FF6/08 TKDV-Prozess Zittau



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Totalverweigerung: StA und Landgericht verhindern Korrektur offener Rechtsbrüche

TV vor Gericht: "Eine Krähe..."

Jörg Eichler

Der Totalverweigerer Andreas Reuter aus Zittau war im Dezember 2007 unter massiven Verfahrensverstößen am Amtsgericht (vgl. FriedensForum 1/2008, S. 18) zu einer zweimonatigen Bewährungsstrafe verurteilt worden. An einer Korrektur zeigte die sächsische Justiz jedoch keinerlei Interesse: sämtliche Versuche der Verteidigung, die Vorgänge durch das Oberlandesgericht überprüfen zu lassen, wurden durch Staatsanwaltschaft, Justizministerium und Landgericht Görlitz vereitelt. Das mittlerweile abgeschlossene Verfahren ist damit ein weiteres Beispiel für eine ungebrochene deutsche Tradition der Justiz im Umgang mit Pazifisten, die nach wie vor dem Leitgedanken "Härte zeigen gegen Staatsfeinde" zu folgen bereit ist.



Zur Erinnerung: Das Strafverfahren gegen den Totalverweigerer Andreas Reuter am Amtsgericht (AG) Zittau war gekennzeichnet durch massive Verstöße des zuständigen Vorsitzenden gegen elementare Rechte des Beschuldigten, u.a. in Form unzulässiger Beschränkung der Verteidigung und Beschneidung des Akteneinsichtrechts. Vollends zur Farce geriet das Verfahren schließlich, als der Amtsrichter in der - unter massivem Polizeischutz stattfindenden - Hauptverhandlung im Dezember 2007 die offenbar zu unbequem gewordenen Verteidiger plötzlich komplett aus dem Verfahren entfernte und den auf diese Weise praktisch rechtlos gestellten Angeklagten innerhalb weniger Minuten verurteilte.

Gegen diese Entscheidung hatte der Angeklagte das Rechtsmittel der Revision eingelegt mit dem Ziel, die skandalösen Vorgänge am Amtsgericht durch das Oberlandesgericht Dresden überprüfen zu lassen. Auf über 60 Seiten des Revisionsschriftsatzes waren die mehrfach dokumentierte Befangenheit des Amtsrichters, die massive Beschränkung der Verteidigung bis hin zu deren vollständiger Ausschaltung, die Verletzung des rechtlichen Gehörs und Verstöße gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens sowie die gerichtliche Fürsorgepflicht gerügt worden.



StA "schützt" Amtsrichter mit Sperrberufung

Dies rief nun jedoch die - bis dahin - in dem Verfahren rechtsstaatlich korrekt agierende Staatsanwaltschaft (StA) Zittau auf den Plan, um dem so in Bedrängnis geratenen Kollegen beizuspringen: obwohl die StA in der Hauptverhandlung selbst lediglich eine Bewährungsstrafe von drei Monaten beantragt hatte, focht sie das Urteil des AG mit der Berufung an, offiziell mit dem Ziel einer schärferen Bestrafung. Zur Begründung wurde angegeben, der "bisherige Prozessverlauf und das Verhalten des Angeklagten vor Gericht (z.B. seine Weigerung, sich bei Urteilsverkündung zu erheben)" zeige, dass es sich "hier nicht um einen `normalen` Totalverweigerer und seine Gewissensentscheidung" handele - wer sich nun fragt, was Andreas Reuter von einem "normalen" Totalverweigerer unterscheidet, wird sogleich ins Bild gesetzt: Vielmehr lasse, so die StA weiter, "der Angeklagte zu, dass der Prozess dazu benutzt wird, um die vermeintliche Unfähigkeit und Willkür des erkennenden Gerichts zu demonstrieren". Dies möchte die StA "als Hintergrund und Nachtatverhalten" verstanden wissen, welches zu einer höheren Strafe hätte führen müssen.

Tatsächlich ging es der StA bei ihrer Rechtsmitteleinlegung jedoch ganz offensichtlich nur um die Verhinderung der Revision des Angeklagten und der damit begehrten Überprüfung der unhaltbaren Verfahrensweise des AG. Denn in einer solchen Konstellation - Aufeinandertreffen von Berufung und Revision - wird letztere ebenfalls als Berufung behandelt. Diese jedoch bewirkt (im Gegensatz zur Revision) lediglich eine Neuverhandlung vor dem Landgericht, eine Auseinandersetzung mit der Vorgehensweise der Vorinstanz findet hier nicht statt, also auch keine Beurteilung über erhobene Verfahrensrügen. Unter den gegebenen Umständen stellte sich die Berufung der StA lediglich als "taktisches" Rechtsmittel zur Revisionsverhinderung - sog. "Sperrberufung" - und klaren Missbrauch der Rechtsmittelbefugnis dar, weshalb die StA zu deren Rücknahme aufgefordert wurde.

