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 Der Kaukasus

Krieg oder Normalität in Tschetschenien

Wolfgang Schreiber

Mittlerweile ist die Hamburger Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) das einzige Institut, das die Situation im Nordkaukasus noch als Krieg bezeichnet. Andere Einrichtungen sprechen von "bewaffneten Konflikten" und trennen diese häufig geografisch in die einzelnen nordkaukasischen Republiken der Russischen Föderation auf. Dies führt dazu, dass Tschetschenien fast nicht mehr erwähnt wird, da sich das Zentrum der bewaffneten Auseinandersetzungen seit 2007 in die angrenzenden Regionen Inguschetien und Dagestan verlagert hat. Noch mehr vermeidet die Politik den Begriff des Krieges. Immerhin bezeichnete der russische Präsident Dmitri Medwedew Ende 2009 in einer Ansprache an die Nation die Gewalt im Nordkaukasus als das größte innere Problem Russlands.

Die frühere Sowjetunion verfügte über ein komplexes System territorialer Verwaltungseinheiten. Die Gebiete der obersten Hierarchie erlangten im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion 1991 ihre Unabhängigkeit. Insbesondere in den kaukasischen Nachfolgestaaten wurden aber weitere territoriale Veränderungen angestrebt. In der neuen Russischen Föderation als größter Nachfolgestaat der Sowjetunion waren es vor allem Tschetschenen, die die Selbstständigkeit anstrebten und sich unter dem Namen Republik Itschkeria für unabhängig erklärten. Diese Bestrebungen mündeten in den Ersten Tschetschenienkrieg (1994-96), in dem militärische Niederlagen und hohe Verluste die russische Führung an den Verhandlungstisch zwangen.

Aus den im Januar 1997 abgehaltenen Präsidentschaftswahlen ging der ehemalige Stabschef der tschetschenischen Streitkräfte, Aslan Maschadow, als Sieger hervor, und im Mai desselben Jahres unterschrieben der damalige russische Präsident Boris Jelzin und der tschetschenische Präsident einen Friedensvertrag. Zwar blieb Tschetschenien offiziell Teil der Russischen Föderation, faktisch wurde es jedoch unabhängig. Nach dem Rückzug der russischen Truppen schien sich die Situation zu stabilisieren. Es gelang Maschadow jedoch nur für kurze Zeit, sich die Unterstützung der ehemaligen Feldkommandeure zu sichern. Der Krieg hatte die wirtschaftlichen Grundlagen der Region zerstört, und die vereinbarte Wiederaufbauhilfe aus Moskau blieb fast gänzlich aus, so dass die Clanchefs bald nur noch die Interessen ihrer eigenen Gruppen verfolgten. Viele bedienten sich krimineller Methoden, um das wirtschaftliche Überleben ihrer Clans zu sichern. Dies beinhaltete vor allem Schmuggel, die illegale Raffination von Erdöl und teilweise auch die Entführung ausländischer Arbeiter.

Im Sommer 1999 eskalierte die Situation erneut. Eine Serie von Überfällen auf russische Miliz- und Grenzposten veranlasste das russische Innenministerium, ab Juli 1999 offensiv gegen tschetschenische Kämpfer vorzugehen. Der Konflikt weitete sich aus, als im August 1999 mehrere hundert Separatisten unter der Führung des Feldkommandeurs Schamil Bassajew die benachbarte Republik Dagestan überfielen und eine islamische Republik ausriefen. Mehrere im September 1999 verübte Bombenanschläge auf russische Wohnhäuser im Großraum Moskau, bei denen fast 300 Zivilisten getötet und mehrere hundert verletzt wurden, dienten als weitere Rechtfertigung für einen erneuten Krieg gegen die tschetschenischen Separatisten.

