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 Der Kaukasus

Karabach-Konflikt:

Zeitfenster für nachhaltigen Friedensschluss immer enger

Bernhard Clasen

17 Jahre nach dem Ende des Karabach-Krieges droht ein neuer Krieg. Armeniens Präsident Sersch Sargsjan und Aserbaidschans Präsident Ilcham Aliew übertreffen sich in den letzten beiden Jahren geradezu an kriegslüsterner Rhetorik. Mehrfach hatte Aliew gedroht, man könne Nagornij Karabach jederzeit militärisch zurückholen, wenn die Verhandlungen scheiterten. Und Sargsjan hatte Aliew wissen lassen, dass man bei einer weiteren militärischen Auseinandersetzung weiter gehen werde als beim letzten Krieg und dann "das Problem ein für alle mal lösen werde".

Der Karabach-Krieg war der erste Krieg in der zusammenbrechenden Sowjetunion. Nach pogromartigen Kämpfen 1988 und 1989 zwischen Armeniern und Aserbaidschanern war die Situation nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eskaliert. 1991 rief das mehrheitlich von Armeniern bewohnte Nagornij Karabach die Unabhängigkeit aus. In der Folge bekämpften sich armenische und aserbaidschanische Einheiten mit den Waffen der bis zur Unabhängigkeit im Land stationierten sowjetischen Truppen. 25.000 - 30.000 Menschen verloren ihr Leben. Zwar wurde 1994 ein Waffenstillstand geschlossen, aber der Hass ist auch heute so groß wie 1988. Und auch die Voraussetzungen, unter denen sich 1988 die Gewalt entwickelte, unterscheiden sich nicht wesentlich von den heutigen Bedingungen. Für die aserbaidschanische Seite wird es niemals ein unabhängiges Nagornij Karabach geben, die Armenier akzeptieren nur Lösungen, die die Unabhängigkeit Nagornij Karabachs garantieren.

Seit dem Amtsantritt von Präsident Ilcham Aliew hat sich der Rüstungshaushalt Aserbaidschans verzwanzigfacht. Dieses Jahr plant das Land einen Rüstungshaushalt von 3,1 Milliarden US-Dollar, bei einem Gesamthaushalt von 15,9 Milliarden. Dies berichtet die International Crisis Group, ein u.a. von westlichen Regierungen gesponserter Think Tank.

Aserbaidschans Herrscher wissen, dass der derzeitige Wirtschaftsboom nur dem Öl und Gas geschuldet ist. Mit sinkender Förderung wird es deswegen 2014 wirtschaftlich wieder bergab gehen. In der Folge sind soziale Einschnitte zu erwarten, die wiederum die innenpolitische Lage destabilisieren können. Und in so einer Situation käme der Elite, die mit allen Mitteln an der Macht bleiben will, ein äußerer Feind sehr gelegen.

Auch die armenische Seite rüstet auf. Zwar gibt Armenien derzeit nach Angaben der Crisis Group "nur" 600 Millionen US-$ jährlich für Rüstung aus. Das Land kann jedoch Waffen in Russland zu weitaus günstigeren Konditionen kaufen als Aserbaidschan. Und immer wieder hat Russland Armenien Waffen von der russischen Militärbasis im armenischen Gjumri überlassen. 2008 könnten diese Waffen einen Wert von 800 Millionen US-$ gehabt haben, glaubt man in Aserbaidschan.

Regelmäßig kommt es an der Waffenstillstandslinie zu Schusswechseln. Pro Jahr verlieren dabei 30 Soldaten ihr Leben.

Die diplomatischen Bemühungen stagnieren. Die sog. "Minsk-Gruppe" der OSZE, in der Frankreich, die USA und Russland den Vorsitz haben, blieb erfolglos. 2009 und 2010 hatten die Präsidenten von Frankreich, Russland und den USA die Präsidenten Armeniens und Aserbaidschans aufgefordert, eine Vereinbarung auf den Grundlagen des internationalen Rechts, der Satzung der Vereinten Nationen, der Schlussakte von Helsinki und vor allem dem Gewaltverzichtsprinzip zu unterzeichnen. Doch ohne Erfolg.

Auch die direkten Begegnungen zwischen armenischem und aserbaidschanischem Präsidenten bekommen Seltenheitswert. Hatten sich Aliew und Sargsjan 2009 noch sechs mal getroffen, gab es 2010 nur noch drei dieser Treffen.

