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 Kolonien im 21. Jahrhundert

Kolonien im 21. Jahrhundert?

Christine Schweitzer

Der Kolonialismus gilt als eine historische Periode, die im 19. Jahrhundert mit der Inbesitznahme weiter Teile Afrikas und Asiens durch eine Reihe europäischer Länder (darunter auch Deutschland, das seine Kolonien allerdings schon als Folge des 1. Weltkriegs verlor) begann und mit der Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien nach dem 2. Weltkrieg ihr Ende fand.

Die Vereinten Nationen haben eine entscheidende Rolle beim Prozess der Entkolonialisierung gespielt. 1994 wurde der Prozess mit der Unabhängigkeit von Palau als beendet angesehen und die Arbeit des Trusteeship Councils, eines Organs der VN, das die Entkolonialisierung begleitete, eingestellt.

Doch die frühen neunziger Jahre sahen auch die Geburt eines neuen Instrumentes der Vereinten Nationen, das Instrument der VN-Übergangsverwaltungen. Erstmalig wurde eine solche Übergangsverwaltung in Kambodscha eingerichtet, nachdem Vietnam dort einmarschiert und die Roten Khmer gestürzt hatte. Die UN Transitional Authority in Cambodia (UNTAC) übernahm 1992-93 für 18 Monate die Regierung in dem Land und zog sich nach der Durchführung erster freier Wahlen zurück. Auch wenn UNTAC mit vielen Problemen behaftet war und die Gewalt in dem Land zwar zurückging, aber nicht ganz beendet werden konnte, stellte sie dennoch ein Modell dar, dass in einer Reihe weiterer solcher Übergangsverwaltungen weiterentwickelt wurde: Das zu Kroatien gehörige Ostslawonien 1997-1998 (UNTAES), Osttimor nach dem Referendum, das über die Unabhängigkeit von Indonesien entschied 1999-2002 (UNTAET) und Kosovo seit 1999 (UNMIK) gehören dazu.

Dazu haben sich andere Fälle gesellt, die ebenfalls dadurch gekennzeichnet sind, dass die Souveränität von Ländern aufgehoben und durch internationale Herrschaft ersetzt wurde. In Bosnien-Herzegowina ist es das Büro des Hohen Repräsentanten, der mit dem Daytoner Friedensvertrag von einer breiten Koalition von Staaten und internationalen Organisationen eingesetzt wurde. In Afghanistan und Irak wurde von den Siegermächten, die die vor dem Krieg herrschenden Regierungen stürzten, sehr schnell jeweils eine neue nationale Übergangsregierung - mit formaler Souveränität ausgestattet - eingesetzt, ohne dass ein Großteil der wirklichen Macht aus den Händen der militärischen Besatzung gegeben wurde, deren Präsenz nur jeweils durch eine Einladung der neuen Regierung und einen entsprechenden UN-Sicherheitsratsbeschluss legitimiert wurde. Und daneben gibt es auch noch einige, wenngleich kleine Territorien, die nie entkolonialisiert wurden.



Die Instrumente der "Staatsbildung"

Das Stichwort, unter dem die verschiedenen Instrumente und Ansätze der internationalen Intervention zusammengefasst werden, heißt Staatsbildung (state-building). Es gibt dazu inzwischen eine Bücherregale füllende Diskussion, zu denen universitäre Politikwissenschaften wie eine Reihe von Forschungsinstituten, die angewandte Politikberatung betreiben (z. B. das US Institute of Peace oder die Carnegie Foundation) gleichermaßen beitragen. Staatsbildung beschränkt sich natürlich nicht nur auf die in diesem Schwerpunkt interessierenden Fälle, in denen internationale Organisationen oder Einzelstaaten die de-facto Kontrolle über ein Land ergriffen haben. Förderung von Staatsbildung findet auch in vielen anderen Ländern statt, nur dass sie Internationalen dann weniger Möglichkeiten haben, ihre Vorstellungen zwangsweise durchzusetzen und mehr auf die Kooperation der nationalen Regierung angewiesen sind.

Als Kernziele der Staatsbildung werden i. d. R. die folgenden drei ausgemacht, wobei die nachfolgenden Beiträge in diesem Schwerpunkt ausreichend die Probleme, die mit diesen Zielen verbunden sind dokumentieren werden:



1."Sicherheit herstellen": Die Stärkung, Reform oder Schaffung von Institutionen, die Recht, Ordnung und Sicherheit sicherstellen (Reform des Sicherheitssektors). Dazu gehören die Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration von Kombattanten, das Justizwesen mit einer funktionierenden und nach rechtsstaatlichen Prinzipien operierenden Polizei, unabhängigen Gerichten und Anwaltschaft und humanem Strafvollzug, funktionierende Zoll- Grenzkontrolldienste, Militär und Geheimdienste sowie jene Institutionen, die für die Beaufsichtigung dieser genannten Strukturen zuständig sind. Die Reform des Sicherheitssektors hat in der Literatur besondere Aufmerksamkeit gefunden.