Anders als im Ersten Tschetschenienkrieg gelang es den russischen Truppen vergleichsweise schnell, den Widerstand größerer Rebelleneinheiten zu brechen. Nach der Einnahme der tschetschenischen Hauptstadt Grosny im Februar 2000 zogen sich die Separatisten in die Berge und schlecht zugängliche Dörfer im südlichen Teil der Region zurück und begannen mit einem Guerillakrieg. Darüber hinaus konnte die Zentralregierung in Moskau die Rivalitäten zwischen verschiedenen Clans ausnutzen und einige auf ihre Seite ziehen. Von besonderer Bedeutung waren dabei der Clan von Achmad Kadyrow sowie der der Brüder Ruslan und Sulim Jamadajew. Kadyrow wurde nach der Einnahme Grosnys zunächst Verwaltungschef der Region und 2003 zum Präsidenten Tschetscheniens gewählt. Nach Kadyrows Tod infolge eines Anschlags im Jahr 2004 übernahm Kadyrows Sohn Ramzan nach einer Übergangszeit 2007 das Amt des tschetschenischen Präsidenten. Während Kadyrow die russischen Truppen mit einer eigenen Miliz unterstützte, bildeten Jamadajews Gefolgsleute ein eigenes Bataillon innerhalb der russischen Streitkräfte. Rivalitäten zwischen diesen beiden Clans blieben nicht aus.

Auch die Rebellenseite war weniger geschlossen als noch während des Ersten Tschetschenienkrieges. Bereits die Ausrufung einer islamischen Republik in Dagestan im Jahr 1999 zeigte, dass neben dem tschetschenischen Nationalismus einige Gruppen innerhalb der Rebellenbewegung eher eine auf dem Islam basierende Ideologie verfolgten. Zuletzt offen sichtbar wurde diese Spaltung im Juli 2010. Auch über die Wahl der Mittel bestand keine Einigkeit. Die Gruppe um Bassajew verübte mehrere Anschläge auf zivile Ziele, die viele Todesofer forderten, von der sich andere Rebellen distanzierten. Dazu gehörten insbesondere die Geiselnahmen in einem Moskauer Musicaltheater 2002 und in einer Schule im nordossetischen Beslan 2004.

In den Jahren 2005 und 2006 gelang es den russischen Sicherheitskräften, mehrere Rebellenführer zu töten. Im März 2005 wurde Maschadow getötet. Sein Nachfolger starb im Juni 2006 bei einer Operation der Sicherheitskräfte. Einen Monat später kam mit Bassajew auch der bekannteste Rebellenführer ums Leben. Mit ihrer Strategie, die Führungspersönlichkeiten der Rebellen zu töten, machte die russische Führung unter Präsident Wladimir Putin klar, dass sie eine Lösung des Konfliktes mit militärischen Mitteln anstrebte. Der seit 2006 an der Spitze der Rebellen stehende Doku Umarow bemühte sich vor allem auch um die Stärkung der Bindungen zwischen den verschiedenen islamistischen Rebellengruppen im Nordkaukasus. Die tschetschenisch-nationalistische Konfliktbegründung trat seither zugunsten einer den gesamten Nordkaukasus umfassenden islamistischen Ideologie in den Hintergrund. Diese Entwicklung gipfelte in der Ausrufung eines Kaukasischen Emirats am 30. Oktober 2007.

Unklarheit herrscht über die Stärke der Rebellen. Während Ramzan Kadyrow diese 2007 auf 60 schätzte, sprachen offizielle Zahlen des Innenministeriums von 440 noch aktiven Rebellen. Andere Angaben aus demselben Ministerium schätzten dagegen 700. Die Rebellen selbst gaben die Zahl ihrer Mitglieder mit etwa 1.000 an. Die niedrige Schätzung Kadyrows spiegelt dabei zwei Phänomene wider. Zum einen ist der tschetschenische Präsident bestrebt, zu zeigen, dass er das Rebellenproblem weitgehend in Griff bekommen hat und sich die Situation in Tschetschenien zunehmend normalisiert. Zum anderen bezieht sich diese Zahl wahrscheinlich nur auf Rebellen in Tschetschenien selbst und trägt damit der Tatsache Rechnung, dass der größte Teil der Rebellenaktivitäten mittlerweile in den benachbarten Republiken Inguschetien und Dagestan stattfindet.

