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 Krisen und Kriege

Ukraine: Zündeleien und Roll-back

Karl Grobe

"Ich habe in meinem Leben noch nie eine Regierung erlebt, die so passiv ist [wie die unter Obama]. Wladimir Putin versteht nur, wenn man Stärke zeigt. Bisher haben wir immer nur gedroht und so gut wie nichts gemacht". So sieht John McCain die Politik, die Präsident Obama gegenüber Russland einschlägt. Sein Bild stellt ziemlich exakt das Gegenteil der Realität dar.

"Wir" haben nichts gemacht? Manch einer hält Obama immer noch für das, weswegen er in den allerersten Tagen seiner Präsidentschaft einen Nobelpreis erhalten hat - eine Friedenstaube. Mit diesem Wort bezeichnete in diesem Frühjahr der "Spiegel"-Autor Dirk Kurbjuweit den Präsidenten der USA. Die ferngesteuerten Küken der Friedenstaube, die missliebige Personen weit außerhalb der amerikanischen Grenzen töten, hat der Autor wohl vergessen. Sind Drohnen keine Kriegswaffe?

Das Nachrichtenmagazin hat am 10. März den russischen Präsidenten auf den Titel genommen, mit der Schlagzeile: "Der Brandstifter". Das Heft wurde nach dem Putsch geschrieben, der die ukrainische Übergangsregelung - mitgestaltet von den Außenministern aus Berlin, Paris und Warschau - ausgehebelt und eine kaum legitimierbare Regierung eingesetzt hat, und nachdem die drei Außenminister auf dem Kiewer Maidan ausgepfiffen und ihr Kompromisspapier dort zerfetzt worden war.

Hat Putin auf dem Maidan gezündelt? Die Annexion der Krim durch Russland, nach einer hinsichtlich seiner Zahlenbasis anfechtbaren Volksabstimmung vom 16. März (eine über 80 Prozent betragende Zustimmung ist unplausibel, weil sowohl unter den Krimtataren als auch unter den auf der Krim lebenden Ukrainern, zusammen 37 Prozent der Bevölkerung, kaum Stimmen für eine Sezession zu erwarten waren), wurde von den Moskauer Gremien sofort ratifiziert. Danach erst breiteten sich sezessionistische - und gewaltbereite - Gruppen in der Ostukraine aus, verbunden mit Moskauer Ankündigungen, die Interessen von Russen auch außerhalb der Staatsgrenzen notfalls auch militärisch zu verteidigen.

Ist das die Umkehrung der Ost-Erweiterung von EU und Nato?

Heinrich Heine hat im "Romanzero", den Disput zwischen Vertretern verschiedener Religionen am Hof von Toledo in den Worten der Königin zusammenfassend, gereimt: "Welcher recht hat, weiß ich nicht. / Doch es will mich schier bedünken, / Dass der Rabbi und der Mönch, / Dass sie alle beide stinken." Solche differenzierenden Urteile zu fällen ist seit etwa der französischen Revolution Aufgabe der Presse, moderner gesagt: der Massenmedien.

Dieser Aufgabe werden die allermeisten Medien derzeit nicht gerecht. Sie sind auf den vom "Spiegel" so bezeichneten Brandstifter Putin fixiert. Nicht dass er ein sanfter Zeitgenosse ohne Fehl und Tadel wäre. Auch er, wie alle seine KollegInnen in Ost, West, Nord und Süd, vertritt knallharte Interessen. Das konnte man längst wissen.



1990: Ende der Nachkriegsordnung

Wer bei der 43. Sicherheitskonferenz in München am 10. Februar 2007 nicht auf seinen Ohren gesessen hat, muss verstanden haben, dass in Putins Sicht die Westmächte immer wieder ihr Wort gebrochen haben. Putin zitierte, was Nato-Generalsekretär Manfred Wörner am 17. Mai 1990 in Brüssel geäußert hatte: "Schon der Fakt, dass wir bereit sind, die Nato-Streitkräfte nicht hinter die Grenzen der DDR zu stationieren, gibt der Sowjetunion feste Sicherheitsgarantien." Ähnlich hatten sich im Februar 1990 schon zwei westliche Außenminister vernehmen lassen: "Das westliche Bündnis wird seinen Einflussbereich nicht einen Inch weiter nach Osten ausdehnen, falls Moskau der Mitgliedschaft des wiedervereinigten Deutschlands in der Nato zustimmt" (James Baker, USA) und: "Uns ist bewusst, dass die Zugehörigkeit eines vereinten Deutschlands zur Nato komplizierte Fragen aufwirft. Für uns steht aber fest: Die Nato wird sich nicht nach Osten ausdehnen" (Hans-Dietrich Genscher, Bundesrepublik).

