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 Krisen und Kriege

Studie bezichtigt UNO der Komplizenschaft im Irak

Schräge Bilder vom Irak

Joachim Guilliard

"Koloniale Logik ist stets zirkulär, so auch die von Condi Rice: die USA müssen im Irak bleiben, um sich vor dem Irak zu schützen. Sie müssen zudem im Irak bleiben, um den Irak vor dem Iran zu schützen. Der nächste Schluss wird sein, dass die USA in den Iran müssen, um beide Ziele effektiver zu verfolgen".

Juan Coles in einem Kommentar zu "Rice: Stabilizing Iraq `Long Process`", AP, 12.9.2007




Im September musste die US-Regierung Rechenschaft über Fortschritte im Irak ablegen. Ihr Oberkommandierender, General David Petraeus, und ihr Botschafter im Land verbreiteten dabei vorsichtigen Optimismus. Die militärischen Ziele der als "Surge" bezeichneten Erhöhung der Truppenstärke und Ausweitung der militärischen Operationen seien "weitgehend" erreicht worden. Die politischen Fortschritte würden jedoch noch zu wünschen übriglassen. Es sei daher "verfrüht", jetzt schon über Zeitpläne für einen Truppenabzug zu diskutieren. Ihr Auftritt war eine grandiose Inszenierung. Kritiker der US-Politik hatten dennoch wenig Mühe, die Aussagen der beiden als Wunschdenken und Propaganda zu entlarven. Auch der US-Rechnungshof hatte kurz zuvor eine äußerst negative Bilanz der Besatzungspolitik gezogen. Die Diskussion drehte sich jedoch vorwiegend um die Frage, inwiefern es den US-Truppen gelungen sei, bzw. in Zukunft gelingen könne, die Gewalt im Irak einzudämmen und für eine stabile Entwicklung zu sorgen - eine Diskussion die den meisten bezogen auf die sowjetischen Truppenpräsenz in Afghanistan vor 20 Jahren reichlich absurd erschienen wäre.

Viel wurde schon über den Krieg und die Besatzung im Irak geschrieben, wenig davon liefere jedoch ein angemessenes Bild der Situation und der Verantwortung der Besatzungsmacht für die fürchterlichen Lebensbedingungen und die allgegenwärtige Gewalt, heißt es auch in der Einleitung zu einem neuen, umfassenden Bericht über den Irak, den das Global Policy Forum (eine internationale NGO mit Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen) mit Unterstützung von dreißig weiteren Friedens- und Menschenrechtsgruppen zusammengestellt hat. Die aktuelle öffentliche Diskussion über den Irak konzentriere sich meist auf Konflikte zwischen irakischen Kräften, den "Bürgerkrieg", ethnische Säuberungen, Terrorbomben und ähnlichem. Die Gewalteskalation werde auf traditionellen religiösen Hass, islamischen Extremismus oder die Einmischung von Nachbarstaaten zurückgeführt - auf alles, nur nicht auf eines, die Besatzung selbst. Obwohl die Besatzung die zentrale politische Realität im Irak ist, verschwänden im westlichen Diskurs ihre beherrschende Rolle wie auch die von Besatzungstruppen ausgeübte Gewalt völlig im Hintergrund. Werde beispielsweise über Gräueltaten von Kräften des irakischen Innenministeriums berichtet, bleibe fast immer unerwähnt, dass gut hundert US-amerikanische "Berater" in diesem Ministerium sitzen und seine Politik maßgeblich bestimmen. Stattdessen erschienen die Besatzungstruppen als Kräfte, die zwischen den Fronten eifrig bemüht sind, dem Land Sicherheit zu bringen.

Der Report "War and Occupation in Iraq" soll helfen, das schräge Bild geradezurücken indem er die unmittelbare Verantwortung der Besatzungsmacht für den Großteil von Gewalt, Korruption und konfessionellen Spannungen herausstreicht.

Dazu gehört der in westlichen Medien nahezu völlig ausgeblendete Krieg gegen die Gegner der Besatzung, der von den Besatzungstruppen mit massiver militärischer Gewalt geführt wird. Hunderte Städte und Dörfer, die als "Hochburgen des Widerstands" galten, wurden angegriffen. Das begleitende massive Bombardement vom Boden und aus der Luft legte dabei ganze Stadtteile in Schutt und Asche. Seit Beginn dieses Jahres wurden die Operationen in und um Bagdad noch ausgeweitet. Den Angriffen gehen meist die vollständige Abriegelung der Städte und die Unterbrechung der Versorgung mit Lebensmitteln, Wasser, Medikamenten voraus. In Tal Afar, westlich von Mossul, wurde mit einem 2,50 Meter hohen und 18 Kilometer langen Wall die gesamte Stadt umschlossen; nur Einwohner mit speziellen ID-Karten durften die wenigen Durchgänge benutzen.

Ein Zweck ist, die Zivilbevölkerung zum Verlassen der Städte zu zwingen und so den Widerstand zu isolieren. Wer bleibt, hat keinerlei Rücksicht mehr zu erwarten, die Gebiete werden zu "Feuer frei"-Zonen, zu denen weder Journalisten noch Hilfskonvois Zugang haben.

