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 Krisen und Kriege

Dossier-Entwurf (mit der Bitte um Anmerkungen/Beteiligung):

West-Sahara: Die letzte Kolonie Afrikas

Werner Ruf

Es ist geradezu grotesk: Wir leben in einer Zeit, in der die Abspaltung eines Gebiets (Kosovo) durch einen Krieg der NATO erzwungen wird, und in der die Teilung des Sudan mit Druck der "internationalen Gemeinschaft" betrieben wird. Aber auch in einer Zeit, in der es, wenn auch unter großen Mühen, möglich wurde, die Selbstbestimmung Ost-Timors, des einzigen Parallel-Falles zur West-Sahara, letztendlich durch ein völkerrechtskonformes Verfahren durchzusetzen und die widerrechtliche indonesische Besetzung und Annexion der früheren portugiesischen Kolonie zu beenden.(1) Die West-Sahara wurde 1975 von Marokko besetzt und annektiert - ein Akt innerafrikanischen Kolonialismus. Der Fall dieser früheren spanischen Kolonie erscheint aus völkerrechtlicher Sicht von schlichter Eindeutigkeit zu sein. Seine scheinbare Unlösbarkeit ist das Resultat der politischen und ökonomischen Interessen der am Konflikt direkt und indirekt beteiligten Mächte.



Seit Oktober 1975 befasst sich der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen unter Kapitel VII der Charta regelmäßig mit dem Konflikt, indem er u. A. jährlich (bis vor zwei Jahren halbjährlich) das Mandat der am 29. April 1991 eingerichteten Blauhelmtruppe MINURSO (Missi•n de las Naciones Unidas para el Referendum nel Sahara Occidental) verlängert, deren Aufgabe die Überwachung des seither bestehenden Waffenstillstands ist und - vor allem - die Durchführung einer Volksabstimmung über den zukünftigen Status des Gebiets (Unabhängigkeit) sein sollte. Während in den ersten 10 bis 15 Jahren der Konflikt auch wegen der Kampfhandlungen eine relativ große internationale Aufmerksamkeit erfuhr, ist er seither in den Medien kaum mehr präsent. Wenige kleine NGOs im Westen betreiben weiterhin Solidaritäts- und Öffentlichkeitsarbeit für die sahrauische Unabhängigkeitsbewegung Frente Polisario bzw. die von ihr ausgerufene Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS), Die Europäische Kommission und das Europäische Parlament beschäftigen sich von Zeit zu Zeit mit dem Konflikt, insbesondere im Zusammenhang mit den Fischerei-Abkommen der EU. Das relative internationale Desinteresse an diesem Konflikt mag zum Einen daran liegen, dass die Polisario und ihr militärischer Arm während der gesamten Dauer des Konflikts niemals terroristische Akte verübt haben, wichtiger dürfte sein, dass eine vor allem von Frankreich geführte westliche Interessenkoalition die Position des Palastes in Rabat nachdrücklich unterstützt und so eine völkerrechtskonforme Lösung verhindern hilft.



Völkerrecht und politische Entwicklung des Konflikts.

Das Territorium der West-Sahara wurde auf der Berliner Kongo-Konferenz (1884) an Spanien übertragen. Die UN-Vollversammlung forderte erstmals 1965 einstimmig (und in den Folgejahren immer wieder) die Kolonialmacht Spanien auf, das Gebiet in die Unabhängigkeit zu entlassen. 1973 begann die Polisario-Front (Frente Popular para la Liberación de la Saghiet el Hamra y del Rio de Oro) den bewaffneten Kampf gegen die Kolonialmacht mit Überfällen auf spanische Militärposten.
(2) Völkerrechtlich war eindeutig, dass die Dekolonisation nach den von der UN-Generalversammlung in ihrer Resolution 1514 von 1960 festgelegten zwei Grundsätzen erfolgen sollte:



1.Das Selbstbestimmungsrecht für alle fremd verwalteten Territorien:



