FF2011-2


 voriger

 nächster

FF2011-2

 Hintergrund

Die Macht gewaltfreier Aktion in Nordafrika und dem Nahen und Mittleren Osten

Stephen Zunes

Die unbewaffneten Aufstände, die das Ben Ali-Regime in Tunesien und das Mubarak-Regime in Ägypten stürzten, sowie die andauernden pro-demokratischen Proteste in anderen Ländern der Region haben die Perspektive, unter der Viele im Westen auf mögliche Demokratisierung in Nordafrika und dem Nahen Osten schauen, dramatisch verändert.

Während es unzweifelhaft weiterer öffentlicher Auseinandersetzung in Ägypten und Tunesien bedarf, um sicherzustellen, dass der Sturz der langwährenden Diktaturen zu wirklicher Demokratie führt, ist er doch auf jeden Fall ein großer Triumph für das ägyptische und das tunesische Volk, und ein weiteres Beispiel für die Macht gewaltfreier Aktion. Ägypten und Tunesien sind die neuesten in einer Reihe von so unterschiedlichen Ländern wie die Philippinen, Polen, Chile, die Tschechoslowakei, Nepal, Serbien, Bolivien, Ostdeutschland, Indonesien und andere, deren autoritäre Regimes als Ergebnis solcher unbewaffneter ziviler Aufstände durch demokratische Regierungen ersetzt wurden. Während viele BeobachterInnen anerkannt haben, wie unbewaffnete Pro-Demokratie-Bewegungen dazu beigetragen haben, Demokratie nach Osteuropa, Lateinamerika und Teile Asiens und Afrikas zu bringen, verwarfen sie lange die Chancen solcher Bewegungen in dieser Region.

In Wirklichkeit gibt es eine lange Geschichte gewaltloser pro-demokratischer Kämpfe in Nordafrika und dem Nahen und Mittleren Osten. Ägypten errang seine Unabhängigkeit von Großbritannien als Resultat einer massiven gewaltfreien Kampagne 1919. Im Sudan wurden 1964 und 1985 Militärdiktaturen durch gewaltfreie Aufstände beseitigt, obwohl die darauf folgenden demokratischen Experimente jedes Mal durch Militärputsche wenige Jahre später beendet wurden. 1991 gelang es einem gewaltfreien Kampf, die Traore-Diktatur in Mali zu stürzen, trotz des Massakers von hunderten friedlicher Protestierer durch die bewaffneten Kräfte. Obwohl es eines der ärmsten Länder der Welt ist, ist Mali seitdem eines der stabilsten und demokratischsten Länder der Region. Der Iran hat eine lange Geschichte solcher Aufstände, die den Tabak-Streik der 1890er Jahre, die Verfassungs-Revolution 1906, den Sturz des Schah 1979 und die erfolglose Grüne Revolution 2009 einschließt. Palästina hat den Generalstreik der 1930er Jahre gesehen, die erste Intifada in den späten 1980ern und jüngere Kampagnen gegen den Mauerbau und die Ausweitung der Siedlungen in der Westbank. Die Zeder-Revolution 2006 im Libanon beendete Jahre der syrischen Herrschaft über das Land. Und es gibt auch eine weiterhin andauernde Kampagne gewaltfreien Widerstandes in der Westsahara gegen die illegale Besetzung durch Marokko.

Das jüngst publizierte Buch Civilian Jihad: Nonviolent Struggle, Democratization and Governance in the Middle East dokumentiert zahlreiche weitere pro-demokratische Bewegungen in der arabischen Welt.



Der Verdienst liegt bei der Bevölkerung

Unglücklicherweise gibt es schon wieder jene, die den Verdienst (oder die Schuld) für die ägyptische Revolution jedem anderen als den wortwörtlich Millionen einfacher Ägypter zusprechen - Männer und Frauen, Christen und Muslime, Jung und Alt, Arbeiter und Intellektuelle, Arme und Mittelschicht, Weltliche und Religiöse - die sich den Knüppeln, dem Tränengas, den Wasserkanonen, Kugeln und paramilitärischen Einheiten aussetzten, um ihre Freiheit zu erkämpfen.