Häufig waren Krankenhäuser Angriffsziele. Einige wurden restlos zerstört, andere als Militärbasen missbraucht. In Tal Afar beispielsweise blieb UN-Berichten zufolge das städtische Krankenhaus sechs Monate lang von US-Truppen besetzt. Eine medizinische Versorgung der zahlreichen Verwundeten war in den angegriffenen Städten kaum mehr möglich. Unterbunden wurden auf diese Weise auch die Berichte der Krankenhäuser über die Zahl ziviler Opfer und über Verletzungen, die auf den Einsatz geächteter Waffen, wie Napalm oder Weißem Phosphor, hinweisen.

Immer wieder gab es dem Report zufolge Proteste von Seiten der offiziellen irakischen Regierung gegen das rücksichtslose Vorgehen der Besatzungstruppen - Einfluss auf US-Kommandeure vor Ort hatte dies jedoch nie.

Die von der Armeeführung verordneten Einsatzregeln ("Rules of Engagement") geben der Vermeidung eigener Verluste oberste Priorität und lassen daher den Soldaten weitgehende Freiheiten bei der Anwendung von Gewalt. Im Zweifel bedeutet das: "Erst feuern, dann fragen." Oft führen schon geringfügig falsche Reaktionen irakischer Zivilisten in der Nähe von Militärkonvois, an Checkpoints, bei Razzien zum tödlichen Schußwaffeneinsatz.

Der Bericht spricht auch von zahlreichen willkürlichen Morden durch US-Truppen, die selten öffentlich bekannt werden. Aus Militärakten, die die Washington Post einsehen konnte, geht hervor, dass Tausende Iraker unter fragwürdigen Umständen getötet wurden, die Militärjustiz jedoch nur einen kleinen Teil der Vorfälle untersuchte.

Um eigene Verluste zu minimieren, setzen die Besatzungstruppen in immer stärkerem Maße die Luftwaffe ein. Gemäß Militärangaben, die die Autoren einsehen konnten, stieg die Zahl der Luftangriffe im Jahre 2005 um das fünffache. 2006 waren es bereits 10.500 Einsätze von Kampfflugzeugen zur "Luftunterstützung", fast 30 pro Tag. Bis März 2007 stieg diese Zahl schließlich auf 48 Angriffe pro Tag. Da überrascht es kaum, dass, wie eine letzten Oktober veröffentlichte Studie ergab, bis Juni 2006 etwa 78.000 Iraker Opfer von Luftangriffen wurden.

Eine Quelle der Gewalt sind dem Report zufolge auch die irregulären Kräfte, die mit Unterstützung der Besatzungsmacht aufgebaut wurden. Dazu zählen Zehntausende kurdischer Peshmergas, die weite Teile der an das kurdische Autonomiegebiet angrenzenden Provinzen kontrollieren und US-Truppen im Kampf gegen den Widerstand unterstützen, wie auch Spezialkommandos, die aus Angehörigen von Spezialeinheiten des alten Regimes gebildet wurden. Einige dieser Einheiten operieren offensichtlich als Todesschwadronen. "Washington hat sich eindeutig für einen schmutzigen Krieg entschieden" so die Autoren des Berichts. Teil dieses Krieges sind auch die Milizen verbündeter Parteien, die häufig einen guten Teil der irakischen Polizei und Armee stellen. "Indem sie die Karte der Milizen spielte" habe die Besatzungsmacht "die Gewalt im Land vervielfacht."

Ausführlich widmet sich der Report der willkürlichen Gefangennahme zehntausender Iraker und den Verhältnissen in den Gefängnissen, Lagern und Verhörzentren. Die Zahl dieser Gefangenen hat stark zugenommen. Im März des Jahres waren es nach offiziellen Angaben 18.000 in Lagern der Besatzungstruppen und 20.000 in Haftanstalten der Regierung - insgesamt viermal so viele wie im März 2005 und fast alle ohne förmliche Anklage. Nach UN-Angaben sind unter den Gefangenen auch zahlreiche alte Menschen und 200 Kinder und Jugendliche, die jüngsten von ihnen sind erst zehn. "Kein Iraker ist vor willkürlichem Arrest sicher", so das Fazit der Autoren. UN-Organisationen und Rotes Kreuz haben nur zu den zentralen Gefängnissen Zugang und auch dies nur eingeschränkt. Misshandlungen und Folter gehören nach wie vor zum Alltag.

Weitere Themen des Berichts sind die humanitäre Situation - insbesondere der Zahl von bald einer Million Opfern und vier Millionen Flüchtlingen, die gewaltigen Zerstörungen am kulturellen Erbe des Iraks und der Aufbau riesiger permanenter Militärbasen.

Insgesamt beschreibt der Report eine "Landschaft massiver Gesetzlosigkeit und Gewalt" und fordert folgerichtig den raschen und vollständigen Rückzug aller Besatzungskräfte. Er appelliert zudem an die UNO und die "internationale Gemeinschaft", endlich die "Komplizenschaft des Schweigens zu beenden".



"War and Occupation in Iraq", Global Policy Forum, Juni 2007,
http://www.globalpolicy.org/security/issues/iraq/occupation/re
port/index.htm


Joachim Guilliard ist Verfasser zahlreicher Fachartikel zum Thema Irak und Mitherausgeber bzw. Koautor mehrerer Bücher. Zuletzt erschien "Besatzungsrealität und Gegenkräfte" in N. Brauns/D. Tsalos (Hg.): Naher und mittlerer Osten. Krieg - Besatzung - Widerstand, Pahl-Rugenstein Verlag, 209 Seiten, 16,90 Euro.



E-Mail: joachim (Punkt) guilliard (at) t-online (Punkt) de

Website: www.antikriegsforum-heidelberg.de
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