"Alle Völker haben das Recht der freien Selbstbestimmung. ... sie bestimmen frei ihren politischen Status und verfolgen frei ihre ökonomische, soziale und kulturelle Entwicklung"



2.Der Respekt der territorialen Integrität dieser Territorien:



"In den noch unter Vormundschaft stehenden Territorien, in den nicht autonomen Territorien und in all den Territorien, die noch nicht zur Unabhängigkeit gelangt sind, werden unmittelbar Maßnahmen getroffen, um alle Gewalten an die Völker dieser Territorien zu übertragen... entsprechend ihrem Willen und ihren frei geäußerten Wünschen.., um ihnen zu gestatten, völlige Unabhängigkeit und Freiheit zu genießen... Jeder Versuch, der darauf abzielt, teilweise oder ganz die nationale Einheit und die territoriale Integrität eines Landes zu zerstören, ist unvereinbar mit den Zielen und den Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen."


Da jedoch Marokko und Mauretanien "historisch begründete" Ansprüche auf das Gebiet erhoben, beschloss die UN-Vollversammlung am 13. Dezember 1974 die Einholung eines Rechtsgutachtens des Internationalen Gerichtshofs, der die Fragen beantworten sollte, (1) ob das Territorium im Augenblick der Kolonisation eine terra nullius, also ein Land ohne Herrschaft, war und (2) ob es juristische Bande zu Mauretanien und Marokko gegeben hatte. Der IGH beantwortete am 16. Okt. 1975 diese Fragen eindeutig, obwohl ihm damals zahlreiche Zeugnisse von Reisenden(3) noch nicht bekannt waren, die seine Position eindeutig stützen, und erklärte:

"... dass weder die internen Akte noch die internationalen Akte, auf die Marokko sich beruft, die Existenz oder die internationale Anerkennung von juristischen Souveränitätsbindungen zwischen der Westsahara und dem marokkanischen Staat anzeigen. Selbst wenn man die besondere Struktur dieses (des marokkanischen, W.R.) Staats in Rechnung stellt, so zeigen sie nicht, dass Marokko eine wirkliche und ausschließliche staatliche Aktivität in der Westsahara ausgeübt hätte. Sie zeigen indessen während einer bemerkenswerten Periode die Existenz einer juristischen Unterwerfung zwischen dem Sultan und einigen, aber eben auch nur einigen, der Nomadenstämme dieses Gebiets..."
(4)

König Hassan II erklärte noch am selben Tage in einer Thronrede, dass der IGH die marokkanischen Ansprüche voll und ganz bestätigt habe und kündigte den "Grünen Marsch" an:
(5) Wohl organisiert marschierten 350.000 - 500.000 Marokkaner nur mit dem Koran bewaffnet in das Gebiet ein. In Wirklichkeit begann die militärische Besetzung des Gebiets: Zehntausende von Sahrauis flohen in Richtung der algerischen Grenze, Marokko bombardierte die Flüchtlingstrecks mit Napalm und Splitterbomben, so dass die französische Tageszeitung Le Monde von einem "wahren Völkermordunternehmen" sprach.(6)

Während der Generalissimus Franco bereits seit Wochen mit dem Tode rang (er starb offiziell am 20. November 1975), wurde in Spanien nach massivem Druck der USA und Frankreichs auf die spanische Regierung am 14. November das so genannte Madrider Abkommen geschlossen. Dieses Dreierabkommen zwischen Spanien, Marokko und Mauretanien teilte das Territorium in zwei Teile, wovon etwa 3/4 an Marokko fielen, der südliche und wirtschaftlich uninteressante Rest an Mauretanien. Der nördliche Teil verfügt über die hochwertigen und im Tagebau abbaubaren Phosphatlager von Boukraa sowie die außerordentlich fischreichen Gewässer entlang der sahrauischen Küste, wichtige Vorkommen an Kupfer, Nickel, Chrom, Platin, Magnesium, Gold, Vanadium, Wolfram, Zinn, Mangan, Beryll, Magnetit, Ilmenit und Uran sowie wahrscheinlich Erdöl- und Erdgas-Vorkommen in den off-shore-Gebieten.
(7) In einem eindeutig völkerrechtswidrigen Akt übertrug also Spanien eine Sache, die ihm nicht gehörte, nämlich die West-Sahara, an Dritte.