Die armenische Seite, die um Nagornij Karabach sieben Gebiete besetzt hält, was 16 Prozent des aserbaidschanischen Territoriums entspricht, geht zu einer Sprachregelung über, die diese Besetzungen zu rechtfertigen und dauerhaft zu zementieren scheint. Sprach man früher noch von "Sicherheitszone", ist man nun dazu übergegangen, sie als "befreite Territorien" oder "historisch armenisches Gebiet" zu bezeichnen. Die International Crisis Group vermeldet, dass man auf armenischer Seite inzwischen versuche, diesen Anspruch durch Ausgrabungen armenischer Archäologen zu untermauern. Mehrere aserbaidschanische Ortschaften in den besetzten Gebieten haben inzwischen armenische Namen erhalten. Doch auch die aserbaidschanische Seite schießt weit über das Ziel hinaus. Armenien sei "historisch gesehen aserbaidschanisches Land" wird Aserbaidschans Präsident Aliew zitiert.

Im Sommer 2010 wurde das bisher größte Manöver in der Geschichte Aserbaidschans unter dem persönlichen Oberbefehl des Präsidenten abgehalten, was zur weiteren Nervosität der anderen Seite beitrug.

Trotz aller kriegerischer Rhetorik glaubt aber niemand, dass Aserbaidschan ernstlich einen Krieg plane. Ein Krieg würde Aserbaidschans Ansehen auf der Welt und vor allem den derzeitigen wirtschaftlichen Wohlstand auf das Spiel setzen.

Doch die Führung konnte zur Geisel ihrer eigenen Kriegsrhetorik werden, sich in eine Situation hineinmanövrieren, aus der sie ohne Gesichtsverlust oder Krieg nicht mehr herauskommt.

Es könnte auch aus Zufall zu einem Krieg kommen. Die Schusswechsel an der Demarkationslinie - allein in einer Woche im März hatten die Streitkräfte von Nagornij Karabach 200 Schusswechsel registriert - könnten sich zu regelrechten Gefechten ausweiten. Es könnte auch sein, dass Aserbaidschan in einer bestimmten politischen Konstellation der trügerischen Hoffnung verfällt, mit einem "kleinen Blitzkrieg" ließen sich in sechs Tagen alle Ziele erreichen. Es ist auch nicht auszuschließen, dass sich die armenische Seite in irgendeiner Situation zu einem "Präventivschlag" gezwungen sieht.



Die Folgen eines neuen Krieges

Sollte es wirklich zu einem neuen Krieg kommen, werden Nachbarstaaten und Bündnispartner in den Konflikt hineingezogen. Dies gilt insbesondere für Armeniens Schutzmacht Russland. Wer in das Land einreist, muss seinen Pass nicht armenischen, sondern russischen Grenztruppen vorlegen. Und es sind russische Truppen, die die Grenze zwischen Armenien und der Türkei kontrollieren.

Auch die Türkei wird sich bei einem Krieg gezwungen sehen, dem turksprachigen aserbaidschanischen Brudervolk zur Seite zu stehen.

Ein neuer Karabach-Krieg wird sehr viel blutiger werden als der Karabach-Krieg Anfang der 90er Jahre. Inzwischen verfügen beide Seiten über hochmoderne Waffen, die ganze Städte zerstören können.

Aserbaidschan, das über 10 Prozent seines Stroms mit Wasserkraftwerken speist, wäre bei gezielten Angriffen auf diese Kraftwerke paralysiert. Noch dramatischer wäre es in Armenien. Das Atomkraftwerk Mezamor, das nach jüngsten Angaben des ehemaligen georgischen Präsidenten Eduard Schewardnadse in einem "jämmerlichen Zustand" sei, sorgt nicht nur bereits heute für Irritationen und Angst in Armeniens Nachbarstaaten Georgien und Aserbaidschan. Würde in einer kriegerischen Auseinandersetzung dessen Stromversorgung ausfallen, wäre ein weiteres Fukushima denkbar.

Ein neuer Karabach-Krieg hätte auch negative Folgen für die Energieinteressen von USA und Europäischer Union. Der Südkaukasus ist für die USA und Westeuropa nicht nur wegen des in Aserbaidschan geförderten Öls und Erdgases wichtig. Aserbaidschan und Georgien spielen auch als Transitgebiet für Öl und Gas aus Zentralasien über die Nabucco-Pipeline eine zentrale Rolle. Dieser Umstand dürfte ein Indiz dafür sein, dass USA und EU an einem Karabach-Krieg nicht interessiert sein können.