Von normalen Zuständen ist Tschetschenien allerdings weit entfernt. Zwar gibt es dort nur noch selten offene Kämpfe zwischen Rebellen und russischen Sicherheitskräften oder der Miliz Kadyrows. Letztere wird aber für eine ganze Reihe von Menschenrechtsverletzungen, vor allem Entführungen und systematische Folterungen, verantwortlich gemacht. Häufige Entführungsopfer sind dabei Angehörige von Rebellen, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten. Zum Aufbau seiner Miliz und seiner Machtposition in Tschetschenien benutzte Kadyrow Wiederaufbaugelder und direkte Finanzhilfen aus Moskau. In seiner eingangs zitierten Rede benannte der amtierende russische Präsident Medwedew auch offen die beispiellose Korruption in der Region.

Als eines der prominentesten Opfer wurde eine Mitarbeiterin der russischen Menschen- und Bürgerrechtsorganisation Memorial ermordet. Natalia Estemirowa wurde am 15. Juli 2009 in Grosny entführt und ihre Leiche noch am selben Tag in Inguschetien gefunden. Memorial stellte daraufhin die Arbeit in der Region aus Sicherheitsgründen vorübergehend ein. Trotz der Wiederaufnahme dieser Tätigkeit bleibt die Arbeit von Menschenrechtsgruppen in Tschetschenien alles andere als einfach. Ramzan Kadyrow bezeichnete in einem Fernsehinterview im Juli 2010 Menschenrechtaktivisten als "Feinde des Staates, Feinde des Volkes, Feinde des Gesetzes".

Gegner und Rivalen Kadyrows kamen auch weit von Tschetschenien entfernt unter bislang ungeklärten Umständen ums Leben. Für diplomatische Verwicklungen sorgte die Ermordung des früheren Rebellen Umar Israilow im Januar 2008 in Wien, der Kadyrow der Folter beschuldigt hatte. Ruslan Jamadajew wurde Ende September desselben Jahres in Moskau auf offener Straße erschossen. Sein nach Dubai geflohener Bruder Sulim wurde dort Ende März 2009 ermordet.

Gewaltaktionen im Zusammenhang mit den Rebellen finden zwar vor allem in Inguschetien und Dagestan statt. Allerdings zeigte ein Selbstmordattentat auf das Parlamentsgebäude in Grosny im Oktober 2010, dass die Lage in Tschetschenien längst nicht sicher ist. Auch außerhalb der Region waren die Rebellen mit Anschlägen aktiv. Im März 2010 wurde die Moskauer Metro Ziel von zwei Anschlägen mit rund 40 Todesopfern. Etwa ebensoviele Menschen starben bei einem Anschlag auf den Moskauer Flughafen im Januar 2011.



Literatur:

Boks, Paula: Russland (Tschetschenien), in Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF): Das Kriegsgeschehen 2010. Daten und Tendenzen der Kriege und bewaffneten Konflikte, hrsg. v. W. Schreiber, Wiesbaden (i.V.)

German, Tracey: Russia`s Chechen War, London u.a. 2003

Hassel, Florian: Der Krieg im Schatten. Rußland und Tschetschenien, Frankfurt am Main 2003

Leitner, Georg: Eine "Normalisierung" der Lage in Tschetschenien? Die Entstehung einer Bürgerkriegsökonomie, die Transformation von Gewalt und Zusammenhänge von Armut und Krieg im Tschetschenienkonflikt, in: ÖSFK et al (Hrsg.): Krieg und Armut (SAFRAN 05):
http://www.aspr.ac.at/sak2008/safran05.pdf

Tishkov, Valery: Chechnya. Life in a War-Torn Society, Berkeley et al. 2004



Informationsquellen:

Amnesty International:
http:///www.amnesty.org

Human Rights Watch:
http://www.hrw.org

Institute for War and Peace Reporting:
http://iwpr.net

International Crisis Group:
http://www.icg.org

Jamestown Foundation (North Caucasus Analysis):
http://www.jamestown.org/programs/ncw

Memorial:
http://eng.kavkaz-uzel.ru

Radio Free Europe:
http://www.rferl.org/featuresarchive/subregion/northcaucasus.h
tml






Wolfgang Schreiber ist Leiter der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) am Institut für Politikwissenschaft der Universität Hamburg (http://www.akuf.de)

E-Mail: wolfgang (Punkt) schreiber (at) wosch (Punkt) de

Website: www.akuf.de
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