Am 27. Februar 1976, einen Tag vor Inkrafttreten des Madrider Abkommens, rief die Polisario-Front die Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS) aus, die von über 60 Staaten vor allem aus Afrika und Lateinamerika anerkannt wird. Zum Vergleich: Das Kosovo wird derzeit von 76 Staaten anerkannt. 1984 nahm die Organisation für Afrikanische Einheit OAU die DARS als Vollmitglied auf, weshalb Marokko aus der Organisation austrat. Die DARS ist auch Mitglied der Nachfolge-Organisation Afrikanische Union (AU), der Marokko deshalb gleichfalls nicht angehört.

Der bewaffnete Arm der Polisario kämpfte seit der Besetzung im Jahre 1975 gegen die beiden Besatzungsmächte, und dies zunächst mit gewaltigen Erfolgen: Gegen Mauretanien trug sie Angriffe bis in die Hauptstadt Nouakschott vor, etwa 1.500 km von den Flüchtlingslagern in der algerischen Wüste bei Tinduf entfernt. Die mauretanische Regierung schloss schließlich 1979 einen Waffenstillstand und zog sich aus dem Gebiet zurück, worauf Marokko auch diesen Teil besetzte und annektierte. Nunmehr wandte sich die Polisario voll gegen Marokko und fügte in den Jahren 1978 bis 1980 großen marokkanischen Garnisonen im südlichen Kernland Marokkos schwere Schläge zu, Tausende marokkanische Soldaten wurden gefangen genommen. Marokko beantwortete diese erfolgreichen Angriffe seit 1981 mit dem Bau von Mauern, die, mit Minenfeldern und Stacheldraht bestückt, mittlerweile auf einer Gesamtlänge von rd. 2.400 km fast das gesamte Gebiet einschließen und Angriffe so gut wie unmöglich machen.

Die Generalversammlung der VN und ihr IV. Komitee (Dekolonisationskomitee), auch Komitee der 24 genannt, vor allem aber die afrikanischen Staaten, fordern jährlich in einer schon fast rituellen Entschließung die Ausübung des Rechts auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit der West-Sahara. Der Generalsekretär der VN erarbeitete schließlich einen Vorschlag für die Durchführung eines Referendums, dem die Polisario am 30 August 1988 zustimmte. Endlich fasste der Sicherheitsrat am 20. September 1988 seine Resolution 621, in der er den Generalsekretär aufforderte, einen Bericht zu erstellen über "die Abhaltung eines Referendums für die Selbstbestimmung des Volkes der West-Sahara und über die Wege und Mittel, die Organisation und Überwachung eines solchen Referendums sicher zu stellen." Hierauf folgte ein erstes - und zugleich letztes - Treffen zwischen dem König von Marokko und Vertretern der Polisario.

Am 29. April 1991 verabschiedete der Sicherheitsrat schließlich die Resolution 690, mit der die Blauhelmtruppe MINURSO zur Überwachung eines zeitgleich eintretenden Waffenstillstands und zur Durchführung des Referendums eingerichtet wurde. Das Mandat wird seither in regelmäßigem Turnus verlängert und besteht bis heute. Dank marokkanischen Widerstands und der Unterstützung, die es im Sicherheitsrat von Frankreich erhält, erreichte die Mission jedoch nur 12% ihrer vorgesehenen Stärke. Hauptproblem der nun folgenden Phase war die Identifizierung der Abstimmungsberechtigten. Die Polisario konzedierte, dass nur die 70.204 Sahrauis, die in einem spanischen Zensus von 1974 erfasst worden waren und ihre inzwischen erwachsenen Kinder wahlberechtigt sein sollten. Spanien hatte bewusst nur wenige Personen in dem Zensus erfasst, da so die Argumentation verstärkt werden sollte, für eine so kleine Zahl von Menschen könne man keinen Staat machen. Marokko forderte die Aufnahme immer neuer Wählergruppen in das Register. Plausibel ist an der marokkanischen Argumentation, dass die Sahrauis Nomaden sind, viele Menschen also vom spanischen Zensus gar nicht erfasst werden konnten (und sollten). Dies führte zu einer komplexen, Jahre dauernden Identifizierungsarbeit der Kommission, da manche Stämme sich zu Marokko bekannten, andere nicht. Zur Identifikation der Wahlberechtigten wurden daher Stammesführer herangezogen. Jenseits dieses Versuchs, die Zahl der pro-marokkanischen Stimmberechtigten zu erhöhen, forderte Marokko die Aufnahme von rd. 170.000 Marokkanern, die seit 1975 in der West-Sahara angesiedelt worden waren. Letztlich wurde der Identifizierungsprozess als nicht realisierbar abgebrochen.