Es war nicht das Militär, das für Mubaraks Sturz verantwortlich war. Während einige Armeeführer verspätet Mubarak am 11. Februar 2011 zur Seite schoben, so geschah dies nur, weil sie erkannten, dass das ägyptische Volk auch sie zur Seite fegen würde, wenn sie anders handelten. Die Weigerung der Armee, nach Vorbild des Tiananmen-Platzes ein Massaker auf dem Tahrir-Platz zu begehen, erfolgte nicht, weil die Generäle auf der Seite des Volkes standen - in der Tat waren sie lange das Fundament von Mubaraks Regime -, sondern weil sie ihren eigenen Soldaten, die in großer Zahl aus den armen und entrechteten Sektoren der Bevölkerung kommen, nicht trauen konnten, Befehle zu befolgen, auf ihre eigenen Leute zu schießen.

Es waren auch nicht die USA, lange Zeit der wichtigste ausländische Unterstützer des Mubarak-Regimes. Die Obama-Administration versteckte sich die meiste Zeit des 18-tägigen Aufstandes und rief anfänglich nur zu Reformen innerhalb des Regimes auf. Obwohl Obama letztendlich einen raschen Übergang zu Demokratie forderte, forderte er nie ausdrücklich Mubarak auf, zurückzutreten. Seine stärksten und eloquentesten Worte in Unterstützung des Pro-Demokratie-Kampfes kamen erst nach Mubaraks Abtritt, was den Eindruck hinterließ, dass sie mehr auf dem Wunsch basierten, nicht auf der falschen Seite der Geschichtsschreibung zu stehen, als auf einem Wunsch, die Rolle eines Katalysators zu spielen.

Einige Angehörige der US-Botschaft hatten sporadische Kontakte mit Pro-Demokratie-AktivistInnen in den letzten Jahren, und durch solche vom Kongress finanzierten Stiftungen wie die National Endowment for Democracy (NED) gab es begrenzte finanzielle Unterstützung für eine Reihe von Organisationen der Zivilgesellschaft. Diese kleine Summe von US "Demokratie Hilfe" an führende Oppositionsgruppen schloss keinerlei Förderung für Trainings in strategischer gewaltfreier Aktion oder anderen Formen der Massenmobilisierung ein, die für den Kampf entscheidend waren. Die Schlüsselgruppen, die die Proteste trugen, lehnten US-Gelder aus Prinzip ab. Und in jedem Fall ist die Summe der US-Mittel für NED und ähnliche Programme in Ägypten vernachlässigbar im Vergleich zu den Milliarden Dollar an militärischer und wirtschaftlicher Hilfe, die an das Mubarak-Regime gingen, und dem engen und regulären Austausch zwischen Vertretern der USA und führenden Politikern und Militärs Ägyptens.

Und auch das Internet war es nicht. Die sozialen Medien haben dabei geholfen, Missbrauch durch das Regime offenzulegen und Zensur vor und während des Aufstandes zu umgehen, und halfen manchmal auch bei der taktischen Koordination der Proteste. Doch ist es wichtig anzumerken, dass weniger als 15% der Bevölkerung Zugang zum Internet hatte (und diese zumeist durch Internetcafés, die unter strenger Polizeiüberwachung standen), und dass während einiger Schlüsseltage zu Beginn des Kampfes das Internet völlig blockiert war. So lässt sich sagen, dass das Internet für den Erfolg des Aufstandes nützlich, aber nicht notwendig war. Die Revolutionen in Osteuropa 1989 und eine Reihe der anderen erfolgreichen zivilen demokratischen Aufstände in Lateinamerika, Südostasien und Afrika fanden ohne Zugang zu Internettechnologie statt. In Mali wurde Information über den pro-demokratischen Kampf gegen das Traore-Regime durch griots verbreitet, die traditionellen singenden Geschichtenerzähler, die von Dorf zu Dorf wandern. Menschen finden immer einen Weg zu kommunizieren, wenn sie es wirklich wollen.

