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 Friedensbewegung International

Versöhnungsarbeit im Irak?

Bernhard Winter

Vielleicht mag es machen zynisch anmuten, von Versöhnungsarbeit im Irak zu sprechen und dabei zunächst einmal nicht die ausländischen Besatzer/innen im Blickfeld zu haben. Ausgangspunkt unseres Projektansatzes ist trotz der strikten Ablehnung der US-geführten Intervention die extreme Gewalterfahrung der irakischen Gesellschaft in den vergangenen vier Jahrzehnten. Mitarbeiter/innen von Haukari e.V. sind seit 1991 in Projekten im Irak engagiert und dabei mit den Folgen der allgegenwärtigen Gewalt konfrontiert worden. Krieg- und Bürgerkrieg, Wirtschaftssanktionen sowie eine ungemein brutale Diktatur haben eine Kultur der Gewalt und unzählige Gewaltopfer hinterlassen. Als herausragende Eckpunkte eines Kaleidoskops der Gewalt seien erwähnt: Der Bürgerkrieg in Irakisch-Kurdistan 1970-75, der iranisch-irakische Krieg 1980-1988, der zweite Golfkrieg 1991 und die daran anschließenden Aufstände der schiitischen und kurdischen Bevölkerung sowie deren Niederschlagung, die UN-Wirtschaftssanktionen 1990-2003 sowie die US-geführte Intervention 2003 und die darauf folgenden bis heute anhaltenden Auseinandersetzungen in großen Teilen des Landes.

Im März 2004 eröffnete Haukari e.V. in der zentralirakischen Stadt Tuz Khurmatu (Regierungsbezirk Tikrit) das As-Salam Friedenszentrum. Die an der Verbindungsstraße Bagdad-Kirkuk gelegene Stadt zählt ca. 80.000 Einwohner/innen. In ihr wohnen separiert in eigenen Stadtteilen große turkmenische, arabische und kurdische Bevölkerungsgruppen. Die turkmenische Bevölkerung hängt meist der schiitischen Glaubensrichtung an, so dass hier auch die beiden islamischen Hauptrichtungen vertreten sind. Weite Teile der Stadtbevölkerung sind als Folge der Wirtschaftssanktionen und einer generellen Vernachlässigung der Stadt durch das gestürzte Regime vollständig verarmt. Soziale Einrichtungen sind nur rudimentär vorhanden, kulturelle fehlen vollständig. Während der Anfal-Operationen 1988, Vernichtungsoperationen des irakischen Militärs gegen die kurdische Landbevölkerung, wurden auch in Tuz Khurmatu und insbesondere in den kurdischen Dörfern der Umgebung tausende Frauen und Männer deportiert und sind seither verschwunden. In der Stadt lebt eine große Anzahl alleinstehender kurdischer Frauen, deren männliche Verwandten vermutlich ermordet wurden. Im Kontext der traditionellen patriarchalischen Gesellschaft gibt es keinen Platz für Familien, denen Frauen vorstehen. Sie sind daher sozial häufig marginalisiert und leben unter besonders prekären Bedingungen. Während insbesondere die kurdische aber auch die turkmenische Bevölkerungsgruppe unter dem Baath-Regime schweren Verfolgungen ausgesetzt war, fühlt sich die arabische als Verlierer des seit 2003 einsetzenden politischen Prozesses. Dies verhindert eine Wahrnehmung der Opfer, die es auch unter der arabischen Bevölkerung gab.

In der Stadt gab es unmittelbar nach dem Sturz des Baath-Regimes 2003 gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den Bevölkerungsgruppen, die sich z.B. an der Frage, in welcher Sprache in der Schule gelehrt werden soll, oder an religiösen Pilgerstätten entzündeten. Diese haben sich mittlerweile gelegt, dennoch sind die Spannungen und das Misstrauen zwischen den ethnischen Gruppen ständig zu spüren. Die Sicherheitslage ist anhaltend prekär. Die Zugangswege zu Tuz Khurmatu werden teilweise durch kriminelle Banden kontrolliert. Militärkonvois der amerikanischen Armee, die hier einen Stützpunkt unterhält, sind mitunter Angriffsziele von Aufständischen.

Das Zentrum wendet sich an Opfer politischer Gewalt wie ehemals Deportierte oder politische Gefangene und Verwandte von Vermissten aller ethnischen Gruppen unabhängig vom religiösen Bekenntnis und der politischen Überzeugung. Auch steht es Initiativen und Vereinigungen von Opfergruppen sowie parteiunabhängigen und multiethnischen Strukturen der Zivilgesellschaft zur Verfügung. Selbstverständlich steht es auch Opfern aktueller Auseinandersetzungen offen.

Ziel des Zentrums ist es, Opfer politischer Gewalt in rechtlichen Fragen zu beraten und ein psychosoziales Betreuungsangebot zu entwickeln. Angehörige Verschwundener sollen bei der Klärung des Schicksals ihrer Verwandten unterstützt und begleitet werden. Es sollen Strategien entwickelt werden, die es den unterschiedlichen Opfergruppen ermöglicht, ihre Forderungen in den politischen Prozess einzubringen, ohne selbst wieder Gewalt zu erzeugen.