Angesichts der Schwierigkeiten präsentierte der inzwischen zum Sonderbeauftragten des Generalsekretärs ernannte frühere US-Außenminister James Baker III. einen "Friedensplan für die Selbstbestimmung des Volkes der Westsahara." Die Resolution 1495 des Sicherheitsrats vom 31. Juli 2003, die diesen Plan übernahm, forderte nun plötzlich nicht mehr das Selbstbestimmungsrecht für die Sahrauis und die Durchführung eines entsprechenden Referendums, sondern eine "politische Lösung". Der Baker-Plan sah vor, dass für einen Zeitraum von fünf Jahren die wesentlichen politischen Kompetenzen (Außenbeziehungen, innere und äußere Sicherheit, Währung, Zoll etc.) in der Kompetenz Marokkos verbleiben sollten. Erst nach fünf Jahren sollte eine Abstimmung stattfinden, die nun neben der ursprünglichen Entscheidung über die Zugehörigkeit zu Marokko oder Unabhängigkeit auch eine dritte Option "Autonomie im Rahmen des marokkanischen Königreichs" vorsah. In das Wählerverzeichnis für den Volksentscheid sollten folgende Kategorien von Personen aufgenommen werden: a) Die Personen, die von der MINURSO im Dezember 1999 auf die vorläufige Wählerliste gesetzt worden waren, b) die Personen, die auf der am 31. Oktober 2000 erstellten Liste des UNHCR als Sahrauis aufgeführt sind; c) die Personen, die seit dem 30. Dezember 1999 dauerhaft in der West-Sahara gewohnt haben - konkret also alle bis dahin zugewanderten und angesiedelten Marokkaner.

Die Polisario-Front akzeptierte den Plan, der eindeutig die marokkanische Position unterstützte, Marokko lehnte ihn jedoch ab! Es kann nur darüber spekuliert werden, ob Marokko einem so maßgeschneiderten Wahlvolk nicht traute und vielleicht einen Sinneswandel der eingewanderten Marokkaner befürchtete oder ob schon das Prozedere allein als Niederlage empfunden wurde, da Marokko immer erklärt hat, es könne nur ein "Zustimmungsreferendum" geben. Eine andere Hypothese wäre, dass die Polisario die Haltung Marokkos antizipierte und mit ihrer Annahme des Plans diplomatisch zu punkten versuchte.

Der Konflikt scheint nach dem Scheitern des Baker-Plans von 2003 endgültig blockiert. Versuche von Mitgliedern der UN-Sicherheitsrats, in die jährlichen Resolutionen ein Mandat zur Überwachung der Menschenrechte durch die MINURSO
(8) aufzunehmen, wie dies seit Jahren für alle UN-mandatierten Einsätze üblich ist, werden nachhaltig von Frankreich verhindert, obwohl sich in den letzten Jahren die Berichte über massive Menschenrechtsverletzungen durch die marokkanischen Sicherheitskräfte in den besetzten Gebieten häufen. Der Sicherheitsrat selbst hat sich von der Durchsetzung völkerrechtlicher Grundsätze und dem sich selbst in den frühen Resolutionen gegebenen Auftrag verabschiedet, das Selbstbestimmungsrecht für die Sahrauis durchzusetzen: Mittlerweile werden unter der Schirmherrschaft des UN-Generalsekretärs in dem nördlich von New York gelegenen Städtchen Manhasset sporadisch indirekte Verhandlungen zwischen den beiden Parteien geführt, die, so die Resolution 1920 des UN-Sicherheitsrats vom 30. April 2010, "eine gerechte, dauerhafte und von beiden Seiten akzeptierte Lösung" finden sollen. Dies ist angesichts der diametral gegensätzlichen Forderungen der Parteien die Quadratur des Kreises. So fand denn auch die siebte und vorläufige letzte dieser Verhandlungsrunden - ergebnislos - vom 6. bis 8. Juni 2011 statt.