War dies zunächst lediglich begründete Vermutung, sollte sich hier bald Gewissheit einstellen: In einer Stellungnahme ließ der Leitende Oberstaatsanwalt wissen, dass "in einer derartigen Fallgestaltung eine Berufung der Staatsanwaltschaft auch den Zweck haben könne, den Amtsrichter zu schützen". Die Generalstaatsanwaltschaft und das sächsische Justizministerium sahen ebenfalls keinen Handlungsbedarf. Schließlich wurde das für die Berufung zuständige Landgericht mit der Sache befasst: Die Verteidigung beantragte, das Rechtsmittel der StA als unzulässig zu verwerfen und damit den Weg frei zu machen für eine Entscheidung des OLG über die Revision des Angeklagten.



Landgericht will kein "juristisches Neuland betreten"

Das Landgericht (LG) Görlitz hatte inzwischen auf eine gegen den Entzug der Zulassung erhobene Beschwerde hin den Verteidigern diese wieder erteilt. In der Verhandlung am 02.09.08 weigerte sich das LG jedoch ebenfalls, die Berufung der StA aus dem Rennen zu nehmen. Mit dem Ergebnis - Verurteilung zu 60 Tagessätzen Geldstrafe und Verwerfung der Berufung der StA lediglich als unbegründet - ging die Rechnung der StA letztlich auf, und dies, obwohl die StA jeden letzten Zweifel an dem Vorwurf der "Sperrberufung" ausräumte: Von ihrem offiziellen Ziel einer Strafschärfung, an dem sie über Monate hinweg geradezu hartnäckig festgehalten hatte, rückte die StA in der Berufungshauptverhandlung ohne jede Begründung plötzlich ab, und beantragte selbst eine mildere Bestrafung in Form der Geldstrafe. Das LG weigerte sich trotz derart klarer Tatsachenlage, der Berufung der StA die Zulässigkeit abzusprechen. Kernsatz der (mdl.) Begründung: Da eine auf diese Konstellation exakt passende Referenzentscheidung nicht existiere, hätte "das Gericht juristisches Neuland betreten müssen, und das wollten wir nicht ..."



Die "absonderliche Gedankenwelt" von Pazifisten

Interessant ist, wie das Gericht glaubt, gegenüber dem Verurteilten seiner vermeintlich moralischen Überlegenheit freien Lauf lassen zu müssen. In der schriftlichen Urteilsbegründung wird unmissverständlicher Klartext gesprochen, was das Gericht von dem Angeklagten hält: Das Gericht hält es für "verwunderlich, dass der Angeklagte meint, sein Gewissen verbiete es, verwundete Soldaten zu pflegen. Offenbar kann er es aber unschwer mit seinem Gewissen vereinbaren, durch eine unterlassene Behandlung diese Soldaten erheblichen Gefahren auszusetzen" (sic!). Die Ausführungen des Angeklagten zum Wesen des Ersatzdienstes bezeichnet das Gericht als "gedanklich nicht nachvollziehbar", der Angeklagten sei "ein von seiner Mission beseelter Überzeugungstäter". Schließlich: "Das Gericht verkennt nicht, dass derartige Totalverweigerer durchaus negative gesellschaftliche Folgen zu verantworten haben, denn im vorliegenden Fall müssen die Kinder aus dem Heim auf eine Betreuungsperson verzichten. Letztlich ist der Angeklagte aber trotz seiner absonderlichen Gedankenwelt ein eher harmloser Täter, der (...) noch erhebliche Reifedefizite hat."

Konsequente Kriegsgegner als weltfremde Spinner hinzustellen oder sie gar für geistig abnorm zu erklären, ist keine Erfindung des LG Görlitz. Auch das ist eine lange und gut gepflegte Tradition der Justiz, des Militärs und reaktionärer Kräfte in Deutschland gegenüber Antimilitaristen und Kriegsgegnern.

Das Verfahren hat damit seinen Abschluss gefunden. Was bleibt, ist eine klare Niederlage für den Rechtsstaat. Erschreckend ist natürlich bereits, dass ein Richter am Amtsgericht sich so wenig an Recht und Gesetz gebunden fühlt, dass er meint, derart willkürlich agieren zu dürfen. Fast schwerer noch aber wiegt die Tatsache, dass es in der sächsischen Justiz offenbar niemanden gibt, der sich dazu berufen fühlt, ihm bei diesem Tun in den Arm zu fallen.

Mehr Information im Internet: http://tkdv-zittau.blogspot.com



E-Mail: joerg (Punkt) eichler (at) so36 (Punkt) net
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