Autoritäre Regierungen

Weder Armenien noch Aserbaidschan sind Speerspitzen demokratischer Republiken. Erst im April 2011 waren in Aserbaidschan bei einer Demonstration mehrere Oppositionspolitiker verhaftet worden. Aserbaidschans bekanntester politischer Gefangener, der Journalist Ejnulla Fatullajewa, sitzt derzeit eine mehrjährige Haftstrafe ab.

Immer wieder werden ehemalige aserbaidschanische Kriegsgefangene nach ihrer Freilassung aus der Kriegsgefangenschaft in ihrer Heimat wegen Vaterlandsverrates zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt. Zuletzt wurden im September 2009 vier ehemalige Gefangene zu Haftstrafen zwischen 10 und 14 Jahren verurteilt. Der Prozess fand vor einem Militärgericht hinter verschlossenen Türen statt. Warum nur wurden sie von der aserbaidschanischen Militärstaatsanwaltschaft der Spionage beschuldigt? Der Grund kann nur einer sein: man wollte ein Exempel statuieren, um so andere Soldaten davon abzuhalten, sich von der armenischen Seite gefangen nehmen zu lassen.

Auch Armenien ist kein Vorreiter der Demokratie. Bei einer Demonstration der Opposition am 1. März 2008 waren zehn Demonstranten von Sicherheitskräften getötet worden.



Was tun?

Zahlreiche aserbaidschanische und internationale Menschenrechtsorganisationen setzen sich für Journalisten und Oppositionspolitiker ein, die von den Behörden drangsaliert werden.

Doch vielfach scheut man sich, sich für die ehemaligen Kriegsgefangenen einzusetzen, die als "Verräter" gebrandmarkt werden.

Aufgabe der Friedensbewegung sollte es sein, sich gerade für die einzusetzen, die eine Kriegsgefangenschaft dem Heldentod vorgezogen haben.

Je häufiger es an der Demarkationslinie zu Schusswechseln kommt, umso größer ist die Gefahr, dass diese in unkontrollierte Gefechte ausarten könnten, aus denen sich wiederum ein neuer Krieg entwickeln könnte. Ich habe selbst in der Region gesehen, wie effektiv die unbewaffneten OSZE-Beobachter unter Führung des OSZE-Botschafters Kasprzyk arbeiten. Diese OSZE-Mission gilt es mit weiteren Beobachtern aufzustocken.

Angesichts des starken beiderseitigen Misstrauens sind vertrauensbildende Maßnahmen erforderlich. Die Konfliktparteien müssen aufgefordert werden, Schluss zu machen mit ihrer kriegslüsternen Rhetorik. Scharfschützen und schwere Artillerie sind unverzüglich von der Waffenstillstandslinie abzuziehen. Die Armenier von Nagornij Karabach müssen die Ansiedelung der besetzten Gebiete mit Armeniern aus Armenien beenden.

Alle Länder müssen sich an das - juristisch leider nicht bindende - Waffenembargo von UNO und OSZE halten. Das muss insbesondere für Russland gelten, das beide Seiten mit Waffen beliefert.

Wenn die Politik versagt, einen nachhaltigen Frieden zu schließen, müssen Initiativen von "Volksdiplomatie" unterstützt werden. Zahlreiche armenische und aserbaidschanische Nichtregierungsorganisationen pflegen einen regelmäßigen Austausch. Diese Kontakte werden im eigenen Land argwöhnisch beobachtet. "Volksdiplomatie" muss als ein Weg zu einem nachhaltigen Frieden von den staatlichen Behörden in der Region genauso unterstützt werden wie von der internationalen Friedensbewegung. Es kann nicht sein, dass wir ArmenierInnen und AserbaidschanerInnen, die unter großen persönlichen Risiken Kontakte in das Land des Feindes pflegen, alleine lassen.





Bernhard Clasen arbeitet als freier Übersetzer und Dolmetscher für Russisch und als freier Journalist. Veröffentlichungen in "taz", "Neues Deutschland", "Publik-Forum" und "FriedensForum".

E-Mail: bernhard (at) clasen (Punkt) net

Website: www.clasen.net/ff
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