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Erstellt:
August 1997

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FriedensForum 5/1997


Besuch bei der Organisation Soldatenmütter in St. Petersburg.

Rudi Friedrich

Im September 1997 besuchten der Autor und Christian Axnick von der DFG-VK auf Einladung der Organisation Soldatenmütter St. Petersburg. Die Gelegenheit wurde genutzt, um deren Arbeit für eine Woche zu begleiten.

Dreimal in der Woche führt die Organisation Soldatenmütter in St. Petersburg einen sogenannten Empfang durch, um Müttern, Vätern, FreundInnen und den Rekruten selbst Möglichkeiten an die Hand zu geben, die Armee zu verlassen oder sich vor ihr zu schützen. 60-100 Personen kommen zu jeder dieser Veranstaltungen. Auf einem dieser Empfänge forderte Ella Poljakova, eine der Vorsitzenden der Organisation, die Anwesenden mehrfach dazu auf, ihre rechtlichen Möglichkeiten, die sie nach der russischen Verfassung und Gesetzen haben, auch auszunutzen. Dies entspricht ihrem politischem Ansatz, der in erster Linie darauf zielt, dass in Russland bestehende Gesetze auch eingehalten werden und dass die Bürger selbstbewusst diese in Anspruch nehmen.

In ihrer Arbeit sind sie ständig mit der katastrophalen Situation im Militär konfrontiert, die allgemein als Ältestenherrschaft bekannt ist. Jüngere Rekruten werden von den Soldaten, die schon länger Dienst leisten, drangsaliert, geschlagen, erpresst, möglicherweise vergewaltigt oder auch umgebracht. Dies geschieht ausserhalb der normalen militärischen Hierarchie, auch wenn die Offiziere ebenfalls davon profitieren. "Wir sehen Fälle von Menschenrechtsverletzungen und massenhafte Anwendung von Folter in verschiedenen Einheiten der russischen Armee. Es ist wichtig zu verstehen, dass diese Menschenrechtsverletzungen nicht nur in St. Petersburg vorkommen, sondern auf dem gesamten Territorium der Russischen Föderation. Menschenrechtsverletzungen in der russischen Armee sind ein allgemeines, weitverbreitetes Phänomen."(1)

 zum AnfangAuch die Verantwortlichen der Armee halten sich nicht an die vorgegebenen Regeln. Zum Beispiel hatte das Militär wiederholt nach eigenem Gutdünken Einberufungen ausserhalb der Rekrutierungstermine durchgeführt, ohne dafür eine Rechtsgrundlage in Form eines Erlasses durch den Präsidenten zu haben. Militärärzte, die die Musterungen durchführen, haben nicht die erforderliche Approbation. Es gibt viele solche Beispiele. Die Organisation sieht aufgrund der menschenrechtswidrigen Situation in der Armee und der Nichteinhaltung von Gesetzen die Desertion als legitim an - und sie ist ja auch ein in Russland übliches Phänomen.

Diese Konsequenz setzt die Organisation in ihrer Praxis durchaus radikal um. Mehrmals trafen wir frisch Desertierte in den Büroräumen an, die noch ihre Uniform anhatten. Einige der Mütter holen ihre Söhne auch direkt aus den Einheiten, den Lazaretten oder psychiatrischen Einrichtungen heraus. Schliesslich werden für die Wehrdienstflüchtlinge neue Gutachen über ihren gesundheitlichen Zustand eingeholt und es wird in aller Regel eine Ausmusterung erreicht. Eine Grundlage dafür ist der aufgrund der schlechten sozialen Situation vorherrschende gesundheitliche Zustand Jugendlicher. "Untersuchungen von 14-15 Jahre alten Teenagern durch die Sankt Petersburger Akademie für Kindermedizin zeigte, dass lediglich 1% der Teenager vollkommen gesund sind."(2) Die am häufigsten vorkommenden Krankheiten sind Störungen der Herzmuskulatur, Knochen- oder Muskelkrankheiten. Mit der Strategie, praktisch alle in der Beratung anfragenden Rekruten ausmustern zu lassen, stehen sie als Organisation relativ allein. Andere Gruppen, wie die "Antimilitaristische Radikale Assoziation", die "Bewegung gegen Gewalt" oder "Memorial" fordern stattdessen die Umsetzung eines Rechtes auf "alternativen Zivildienst", wie es in der Verfassung in Artikel 59 vorgesehen, bislang aber nicht umgesetzt wurde.

Probleme bereitet die Duma in dieser Frage aber nicht nur durch die Nichtbehandlung oder Ablehnung vorliegender Gesetzentwürfe, sondern auch aufgrund der in den Gesetzentwürfen zunehmend restriktiven Vorschläge für den Einsatz der Kriegsdienstverweigerer. Einige sich in der "Jugendsolidarität" organisierende Kriegsdienstverweigerer verstehen sich daher auch als Totalverweigerer, die diesen in Aussicht stehenden Dienst nicht als Alternative für sich begreifen und akzeptieren können.

Am Schluss fragte uns Ella Poljakova, warum wir in Westeuropa nicht auch die Praxis der Soldatenmütter in Petersburg umsetzen, eine für uns überraschende Frage. Allgemein wird davon ausgegangen, dass die soziale und politische Situation in Russland extrem schlecht ist. Das ist sicherlich richtig. Angesichts der dortigen Praxis z.B. der Organisation der Soldatenmütter St. Petersburg muss aber auch gesehen werden, dass der Bruch mit dem alten System ungeahnte Möglichkeiten eröffnet hat, die es auch für die politische Arbeit zu nutzen gilt. Die teilweise chaotisch anmutenden Zustände, die Nichteinhaltung von Gesetzen u.a. ergeben oft überraschende Freiräume, auch für oppositionelle Gruppen. Gestützt wird ihre Position durch die allgemeine Ablehnung der Zustände in der russischen Armee. Sie haben so für ihre politische Arbeit in Russland Möglichkeiten erarbeitet, die so in Deutschland gar nicht mehr vorhanden sind.

 zum AnfangKontakt:

Nähere Informationen erhältlich bei Soldiers` Mothers of Saint Petersburg, Izmaylovsky Prospekt 8-15, RUS-198005 St. Petersburg, Tel./Fax: 007/812/2594968, e-mail: hrpeter@glas.apc.org

Connection e.V., Gerberstr. 5, 63065 Offenbach, Tel.: 069/82375534, Fax: 069/82375535, e-mail: connection@link-f.rhein-main.de

(1) Soldiers` Mothers of Saint Petersburg: Independent
    Presentation to the Council of Europe, April 1997

(2) Saint-Petersburg State Pediatric Medical Academy:
    Youth health - problems, ways of decisions, 1996



Rudi Friedrich ist ist Mitarbeiter von Connection.

E-Mail:   connection@link-f.rhein-main.de
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