Entscheidender für den Fortgang des Konflikts dürfte die Entwicklung in den besetzten Gebieten selbst sein, wo noch immer die Mehrheit der sahrauischen Bevölkerung lebt: Dort scheint der Wunsch nach Unabhängigkeit ungebrochen, ja durch die diskriminierenden Praktiken der Besatzungsmacht verstärkt. Dies zeigen die jüngsten und international viel beachteten Repressionen der Bevölkerung wie die Ausweisung der Menschenrechtlerin Aminatou Haidar
(9) oder die von den marokkanischen Behörden jüngst vorgenommene brutale Vernichtung des Protestlagers "Camp der Würde"(10) nur 15 km vor den Toren der Hauptstadt El Ayoun, die zeitgleich mit einer neuen Verhandlungsrunde in Manhasset erfolgte. Bei der Zerstörung des Lagers, dessen Insassen gegen die soziale Diskriminierung der sahrauischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten protestierten, und anschließenden Demonstrationen in der Hauptstadt El Ayoun wurden zwischen zehn und 19 Personen getötet. Die Zahl der Verwundeten und Verhafteten bleibt im Dunkeln. Dass Marokko alles versucht, um Details der Vorgänge nicht nach außen dringen zu lassen, zeigt auch die rüde Abschiebung der Bundestagsabgeordneten der LINKEN, Sevim Dagdelen, die am 13. November 2010 versucht hatte, nach El Ayoun zu reisen, um sich ein Bild von der Lage nach der Räumung des Lagers zu machen.(11)

Nichts zeigt deutlicher als dieser Konflikt, wie die "Internationale Gemeinschaft" und auch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit zweierlei Maß messen: Während einerseits Minderheitenkonflikte auch von Mitgliedern des Sicherheitsrat benutzt werden, um den Einsatz militärischer Gewalt zu rechtfertigen, wird im Falle der West-Sahara ein elementares Prinzip des Völkerrechts, das Selbstbestimmungsrecht, mit Füßen getreten. Auf der Strecke bleiben so nicht nur das Selbstbestimmungsrecht des Volkes der West-Sahara, sondern auch das Völkerrecht und die Autorität der Vereinten Nationen selbst.



Interessen der Akteure.

In den Konflikt sind auch die großen Mächte involviert. Die geostrategische Lage Marokkos am Westeingang des Mittelmeeres und im "Sicherheits-Dreieck" Iberische Halbinsel - Kanaren - Maghreb war schon immer von großer geostrategischer Bedeutung. Seit der Landung von US-Truppen in Casablanca im Jahre 1942 unterhalten die USA im Lande Stützpunkte, die auch über die Unabhängigkeit Marokkos (1956) bis heute fortbestehen. Die marokkanische Monarchie unter Mohamed V., Hassan II. und Mohamed VI. verfolgte stets und verlässlich einen prowestlichen Kurs und eine liberale Wirtschaftspolitik. Ende der 70er Jahre wurde Marokko zentraler Ort für den Aufbau der US-amerikanischen Rapid Deployment Force (RDF) für etwaige Interventionen im Nahen und Mittleren Osten. Marokko kooperiert mit dem 2007 eingerichteten US-Oberkommando für Afrika (Africom). Zumindest indirekt und vor allem im Bereich der inneren Sicherheit unterhält Marokko enge Beziehungen zu Israel.
(12)

