FF2007-5


 voriger

 nächster

FF2007-5

 Friedensbewegung International

»No Dal Molin!« - Friedlicher Aufstand in Venetien

Timothy Slater

Zwischen Verona und Padua, im Industriekorridor der norditalienischen Tiefebene, liegt Vicenza, eine Stadt mit rund 100.000 Einwohnern. Bis vor kurzem war sie nur als Heimat des neoklassischen Architekten Palladio und als ein Zentrum der Juweliers- und Goldschmiedebranche bekannt. Seit Jahrzehnten gibt es dort auch einen US-Militärstützpunkt, Camp Ederle, und die Stadt galt als besonders amerikafreundlich. Mit einer rechten Mehrheit im Stadtrat und einem Bürgermeister, der ein Schützling Berlusconis ist (der Padrone war sogar sein Trauzeuge), erwartete wohl die Regierung Berlusconi keine großen Schwierigkeiten, als 2003 geheime Verhandlungen über einen sehr großen Ausbau des Stützpunktes begannen.

Die aktuellen Pläne des Pentagon für die in Europa verbleibenden oder neu hinzukommenden Einheiten sehen nämlich keineswegs vor, dass sie alle nach Osten in die billigeren und gefügigeren Länder des »New Europe« verlegt werden sollen. Ein Großteil soll in fünf Hauptstützpunkten, als »mega-bases« bekannt, konzentriert werden: vier in Deutschland und einen in Italien, nämlich Vicenza, wo eine Brigade Luftlandetruppen stationiert werden soll.

Doch selbst bei WählerInnen der Forza Italia und Lega Norde schwindet die Bereitschaft, als Hinterland für den »Bushismo« zu dienen, besonders wenn die Politiker das Volk vor vollendete Tatsachen stellen wollen. Im letzten Jahr hat sich dort massenhafter Widerstand, organisiert von örtlichen Bürgerinitiativen, mit Unterstützung aus dem ganzen Land, entwickelt. Bis 200.000 Leute nehmen an Protestdemonstrationen teil.

Die neue Mitte-Links Regierung unter Romano Prodi hält aber bisher an den Plänen fest, gegen Widerstand in den eigenen Reihen. Als Prodi die Sache zur Vertrauensfrage erklärte, aber ein Senator prinzipienfest blieb, verlor die Regierung kurz ihre knappe Mehrheit.

Jetzt hoffen die Gruppen in Vicenza auf Unterstützung auch aus benachbarten Ländern, und rufen zu einer »Europäischen Mobilisierung« Mitte Dezember auf. Ihr Aufruf lautet:



Von Vicenza nach Europa! 14., 15., 16. Dezember: 3 Tage Europäische Mobilisierung

Seit mehr als einem Jahr kämpfen Männer und Frauen hier in Vicenza gegen den geplanten Bau einer riesigen neuen Militäranlage der Vereinigten Staaten, die wir weder hier, in unserer Stadt, noch anderswo wollen. Dieser Kampf verbindet Menschen unterschiedlicher politischer Einstellungen und verschiedenster kultureller Geprägtheiten, Sichtweisen und Biographien. Der gemeinsame Nenner dieses Kampfes ist die Verteidigung der Umwelt und des kulturellen und sozialen Umfeldes, die unbedingte Kriegsgegnerschaft, die die Ursache für so viele Qualen und Leiden ist, sowie die Forderung nach einer konsequenten Friedenspolitik. Die offizielle Politik hat sich bei der ganzen Angelegenheit auf das allerübelste verhalten: Sie versucht, die Entscheidung der Gesellschaft aufzuzwingen, von der wird aber das Projekt massiv abgelehnt. Sowohl die Mitte-Rechts-Regierung als auch die Mitte-Links-Regierung ist, ohne jeden Unterschied, über die Köpfe der Menschen hinweggetrampelt.

Die Verteidigung des Öffentlichen, der Werte der Umwelt und des kulturellen wie sozialen Umfeldes, ein klares Nein zum Krieg und neue Formen von Demokratie und aktiver Beteiligung an der Entscheidungsfindung, sowie die totale Unabhängigkeit von der institutionalisierten Politik: das sind für uns vom Presidio Permanente contro il Dal Molin (Permanentes Plenum gegen den Militärstützpunkt Dal Molin) die Grundforderungen, nach denen sich unser Kampf ausrichtet. Zusammen mit vielen anderen Männern und Frauen aus ganz Italien haben wir eine beachtliche Demonstration auf die Beine gestellt, an der sich mehr als hunderttausend beteiligten. Der Kampf ging zunächst von den Stadtvierteln aus, wo wir noch schwach waren und wenig Ressourcen hatten, aber dann ist es uns gelungen, die Auseinandersetzung zu einer landesweiten zu machen.

Es ist eine politische und kulturelle Großveranstaltung zu Ende gegangen, an der mindestens 30.000 Menschen teilgenommen haben und mit der eine neue Etappe gegen das Kriegsprojekt eingeleitet wurde.