Das waren gewiss keine Vertragstexte, aber es waren Zusagen. Nur: Sehr rasch verschwanden sie in der kollektiven Amnesie entsprechend der von Konrad Adenauer überlieferten Bemerkung: "Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern!" Am 3. Oktober 1990 hörte die DDR auf zu existieren. Sie war, den im Grundgesetz der Bundesrepublik festgelegten Regeln folgend, dieser angeschlossen worden; damit waren dann auch die fünf neuen Länder Nato-Territorium.

Damit begann die Auflösung der Nachkriegsordnung. Nicht erst die Annexion der Krim durch Russland, wie es beispielsweise während der USA-Reise der Bundeskanzlerin Anfang Mai formuliert wurde, war der "Sündenfall". Die Nachkriegsordnung war in den Konferenzen von Teheran (1943), Jalta und Potsdam (1945) von den drei alliierten Mächten Großbritannien, Sowjetunion und USA festgelegt worden. Diese drückten als Sieger dem von ihnen kontrollierten Teil Europas jeweils ihre Ordnung auf, was binnen zehn Jahren zur Spaltung zwischen Ostund Westblock führte. Die Sowjetunion und die von ihr geführten überstaatlichen Organisationen wie Warschauer Pakt (Gegenstück zur Nato) und Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW, Gegenstück zur EWG und ihren Nachfolgern) hatten die östliche Hälfte Europas unter fester, auch mit Waffengewalt durchgesetzter Kontrolle. Beide Blöcke waren füreinander Feindbilder.

Da aber die beiden Block-Führungsmächte - Sowjetunion und USA - kein Interesse an einem für sie auch selbstzerstörerischen Konflikt hatten, blieben die Block-Grenzen trotz aller Propaganda und geheimdienstlichen Aktivität intakt.

1991 lösten Warschauer Pakt und RGW sich auf. Innenpolitische Umwälzungen bewirkten unter tatkräftiger Hilfe westlicher Staaten die Annäherung der Blockstaaten Polen, Tschechoslowakei, Ungarn, dann Rumänien und Bulgarien an das westeuropäische Gesellschaftssystem. Sie schieden aus dem ehemals sowjetischen Macht- und Einflussbereich aus. Zugleich lösten die Präsidenten Russlands, der Ukraine und von Belarus in einer Dreierkonferenz die Sowjetunion auf. Putin nannte den Zerfall der Sowjetunion später die "größte politische Katastrophe des 20. Jahrhunderts". Der Satz geht direkt aus dem Gedankengebäude hervor, in dem Putin und seine Generation aufgewachsen sind und das das Selbstverständnis der sowjetischen Elite enthält: die Führungsrolle Russlands innerhalb der UdSSR und deren Führungsanspruch gegenüber den Paktpartnern.



"Schutzverantwortung" als Schild

Die 15 Sowjetrepubliken, die ausnahmslos von ihrem Verfassungsrecht zum Austritt aus der UdSSR Gebrauch gemacht hatten, gelten bis heute als "nahes Ausland", eigentlich als gar kein Ausland. In jeder einzelnen Republik leben zahlreiche Russen, prozentual am wenigsten in Litauen, am meisten in den beiden anderen (kleinen) baltischen Staaten, in Kasachstan und der Ukraine. Die schon unter Präsident Boris Jelzin konzipierte Verteidigungsdoktrin enthält den Anspruch, die Interessen im Ausland (besonders im nahen Ausland) lebenden Russen zu verteidigen; die Doktrin definiert die spätere UN-These von der "Schutzverantwortung" (responsibility to protect, salopp R2P), die als Vorwand für die militärische Intervention gewisser westlicher Staaten in Libyen nützlich war. Während der Aufstände sezessionistischer ("russlandfreundlicher") Gruppen und der Intervention getarnter russischer Bewaffneter in der Ostukraine griffen staatseigene Medien und schließlich der Präsident darauf zurück, ein rhetorischdemagogisches Mittel unter vielen, aber zugleich auch eine materielle Drohung.



