtung der Gesellschaften zur Erzeugung von Wirtschaftswachstum. Dazu kommt eine zunehmende Aufrüstung, die sich nicht mehr an der Landesverteidigung, sondern vielmehr an der weltweiten Intervention zur Sicherung von vermeintlichen wirtschaftlichen und strategischen Interessen der EU-Staaten orientiert.

Die immer weitere Verschuldung des Staates und sein Sparverhalten wird wahrscheinlich von vielen erlebt, als ein falsches Sparen auf Kosten unserer Zukunft. Schulische, handwerkliche und universitäre Bildung werden vernachlässigt. Die großen ökologischen Probleme werden nicht mit ausreichender Perspektive angepackt und die Lebensperspektiven für die Menschen sind unsicher. Es hat den Eindruck, die Bundesregierung würde von der großen Wirtschaft vor sich her getrieben und hätte an diese bereits einen großen Teil ihrer Entscheidungsbefugnisse abgetreten.

Doch wir leben nicht nur in der Bundesrepublik, wir leben auch in der EU. Wie ist die Entwicklung dort zu beurteilen? Offensichtlich haben sich die neuen Beitrittsländer in ganz erheblichem Maße den Vorgaben der EU anpassen und damit ein Stück ihrer Souveränität aufgeben müssen. Doch auch die Gründerländer haben sich einem transnationalen Prozess der Veränderung und Reglementierung unterworfen, der ihre Souveränität erheblich einschränkt. Dies wird deutlich, wenn dem deutschen Finanzminister wegen zu hoher Verschuldung und Verstoß gegen das Euro-Regime mit Sanktionen aus Brüssel gedroht wird oder sich EU-Staaten gegen Richtlinien der Kommission zur Wehr zu setzen versuchen. Sicher werden daraufhin oftmals neue Kompromisse gesucht, doch kann von nationalstaatlicher Souveränität kaum noch die Rede sein.

Meine These ist, dass in der EU parallel zum Abbau der nationalstaatlichen Souveränität eine neue "transnationale Souveränität" aufgebaut wird. Das ist ein Prozess, der bereits seit langer Zeit und zumindest im Rückblick zielstrebig verläuft. Ganz unterschiedliche Nationalismen sollen darin zusammen geführt und auf transnationaler Ebene zu einem konkurrenz- und handlungsfähigen Block vereint werden. Dabei sind nationaler Widerstand und viel Ideologie zu überwinden. Wie stark dieser EU-Trend ist, zeigt sich daran, dass das bisherige Scheitern der Verabschiedung der EU-Verfassung nichts daran geändert hat, dass die in der Verfassungsvorlage aufgeführten Ziele unbehindert weiter verfolgt werden: Polizeiliche Zusammenarbeit, Flüchtlingsabwehr, Aufbau von Interventionskapazitäten, Europäische Rüstungsagentur, Abbau der wirtschaftlichen Schranken in der EU bis hin zur Bolkenstein-Richtlinie mit dem Ziel, die Dienstleistungen in der EU zu entgrenzen und vieles mehr. Die EU bemüht sich eine gemeinsame Außen- und Militärpolitik zu entwickeln und nach innen die Gesellschaften der Mitgliedsstaaten so zuzurichten, dass sie sich im erwarteten harten Konkurrenzkampf in den kapitalistisch globalisierten Märkten behaupten können.

Zu dieser Zurichtung gehört, jenseits aller wortstark vorgetragenen Demokratiebekenntnisse, dass die Herausbildung der EU-Souveränität in ihrer Grundstruktur nicht mehr demokratisch angelegt ist. Der Ministerrat trifft die grundlegenden Entscheidungen und setzt diese mit Hilfe der Kommission in Brüssel durch. Das gewählte Parlament wird in eine Nebenrolle gedrängt und die Vorbereitung wichtiger Entscheidungen in Kommissionen und Unterkommissionen verlagert. Die Tendenzen zur Entdemokratisierung der EU sind nicht einfach aufgrund der Schwierigkeiten der Integration so vieler unterschiedlicher Gesellschaften, Kulturen, Traditionen und nationaler Ängste und Egoismen zu erklären. Sie deuten vielmehr daraufhin, dass der Kampf um Weltmärkte und Rohstoffe nach Auffassung der politischen Eliten ein großes Maß von Verzicht erfordern wird, das nur mit autoritären Strukturen für erreichbar gehalten wird. Dass dabei Militär nach außen und innen eine große Rolle zu spielen hat, scheint der Politik in diesem Sinne der EU-Integration selbstverständlich. Dieser Prozess ist gleichzeitig verbunden mit einer Erosion der formalen und der tatsächlichen Souveränität der in der EU zusammen geschlossenen Nationalstaaten.