Vor allem für Frankreich war und ist Marokko zentraler politischer, aber auch geo-strategischer Partner: Seit Beginn der Unabhängigkeit hat Frankreich die marokkanische Monarchie konsequent unterstützt. In Verbindung mit Frankreich oder auch stellvertretend hat Marokko durch zahlreiche militärische Interventionen in Schwarzafrika (Zaire, Benin, Äquatorial-Guinea) die Absicherung französischer Interessen betrieben und damit geholfen den Schein aufrecht zu erhalten, in diesen bewaffneten Auseinandersetzungen handele es sich um afrikanische Angelegenheiten. Vor allem aber stellt Marokko für Frankreich ein verlässliches Gegengewicht gegen Algerien dar, mit dem Frankreich zwar einerseits gute Beziehungen zu pflegen sucht, die aber durch die noch immer unaufgearbeitete Zeit des algerischen Unabhängigkeitkrieges belastet sind. Wichtiger dürfte sein, dass Algerien seinerseits im Maghreb wie in der afrikanischen Politik eine eigene und zumindest von Frankreich unabhängige Politik verfolgt.

Von erheblicher Bedeutung sind aber auch die regionalen Gegensätze und Rivalitäten zwischen Marokko und Algerien. Algerien unterstützt die Polisario-Front und gestattet dieser eine Quasi-Autonomie im Gebiet der Flüchtlingslager nahe der südwest-algerischen Oase Tindouf. Ohne Zweifel ist diese Unterstützung auch motiviert durch das Ziel der algerischen Führung, im Maghreb eine dominierende Rolle einzunehmen. Wichtig ist jedoch auch die lange Tradition der algerischen Außenpolitik, die gerade aufgrund der eigenen Erfahrungen im Befreiungskrieg charakterisiert ist durch konsequente Unterstützung der afrikanischen Befreiungsbewegungen wie auch SWAPO oder ANC. Dies ist geradezu ein Markenzeichen algerischer Glaubwürdigkeit. Hinzu kommt die gerade für die algerische Armee noch immer prägende Erfahrung, dass Marokko unmittelbar nach der algerischen Unabhängigkeit (1963) versuchte, die Westgrenze Algeriens zu seinen Gunsten zu korrigieren, indem es Teile Südwest-Algeriens besetzte. Zentraler Grund war der Versuch, Zugang zu den sahaurischen Ressourcen zu erlangen und präventiv den Anspruch auf die südwestlicher gelegene spanische Kolonie zu festigen. Damals erhob Marokko auch territoriale Ansprüche auf das gerade von Frankreich formal unabhängig gewordene Mauretanien. Der algerischen Armee gelang es schließlich, die Angriffe zu stoppen, und nach der Vermittlung afrikanischer Staaten musste sich Marokko aus den eroberten Gebieten zurückziehen.

Ohne Frage geht es beiden Ländern um territoriale Rivalitäten, aber, insbesondere im Falle Marokkos, auch um die Kontrolle und Ausbeutung der Ressourcen der West-Sahara, während Algeriens Staatseinnahmen auf enormen Einnahmen aus dem Öl- und Erdgasexport basieren. Für Algerien ist die Fortdauer des Konflikts ein ständiger Stachel im Fleisch des marokkanischen Rivalen. Ob ein unabhängiger sahrauischer Staat für immer bedingungsloser Verbündeter Algeriens bleiben oder den Ausgleich mit dem Königreich Marokko suchen würde, muss spekulativ bleiben: Zu weit ist eine solche Lösung entfernt, die vor allem dadurch erschwert wird, dass die marokkanische Monarchie die "Marokkanität" der West-Sahara zur Kernfrage der Legitimation ihrer Herrschaft erhoben hat.



Konfliktlösung / Konfliktbearbeitung.

Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat sich als unfähig bzw. unwillig gezeigt, den Konflikt auf einer völkerrechtskonformen Basis zu lösen und seine in den ersten Resolutionen formulierten Positionen umzusetzen. Für die Ständigen Ratsmitglieder Russland, China und Großbritannien war die West-Sahara-Frage nie eine Priorität. Die USA schwankten - je nach Regierung - zwischen der Unterstützung Frankreichs und einer eher völkerrechtskonformen Politik. Entscheidenden Druck auf Frankreich übten aber weder die USA noch die übrigen Mächte aus. Anders verhielt sich die OAU bzw. die Afrikanische Union, die auch stets die Forderung nach Abhaltung eines fairen und korrekten Referendums unterstützte, im Sicherheitsrat jedoch keine entscheidende Rolle spielen konnte.

Die zivilgesellschaftliche Unterstützung für die Polisario-Front war in den ersten anderthalb Jahrzehnten in West-Europa, dort vor allem in Spanien, aber auch in den USA relativ stark. Mit Beendigung der Kampfhandlungen nach dem marokkanischen Mauerbau und dem Waffenstillstand verschwand der Konflikt jedoch weitestgehend aus den Medien, die öffentliche Unterstützung für das Unabhängigkeitsstreben der Sahrauis bröckelte.

Neben dem handlungsunfähigen oder -unwilligen Sicherheitsrat fiele der EU eine zentrale und entscheidende Rolle zu, ist doch Marokko durch einen Assoziierungsvertrag mit der Union verbunden. Jedoch: Die Afrika-Politik innerhalb der EU wird im Wesentlichen durch Frankreich bestimmt. Dessen Interesse an der in seinem Sinne verstandenen Stabilität Marokkos hat nicht nur dazu geführt, dass es innerhalb der EU keinen nennenswerten Druck auf Marokko gab, mehr noch: Die EU schloss 2007 mit Marokko ein Fischereiabkommen, das sich auch auf die Küstengewässer der West-Sahara erstreckt und im Februar 2011 verlängert wurde.
(13) Die EU zahlt Marokko für diese Rechte, an denen vor allem auch die spanische Fischerei-Industrie interessiert ist, 36 Mio. EUR jährlich. Inwieweit das Europäische Parlament, das hier Handlungsspielräume hätte, die Kommission zu einer anderen Politik veranlassen könnte, bleibt spekulativ. Hier wäre es die Rolle der Zivilgesellschaft, Kommission wie Parlament immer wieder auf die Widerspräche zwischen ihrer Völkerrechts- und Menschenrechtsrhetorik und der tatsächlichen Politik der EU hinzuweisen.

Seit Beginn der "arabischen Revolten" stellt sich allerdings eine weitere Frage: Ab Mitte Oktober 2010 hatten Tausende Sahrauis außerhalb der Hauptstadt El Ayoun aus Protest gegen die sozialen und politischen Verhältnisse unter der marokkanischen Besatzung Zeltlager aufgeschlagen, die sie "Lager der Würde" nannten - "Würde" war und ist der Schlüsselbegriff der Erhebungen in Tunesien, Ägypten, Bahrein, Syrien ...
(14) Marokko zerstörte die Lager, es gab viele Tote. Noam Chomsky sieht in diesen Lagern den Anfang der arabischen Protestwelle, von dort sei der Funke übergesprungen.(15) Tatsache ist, dass auch in Marokko heftige und teils gewaltförmige Massenproteste stattfanden, der König sich gezwungen sah, umfangreiche Reformen zu versprechen, darunter die Unabhängigkeit der Justiz und die Verantwortlichkeit der Regierung vor dem Parlament. Die enormen Kosten der Besatzung und ein politischer Wandel im Königreich könnten der West-Sahara möglicherweise eher zur Unabhängigkeit verhelfen als das Lavieren des UN-Sicherheitsrats, der Opportunismus der EU-Außenpolitik unter Frankreichs Führung und die im Falle dieses Konflikts schwach gewordene internationale Solidaritätsbewegung.