NATO-Osterweiterung

Seit die Madrider Nato-Konferenz 1997 die eigene Militärdoktrin veränderte, so dass das Bündnis keine hauptsächlich auf Europa beschränkte Verteidigungsorganisation war, weltweite Aktivität auch ohne UN-Mandat beanspruchte und schon in Jugoslawien die eigene Interpretation der "Schutzverantwortung" zelebrieren konnte, bestanden "Einladungen" an die ehemaligen Warschaupakt-Staaten zum Nato-Beitritt. Der Einladung folgten Tschechien, Polen und Ungarn (1999), Bulgarien, Rumänien, die Slowakei und Slowenien (kein Ostblockstaat, sondern jugoslawische Teilrepublik) 2004 und Albanien sowie Kroatien 2009. Für das postsowjetische, neorussische Bewusstsein war der Nato-Beitritt Estlands, Lettlands und Litauens 2004 besonders gravierend: Alle drei hatten seit dem Hitler-Stalin-Pakt von 1941 zur Sowjetunion gehört.

Im gleichen Jahr 2004 wurden Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn (sowie Zypern, Malta und Slowenien) EU-Mitglieder. Die beiden restlichen ehemaligen RGW-Staaten - Rumänien und Bulgarien - folgten 2007. Auf diesem Hintergrund hätten Putins Äußerungen auf der Münchner Sicherheitskonferenz mehr Beachtung verdient als die beiläufige Kommentierung in den meisten westlichen Medien, Russlands Präsident sei halt misslaunig, eigenwillig, unberechenbar und letztlich immer noch KGB-Agent.

Im Jahrzehnt zwischen 1999 und 2009 haben die politischen, wirtschaftlichen und militärischen Strukturen des von den USA beherrschten Westens das vollzogen, was zu Beginn des Kalten Krieges als Rollback propagiert worden war: Zurückwerfen der UdSSR auf die alten russischen Grenzen. Die Weltpolitiker des Westens ersetzten Rollback einsichtigerweise durch Containment (Eindämmung). Die Frontstellung blieb.



Hat das Rollback also gewonnen?

Noch nicht ganz. Auf dem ersten Höhepunkt der Ukraine-Krise traten die Außenminister aus Berlin und Paris, Steinmeier und Fabius, in Moldawien und Georgien als Werber für deren West- Integration auf, also in zwei weiteren ehemaligen Sowjetrepubliken. Und dass der auf den ersten Blick nur wohltuend wirtschaftsfördernd scheinende EU-Assoziierungs-Vertrag, den der ukrainische Präsident Janukowitsch im November dann doch nicht unterzeichnete, auch einen Passus über militärische Zusammenarbeit enthielt, ist der westlichen Öffentlichkeit schlicht verschwiegen worden.

Man kommt nicht umhin, die mediale Brandmarkung Putins als "Brandstifter" und Russlands als aggressive Kraft reine Demagogie zu nennen. Ohne Zweifel zwar haben sich die Moskauer Mächtigen eben nicht als lupenreine Demokraten erwiesen.

Ohne Zweifel haben sie im ukrainischen Donbass und auf der Krim das Völkerrecht verletzt. Aber: "Wir haben so gut wie nichts gemacht", behauptet der rechte US-Politiker McCain. Das ist die dreisteste aller Lügen. Sie ist auch die gefährlichste. Sie enthält die Drohung, demnächst doch "etwas zu machen". Nämlich Krieg.



Karl Grobe ist freier Autor. Er war leitender außenpolitischer Redakteur der Frankfurter Rundschau.

E-Mail: karl (at) hagel-family (Punkt) de

Website: www.karl-grobe.de
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