Ebensowenig war die erfolgreiche massenhafte Anwendung gewaltfreier Taktiken, die zum Sturz des Diktators führten, das Ergebnis von Hilfe oder Trainings von Außen. Es gab ein paar Seminare, die von ägyptischen Pro-Demokratie-Gruppen organisiert wurden, und die Veteranen von unbewaffneten Volksaufständen in Serbien, Südafrika, Palästina und anderen Ländern mit einigen westlichen Akademikern, die dieses Phänomen untersucht haben, als Gäste hatten. Doch diese Seminare konzentrierten sich auf allgemeine Information über die Geschichte und die Dynamik strategischer gewaltfreier Aktion, nicht darauf, wie man Mubarak stürzen könne. Noch stellten die ausländischen ReferentInnen oder ihre Organisationen irgendwelches Training, Rat, Geld oder Material für die kleine Zahl an ägyptischen AktivistInnen, die teilnahmen, zur Verfügung. Als einer dieser Referenten kann ich versichern, dass die teilnehmenden ÄgypterInnen schon vorher viel Wissen und strategisches Geschick in Bezug auf ihren Kampf hatten. Keiner von uns Ausländern kann für das, was später geschah, irgendwelchen Verdienst in Anspruch nehmen.

Es ist deshalb wesentlich, besonders für uns in westlichen Ländern, einem arabischen Volk nicht die Fähigkeit abzusprechen, den Mut und das Geschick aufzubringen, seine eigene gewaltfreie Revolution zu erkämpfen.

Mubarak und Ben Ali wurden gestürzt, weil eine Regierung, selbst wenn sie das Monopol auf militärische Gewalt und die Unterstützung der letzten verbliebenen Supermacht hat, dennoch am Ende machtlos ist, wenn das Volk sich weigert, ihre Autorität anzuerkennen. Durch Generalstreiks, Auf-die-Straße-Gehen, massenhafte Weigerung, Anordnungen der Behörden Folge zu leisten, und andere Formen gewaltfreien Widerstands kann selbst das autokratischste Regime besiegt werden.



Sieg der Gewaltfreiheit

In der Tat haben diese demokratischen Revolutionen den beiden Extremen in dem beinahe ein Jahrzehnt währenden Kampf zwischen islamischen Extremisten und US-Imperialisten einen Schlag versetzt. Al-Quaidas erster Angriff gegen US-Interessen fand 1995 als Anschlag auf ein Wohnhaus in Riad statt, das von US-Soldaten genutzt wurde, die die Saudi National Guard trainierten, den Zweig des saudischen Militärs, der vorrangig für interne Repression eingesetzt wird. Osama bin Laden und andere selbsternannte Heilige Krieger haben lange die Position vertreten, dass von den USA gestützte Diktaturen nur durch Terrorismus und Befolgen einer reaktionären und chauvinistischen Form des Islam besiegt werden können. Und amerikanische Neokonservative und ihre Unterstützer vertraten, dass Demokratie nur durch Militärintervention der USA in den Nahen und Mittleren Osten kommen könne - Beispiel ist die US-Invasion und Besatzung des Irak.

Die BürgerInnen Ägyptens und Tunesiens haben auf machtvolle Weise demonstriert, dass beide gewalttätigen militaristischen Ideologien falsch sind.

Diese reiche Geschichte, die sich so dramatisch auf den Straßen Kairos und anderer ägyptischer Städte in den vergangenen Wochen abgespielt hat, demonstriert einen entscheidenden Punkt: Demokratie wird im Nahen Osten nicht durch ausländische Intervention, scheinheilige Statements aus Washington, freiwillige Reformen durch Autokraten oder bewaffneten Kampf einer selbsternannten Elite geschaffen werden. Sie wird nur durch die massive Nichtzusammenarbeit mit illegitimer Autorität und durch die strategische Anwendung gewaltfreier Aktion durch die Völker des Nahen und Mittleren Ostens selbst erreicht werden.



Stephen Zunes ist Professor für Politik und Ordinarius für Studien des Nahen und Mittleren Ostens an der Universität von San Francisco. Er ist Senior Analyst für das Institute for Policy Studies und Vorsitzender eines akademischen Beirats des International Center on Nonviolent Conflict.



Der Beitrag wurde für das Friedensforum verfasst. Übersetzung: Redaktion.
 voriger

 nächster




       


Bereich:

FriedensForum
Die anderen Bereiche der Netzwerk-Website
        
Netzwerk  Themen   Termine   AktuellesHome