Mit der Entdemokratisierung auf der EU-Ebene könnte paradoxer Weise eine verstärkte Bürgerbeteiligung auf den unteren Ebenen, also der Kommunen, der Regionen und vielleicht sogar der Nationalstaaten einher gehen. Dies nicht nur, weil von der EU-Ebene aus nicht alle Besonderheiten in den 25 Ländern vor Ort geregelt werden können, sondern auch weil sich dort Empörung und Widerstand gegen Generalregelungen der EU auswirken dürften, die auch dort aufgearbeitet werden sollen. Dazu dient auch das immer wieder hervor gehobene Subsidiaritätsprinzip. Es besagt, dass alles, was der Sache nach auf den unteren Ebenen geregelt werden kann, auch dort behandelt werden soll. Die Bürger- und Bürgerinnen hätten damit einen ihnen nahen Spielraum der Gestaltung ihrer Lebens- und Umwelt und könnten dem Gefühl der Verlorenheit in der Superstruktur der EU etwas entgegen setzen.

Fern von ihnen wäre allerdings die demokratische Mitbestimmung für die großen Rahmenentscheidungen, die auf der EU-Ebene getroffen werden. Dabei geht es vor allem um die Außen- und Sicherheitspolitik inklusive Aufrüstung, Rüstungsexport und Militärinterventionen, ferner die außenwirtschaftlichen Beziehungen und die dazu gehörigen internationalen Vereinbarungen. Fern von ihnen würden auch die Beziehungen zu den großen Kapitalen und ihren Ansprüchen gestaltet.

Der hier angedeuteten Entwicklung mag man entgegenhalten, das Kapital habe sich schon so weit verselbständigt, dass auch die Politik auf der EU-Ebene längst ihre noch unvollständige Souveränität an die ökonomischen Kräfte abgeben müsse. Meines Erachtens kann diese Frage nicht einfach mit Ja oder Nein beantwortet werden. Vielmehr ergibt sich eine erhebliche gegenseitige Abhängigkeit, wenn das heute vorherrschende Modell der ökonomischen Globalisierung - oder anders ausgedrückt der Internationalisierung des Kapitals - weiter verfolgt werden soll. Die EU-Ebene wird mehr und mehr von den in ihr zusammen geschlossenen Nationalstaaten die Aufgabe übernehmen, die Rahmenbedingungen für die Verwertungsmöglichkeiten des Kapitals im globalen Feld zu gestalten. Hierfür muss sie handlungsfähig sein, um auf alle Akteure einwirken zu können. Die Aufgabe der EU kennzeichnete der Präsident der EU-Kommission in Brüssel Barroso jüngst so: Die Europäer sollten hinter Europa vereint werden und Europa müsse die Globalisierung gestalten und ihr eine europäische Dimension geben, womit den Bürgern ihre Ängste genommen werden würden und der Wirtschaft geholfen werde (FR 21.9.2005). Ein "Nachtwächterstaat" ist nicht in der Lage, dies zu leisten.

Es mag nützlich sein, an dieser Stelle einen kurzen Blick auf die USA zu werfen. In ihnen hat sich die gemischte Herrschaft von Staat und Kapital schon in erstaunlichem Maß weit entwickelt. Dabei ist der Staat keineswegs schwach oder ein "Nachtwächterstaat". Er vertritt gemeinsam mit den Kapitalgruppen, die bereits massiv in der Administration vertreten sind, die vermeintlichen wirtschaftlichen und politischen Interessen des Landes. Die USA ziehen sich so mehr und mehr aus internationalen Verpflichtungen zurück. Beschädigen die UNO durch ihren Anspruch, dass ihre Interessen Vorrang gegenüber der UN-Charta hätten. Sie zerreißen die Sicherheitsbande der Rüstungskontrollverträge, drohen mit dem Ersteinsatz von Atomwaffen und betreiben protektionistische Wirtschaftspolitik, wo immer es ihnen für ihr nationales Kapital günstig erscheint. Sie weigern sich internationalen ökologischen Verträgen beizutreten und führen auf eigene Faust Kriege, wenn der Sicherheitsrat ihren Wünschen nicht folgt. "In der Clinton-Regierung waren die Interessen der schmalen, aber einflussreichen kosmopolitischen Gesellschaftsschicht personell wie politisch - zumindest teilweise - noch repräsentiert. Die gegenwärtige Machtelite hingegen gruppiert sich um den militärisch-industriellen Komplex, also um das am wenigstens autonome und am entschiedensten nationalistische Segment der US-Ökonomie. Dieses ist mit dem Staat verschmolzen und setzt seiner Natur nach auf eine maximale Entfaltung nationaler Macht." (Philip S. Golub, Le Monde diplomatique, dt. Ausgabe 12.8.2005, S.11). Das bedeutet eine Absage an eine transnationale Politik und Kooperation mit internationalen Institutionen. Die jetzige US-Außenministerin hat schon im Jahr 2000 klar gemacht, dass die politischen Kräfte hinter Bush sich von einer "illusionären internationalen Gemeinschaft" unabhängig machen wollten. Man müsse die liberalen Maxime über Bord werfen.....und wieder stärker auf Nationalismus, Machtpolitik und Krieg setzen (ebd.). Golub schlussfolgert. "Denn wenn sich strukturelle Ungleichgewichte innerhalb des internationalen Wirtschaftssystems in protektionistischen Reaktionen niederschlagen, äußert sich die ökonomische Konkurrenz wieder in der klassischen Form von immer härteren Währungs- und Handelskriegen zwischen rivalisierenden Ländern und Wirtschaftsblöcken (ebd.).