Eine weitere zentrale Aufgabenstellung ist selbstredend der interethnische Dialog.

Vor dem Hintergrund der sozialen und politischen Lage in Tuz Khurmatu arbeitet das As Salam Friedenszentrum in der praktischen Umsetzung als Zentrum der Versöhnung und soziale Einrichtung für Gewaltopfer sowie auch als Bildungs- und Diskussionszentrum für alle Bevölkerungsgruppen. Durch niederschwellige Angebote wird versucht, die Menschen dort abzuholen, wo sie stehen. Neben Alphabetisierungs- und Computerkursen werden Informationen und Diskussionen über den politischen Prozess angeboten. In einer nur Frauen zugänglichen Gesundheitsstation erhalten alleinstehende Frauen aus allen Bevölkerungsgruppen medizinische und psychosoziale Hilfe. Ein Team von Sozialarbeiterinnen führt im Zentrum und in den Schulen der Stadt Informationsveranstaltungen zu Kinder- und Frauenrechten durch.

Obwohl von Anfang an die gleiche Teilhabe aller Bevölkerungsgruppen an dem Zentrum angestrebt wurde, wird es überproportional von KurdInnen und TurkmenInnen genutzt. Dennoch ist es einer der wenigen Orte in der Stadt, an denen ein Dialog zwischen den verschiedenen communities eingeübt werden kann. Das Zentrum wird in seinen Aktivitäten von allen Bevölkerungsgruppen kritisch beäugt. Mit allen Mitarbeiter/innen des multiethnischen Teams wurde ein Kodex ausgehandelt, der zwingend festlegt jegliche auch nur annähernd als diskriminierend einzustufende Äußerung oder Tätigkeit gegenüber einer Bevölkerungsgruppe zu unterlassen.

Voraussetzung für jeden Versöhnungsprozess ist die Kenntnis über das in der Vergangenheit Geschehene. Zu den Hinterlassenschaften des Baath-Regimes gehören an die 300.000 Verschwundenen, die in den ca. 200 offiziell registrierten Massengräbern vermutet werden. Für Angehörige Verschwundener ist das Leben häufig charakterisiert durch ein gefühlsmäßiges Pendeln zwischen den Polen Verzweiflung und Hoffnung, was einen Abschluss des Trauerprozesses verhindert, so dass er sich ständig selbst unterhält. Dieses Schicksal wird für die Anfal-Witwen durch ihre soziale Lage am Rande der Gesellschaft noch verschärft. Sie wollen sich vordringlich Gewissheit über das Schicksal ihrer Familienangehörigen verschaffen.

Demgegenüber kommt der Prozess der Öffnung der Massengräber wegen der angespannten Sicherheitslage nur langsam voran. Bisher wurden lediglich drei Gräber unter forensischen Kriterien untersucht. Mit dem Aufbau eines nationalen Vermisstenzentrum wurde gerade erst begonnen. Somit bleibt für die Angehörigen Verschwundener zunächst die quälende Ungewissheit über das Schicksal ihrer Verwandten weiterhin bestehen. Häufig verhindert sie die Entwicklung einer individuellen Lebensperspektive aber auch das sich öffnen können für einen Prozess, der in einer Versöhnung enden könnte. Dem Zentrum bleibt im Moment nur die Möglichkeit sich auf eine psychosoziale Begleitung der Betroffenen bei der Öffnung der Massengräber vorzubereiten.

Eine konzeptionelle Schwierigkeit des Zentrums besteht zweifelsohne darin, einerseits anzuerkennen, dass eine Bevölkerungsgruppe - in Tuz Khurmatu war es die kurdische - unter der Repression in der Vergangenheit besonders intensiv zu leiden hatte, andererseits aber eine Tendenz zur Hierachisierung der Opfergruppen zu vermeiden. Dies würde in der spannungsgeladenen Atmosphäre unweigerlich weitere Gewalt befördern. Die arabische Bevölkerung sieht die neue Situation vor allem aus der Perspektive des Verlustes von Macht und Einfluss. Dies erzeugt Ängste, welche ein adäquates Thematisieren der selbst erlittenen Verbrechen und Betrauern der Repressionsopfer unter der arabischen Bevölkerung verhindert. Auch dadurch wird ein sozial verwurzelter Versöhnungsprozess blockiert, der Voraussetzung für einen multiethnischen, demokratischen Irak ist.

Von einem Versöhnungsprozess kann bis jetzt in Tuz Khurmatu genau so wenig wie im übrigen Irak die Rede sein. Im Gegenteil gewinnt man dieser Tage den Eindruck, "dass das Land sich rasant auf einen Bürgerkrieg zubewegt. Der Weg zu einem innerirakischen Versöhnungsprozess erscheint unendlich weit, aber alternativlos, wenn die Gewaltspirale durchbrochen werden soll.

Das Zentrum wird unterstützt von Oxfam Deutschland.

Weitere Infos gibt es unter:
http://www.haukari.de



Bernhard Winter, Haukari e.V.

E-Mail: Winter@haukari.de

Website: www.haukari.de
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