Wir meinen aber, dass wir darüber noch hinausgehen müssen und dass der Kampf innerhalb dieser relativ engen Grenzen keineswegs ausreicht. Im Laufe der Mobilisierung haben wir Kräfte aus ganz Europa kennengelernt, die vieles mit uns gemeinsam haben. Wir sind auf unterschiedliche Formen von Widerstand gestoßen, die sich dem Kampf um die Bewahrung kollektiver und öffentlicher Werte und regionaler Spezifika sowie der natürlichen Ressourcen gewidmet haben. Darunter fanden sich Aktionskomitees, Vereine, Bewegungen, die wie wir den Bau neuer militärischer Einrichtungen im Dienste des Dauerkrieges sowie die wahnwitzige Rüstungsspirale verhindern wollen, und wie diese Kräfte machen auch wir immer genau die gleiche Erfahrung, dass nämlich bei den politischen Entscheidungen sich ein absolutes Defizit an Demokratie geltend macht. Wenn wir uns alle diese Geschichten anhörten, da glich praktisch ein Bericht dem andern: Das gilt für das Projekt No Mose in Venedig, den Kampf gegen den Hochgeschwindigkeitszug im Val di Susa, gilt für Neapel und dessen Kampf gegen die Müllverbrennungsanlage, betrifft Cameri, wo die F-35 montiert werden, das geht über die Tschechische Republik bis nach Deutschland, von Holland nach Heathrow, Warschau, London. Überall stößt man an die Macht, die sich immer mehr von den Bedürfnissen und Interessen der Bürger entfernt und Entscheidungen diktiert, die von niemandem geteilt werden.

Jetzt wollen wir über die bisherige Ebene hinausgehen! Wir sind davon überzeugt, dass es möglich ist, einen gemeinsamen Aktionsraum für alle Bewegungen zu schaffen, die, in all der jeweiligen Unterschiedlichkeit und Besonderheit, reelle Demokratie voranbringen. Wir wollen aber keine abstrakte zusammenfassende Formel und keine große Vereinfachung, wir wollen keine europäische Bewegung schaffen, in der spezifischen Charakeristika einer jeden Gruppierung untergehen. Wir wollen uns vielmehr dazu Überlegungen machen, wie ein Netzwerk aufgebaut werden kann, in dem gerade der Reichtum all dieser Initiativen zur Geltung kommen kann. Wir haben unsere Politik darauf ausgerichtet, die Mitwirkung Anderer kontinuierlich zu erweitern, wir versuchen einzubeziehen und dafür den organisatorischen Raum zu schaffen. Wir sind davon überzeugt, dass Europa heute zu einem konkreten gemeinsamen Aktionsraum, einer reellen Bezugskategorie für die Bewegungen in all ihrer jeweiligen Autonomie werden kann.

Auf dieser Ebene können konkrete Resultate erzielt und dabei die Kräfte der einzelnen Initiativen konkret eingeschätzt werden. Das Presidio Permanente contro il Dal Molin hat daher für den 14., 15. und 16. Dezember eine gesamteuropäische Veranstaltung in Vicenza anberaumt und am 15. Dezember eine große gesamteuropäische Kundgebung gegen das Projekt Dal Molin.

All diese komplexen Fragestellungen wollen wir in diesen Tagen miteinander konfrontieren, und alle Themen wie der Kampf gegen Fremdbestimmung des sozialen und politischen Umfelds und der öffentlichen Einrichtungen werden zur Sprache kommen. Wir werden uns überlegen, welche neue Formen von selbstbestimmter Beteiligung an der Entscheidungsfindung heute angesichts der Krise der repräsentativen Demokratie, die sich immer mehr auf sich selbst bezieht und den Bedürfnissen und der realen Welt der BürgerInnen entfremdet, angemessen scheinen. Wir schlagen daher für Ende Oktober eine erste Vorbereitungssitzung vor, auf der, in Zusammenarbeit mit anderen europäischen Kräften, der Dezembertermin vorbereitet werden soll.

Presidio Permanente, 20. September 2007

Presidio Permanente contro la costruzione della nuova base Usa a Vicenza, Via Ponte Marchese, c.p. 303 36100 Vicenza.

Webauftritte:
http://www.nodalmolin.it, http://www.altravicenza.it, http://www.comitatovicenzaest.splinder.com (Italienisch). http://www.peaceandjustice.it/vicenza/ (Englisch).

Kontaktadressen:
comunicazione@nodalmolin.it (Italienisch oder Englisch). info@peaceandjustice.it (Englisch oder Italienisch).

Tim Slater ist Übersetzer und Dolmetscher und lebt seit langem in Deutschland. Er hält den Spruch von Willy Brandt "Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts" für die Grundlage jeder realistische Politik.



E-Mail: translater (at) compuserve (Punkt) com
 voriger

 nächster




       


Bereich:

FriedensForum
Die anderen Bereiche der Netzwerk-Website
        
Netzwerk  Themen   Termine   AktuellesHome