Dieser Einschätzung scheint auch die EU-Politik zu folgen, zumal die Schaffung des Euro für die USA durch die Bedrohung des Dollars als Leitwährung eine erhebliche Herausforderung darstellt. So kann auch den großen Kapitalen in der EU nicht an einem "Nachtwächterstaat" gelegen sein. Die nach wie vor bedeutende Bindung großer Kapitalgruppen an ihre Herkunftsländer macht es für sie erforderlich, die Schaffung und Erhaltung der notwendigen Infrastrukturen zu sichern, um solchen Währungs- und Handelskriegen erfolgreich begegnen zu können. Freilich wird immer wieder darum gestritten werden, was zu den notwendigen Infrastrukturen gehört und wo mehr oder weniger gekürzt oder investiert werden soll. Dieser Streit wird nicht nur zwischen Staatsmacht und Kapital geführt werden, sondern wird auch bereits heute zwischen den unterschiedlichen Interessen der verschiedenen Kapitalfraktionen ausgetragen. Kurz- und langfristige Interessen werden dabei konkurrieren und versuchen die EU-Politik für ihre Ziele zu beeinflussen. Die Bürgerinteressen werden allerdings im kooperativen und gleichzeitig konkurrenzhaften Ringen zwischen EU-Staat und Kapitalinteressen voraussichtlich nur am Rande vertreten sein.

Wenn die hier angedeuteten Strukturen und Tendenzen in etwa zutreffen, so stellt sich für die sozialen Bewegungen die Frage, auf welche Ebenen sie ihre Arbeit und Energie richten sollen und welche Verbündete sie hierfür finden können. Um ein Beispiel zu nennen: Wäre es nicht denkbar, dass soziale Bewegungen sich darauf konzentrieren, die Kommunen in der EU, die vereinzelt zu schwach sind, um ihre Interessen wirksam zu vertreten, EU-weit für die Durchsetzung bestimmter Forderungen zusammen zu bringen und dadurch ein Stück Politik von unten zu gestalten? Damit sind selbstverständlich nicht die üblichen Städtepartnerschaften gemeint, die oft genug eher folkloristischen Charakter haben. Gemeint ist vielmehr eine gemeinsame Interessenvertretung, damit auf der EU-Ebene eine Austrocknung der Kommunen mit den Folgen einer massiven Verschlechterung der Lebensbedingungen vor Ort verhindert werden kann. Oder könnten soziale Bewegungen dazu beitragen, dass sich Regionen in der EU mit gleichartigen Problemen zusammenschließen, um ihre Interessen zu vertreten? Freilich sind nicht alle aufkommenden Interessen von Regionen und Kommunen im Sinne der sozialen Bewegungen vertretbar.

Die skizzierte Entwicklung der EU bereitet besonders für die sozialen Bewegungen viele Schwierigkeiten, die sich mit den Themen befassen, die auf der EU-Ebene ohne wesentliche demokratische Mitwirkungsmöglichkeiten entschieden werden. In erster Linie sind dabei die Friedens- und die Kriegspolitik zu nennen, aber auch die Weltwirtschafts- und die Entwicklungspolitik. Hier wird es immer wieder darum gehen müssen, Proteste innerhalb der EU zu "internationalisieren", weil Proteste aus einzelnen EU-Staaten nur allzu leicht als nationale Besonderheit abgetan und nicht berücksichtigt werden können.

Das zumindest vorläufige Scheitern der EU-Verfassung ist für die hier besprochenen Perspektiven ziemlich zweitrangig. Weder wird EU-Europa dadurch zu einer Freihandelszone verkommen, noch werden sich die Eliten und Institutionen in ihrem Kurs dadurch behindern lassen. Die Abstimmungsniederlage der Verfassung in Frankreich und den Niederlanden darf die sozialen Bewegungen nicht beruhigen. Sie müssen die Entwicklungstendenzen der EU, immer wieder erneut analysieren, um ihre eigenen Strategien darauf einzustellen.



Andreas Buro ist friedenspolitischer Sprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie.

E-Mail: andreas.buro@gmx.de
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