Anmerkungen:



1Zollet, Nadine: Ost-Timor/Timor-Leste - Ein erfolgreiches Beispiel für Konfliktbearbeitung. In: Ruf et al.: Militärinterventionen verheerend und völkerrechtswidrig. Berlin 2009, S. 171 - 190



2Ausführlich zu diesem Konflikt s. Ruf, Werner: West-Sahara: Die Verweigerung von Selbstbestimmung und Souveränität. In: Ruf, Werner: Die neue Welt-UN-Ordnung. Vom Umgang des Sicherheitsrates mit der Souveränität der "Dritten Welt.". Münster 1994, S. 18 - 65. S. dort auch umfangreiche Quellen und Belege, auf die hier aus Raumgründen verzichtet wird.



3Dazu Ruf a. a. O. S. 21 FN 20.



4Text des Gutachtens des Internationalen Gerichtshofs vom 16. Oktober 1975 in: Annuaire de l`Afrique du Nord 1975, Paris 1977, S. 971-974, hier S. 973.



5In seiner Resolution 379 vom 2. November 1975 richtete der Sicherheitsrat einen Appell an den marokkanischen König, den angekündigten Marsch in die West-Sahara zu unterlassen. In der darauf folgenden Resolution 380 vom 6. November bedauerte er den Marsch, forderte Marokko zum unmittelbaren Rückzug aus dem Territorium der West-Sahara auf und "appelliert(e) an Marokko und alle interessierten Parteien, mit dem Generalsekretär zusammen zu arbeiten, damit der Rat weitere Maßnahmen treffen könne.



6Le Monde 20. und 21. Februar 1976, S. 3.



7Zu diesen Ressourcen s. u. A. Barbier, Maurice: Le conflit du Sahara Occidental, Paris 1982.



8Goldau, Axel: Die MINURSO wird 20 Jahre. In: Inamo Nr. 65, Frühjahr 2011, S. 61 . 62.



9http://mimpresion.blogspot.com/2009/11/kein-erbarmen.html [17-11-09].
Vgl. Auch den sehr detaillierten Bericht von Thomas Schmid in der Berliner Zeitung vom 6. November 2010. http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2010/1106/seite3/0002/index.htmlhttp://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2010/1106/seite3/0002/index.html [08-11-10].



10International Affairs, Diplomacy and Strategy, November 2010.



11http://www.jungewelt.de/2010/11-15/058.php [15-11-10].



12Auch gibt es Hinweise, dass Israel die «gemäßigte» Politik Rabats im israelisch-palästinensischen Konflikt durch internationale Unterstützung für die marokkanishen Ansprüche auf die West-Sahara unterstützt. http://www.afrol.com/articles/25374 [13-06-11].



13El Watan, 19. Februar 2011.



14Zum Begriff der "Würde" s. die brillante Analyse des - auch für die anderen arabischen Regime stellvertretenden - tunesischen Systems unter Ben Ali von Sadri Khiari: La Révolution tunisienne ne vient pas de nulle part. Entretien de Béatrice hibou avec Sadri Khiari. In: Politique Africaine, nr. 121, Paris 2011, S. 23 - 34.



15Zitat bei Goldau, a. a. O. S. 61.




Bitte um Mitarbeit:

Werner Ruf und Andreas Buro wollen im Rahmen des "Monitoring-Projekts für Zivile Konfliktbearbeitung" der Kooperation für den Frieden ein Dossier zum Konflikt in der Westsahara erstellen.

Sie bitten darum, diesen Entwurf von Werner Ruf zu kommentieren und Ergänzungsvorschläge zu machen (siehe vorstehenden Artikel:
http://www.friedenskooperative.de/ff/ff11/6-32.htm).

Auf Wunsch kann der Text vom Büro der Friedenskooperative auch als DOC-Datei zugesandt werden (
friekoop@friedenskooperative.de).

Anmerkungen bitte an Andreas Buro (
andreas.buro@gmx.de) und Werner Ruf (werner_ruf@gmx.net).



Werner Ruf, geb. 1937, ist emeritierter Professor für internationale Beziehungen und lehrte an der Universität Kassel.

E-Mail: werner_ruf (at) gmx (Punkt) net

Website: www.werner-ruf.net
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