2."Herrschaft legitimieren": Hier geht es um jene Institutionen und Verfahren der Entscheidungsfindung, die das Regierungssystem des Landes legitimieren. Im Einzelnen gehören dazu die Verfasstheit von Regierung und Parlament, deren Wahl nach demokratischen Prinzipien, ein Verfassungsprozess, eine klare Trennung von Staat und Parteien, Beschlussfassung zu Gesetzen in öffentlichen Verfahren und die Förderung von Zivilgesellschaft als einem Gegengewicht zum Staat. Die Unterstützung von (als demokratisch angesehenen) Parteien, die Organisation und Beobachtung von Wahlen, die Förderung von NROs und unabhängigen Medien sind einige der konkreten Maßnahmen in dieser Kernaufgabe.


Auch der Bereich dessen, was in der Fachsprache der Konfliktbearbeitung als "Transitional Justice" (Übergangsjustiz) bezeichnet wird, gehört hier dazu. Dabei geht es um die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen usw. des früheren Regimes; Instrumente sind der Internationale Strafgerichtshof ebenso wie Wahrheitskommissionen oder die Nutzung traditioneller Verfahren der Wiedergutmachung.



3."Wohlfahrt garantieren": Hierzu gehören u. a. die Fundamente für wirtschaftliche Erholung (Steueraufkommen), Förderung von freier Marktwirtschaft, Schaffung einer stabilen Umgebung für Investitionen und Herstellung der Fähigkeit des Staates, seine Bevölkerung mit Kerndiensten (Schulwesen, Sozialhilfe usw.) zu versorgen.


Carothers (Thomas Carothers, Aiding Democracy Abroad. The Learning Curve. Washington: Carnegie Endowment for International Peace 1999) spricht von einer "Demokratie-Schablone" mit drei Kategorien: Wahlen, Schaffung / Reform staatlicher Institutionen und Förderung der Zivilgesellschaft. Seit seiner kritischen Untersuchung, die sich mit der Demokratieförderung durch die USA befasste, hat sich die Diskussion - ohne dass sich an den Kernaufgaben als solche viel geändert hätte - vor allem mit der Frage der Reihenfolge und Priorisierung der einzelnen Bereiche befasst. Schneckener (Ulrich Schneckener, `Addressing fragile statehod: dilemmas and strategies of international statebuilding`. In: Strategies for Peace. Contributions of International Organizations, States and Non-State Actors. Hrsg. Rittberger, Volker und Fischer, Martina. Opladen & Farmington Hills:Barbara Budrich Publishers 2008: 193-219) unterscheidet vier Strategien, die alternativ verfolgt werden:



1.Liberalisierung zuerst (Demokratisierung und freie Märkte). Dabei wird die Theorie des demokratischen Friedens (nämlich dass demokratische Länder gegeneinander keinen Krieg führen) zur Grundlage gelegt. Diese Strategie wurde besonders von der Bush-Administration nach dem 11.9. 2001 verfolgt.



2.Sicherheit zuerst: Demobilisierung, Sicherheitssektor-Reform, Training von Militär und Polizei, Gerichswesen, Umwandlung von Kriegs- in Friedenswirtschaften, Kriminalitätsbekämpfung. Diese Strategie wird besonders von Großbritannien und teilweise von den Vereinten Nationen in ihren Peacekeeping-Einsätzen verfolgt.



3.Institutionalisierung zuerst: Stärkung legitimer und effektiver Strukturen auf nationaler wie auf lokaler Ebene, so dass diese essentielle Dienste versehen können. Diese Strategie wurde zum Teil entwickelt aus dem Versagen der "Liberalisierung-zuerst`- Strategie.



4.Zivilgesellschaft zuerst: Förderung von Parteien, Nichtregierungsorganisationen im weitesten Sinne und unabhängigen Medien.




Förderung von Frieden und Demokratie oder Neokolonialismus?

Staatsbildung ist kein neutrales, uneigennütziges Programm. Die externen Staatsbilder propagieren allgemein das Modell des westlichen, demokratischen Staates mit einer freien Marktwirtschaft, wobei die internationalen Interventen oftmals genauso viele wenn nicht mehr Vorteile von den Reformen genießen als die einheimische Gesellschaft. Doch selbst, wo solche Vorteile, die zumeist in dem freien Zugang zu Rohstoffen und Märkten bestehen, nicht als das Hauptmotiv ausgemacht werden können, stellt sich die Frage der Legitimation solcher Politik. Was ist letztendlich der Unterschied zum überwunden geglaubten Kolonialismus? Auch er diente der Ausbeutung der Zielländer und propagierte gleichzeitig die angebliche moralische Überlegenheit der christlich-westlichen Welt. Hieß der Schlüsselbegriff früher "Zivilisation", sind es heute "Demokratie", "Frieden" und "Menschenrechte". Diese Kritik darf natürlich nicht bedeuten, dass die Alternative in einer absoluten Nichteinmischung in innere Angelegenheiten, wie sie gerade von Diktaturen gerne gefordert wird, besteht. Zumindest in den Augen der Autorin hier ist die entscheidende Frage die der Kontrolle über Reformprozesse durch lokale Akteure. Es gibt heute in allen Ländern der Welt zivilgesellschaftliche Gruppen, die für Menschen- und Freiheitsrechte eintreten, und dafür oftmals politischer Verfolgung ausgesetzt sind. Die entscheidende Frage ist die, wer die Reformagenda bestimmt: Westliche Staaten oder Nichtregierungsorganisationen mit ihren Vorstellungen davon, wie eine Demokratie auszusehen hat, oder die einheimischen Gruppen und Parteien?





Für die Redaktion: Christine Schweitzer

E-Mail: CschweitzerFF (at) aol (Punkt) com
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