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Dezember 1997

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FriedensForum 6/1997


Zur historischen Schwere der tschechisch-deutschen Beziehung

Jan Sumavsky

Kaum einer kann zusammenzählen, wieviel Raum bereits seit November 1989 auf beiden Seiten der Grenze für die tschechisch-deutschen Beziehungen gewidmet wurden, wie viele Konferenzen und Gespräche abgehalten sowie Verträge geschlossen und wie viele Artikel veröffentlicht wurden und wieviel Zeit dem Thema die Rundfunkanstalten, das Fernsehen, aber auch die Parlamente und beide Ministerien für Auswärtiges und die Regierungen gewidmet haben.

Es wurde sogar die Regierungsdeklaration angenommen und von den Parlamenten ratifiziert. Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern sind angeblich gut, sogar die besten in der modernen Geschichte. Alle Verhandlungen sind erfolgreich gewesen bis auf drei Punkte. Auf dem Weg in die Gegenwart und vor allem in die Zukunft blieb ein riesiger Stein, genannt historische Schwere. Es gelingt nicht, diesen Stein zur Seite zu schieben. Was ist also mit diesem Stein? Die Politiker haben zwar vereinbart, daß sie aus ihm ein Denkmal machen und daß wir gemeinsam weitergehen, sogar in das gemeinsame Europa, aber können sich nicht einigen, was man auf dieses Denkmal schreiben soll. Die Extremisten auf beiden Seiten setzen jeweils ihre eigene Handschrift, ihre eigene Überschrift durch. Die Vernünftigeren suchen Worte, die etwas sagen. Aber das ist ein schwerer Weg! Von den weniger Vernünftigen klettert fast jede Weile jemand auf diesen Stein und schreit, daß er nichts getan hat, daß es immer die anderen waren, daß er zu Unrecht bestraft wurde, aber vor allem fragt er, wieso gerade er beschädigt wurde, wieso er benachteiligt wurde.

 zum AnfangZu der historischen Schwere äußern sich auch einige Friedensorganisationen, humanitäre Organisationen und andere Nichtregierungsorganisationen, aber die Politiker und auch die Publizistik haben eigentlich gar kein Interesse an deren Ausführungen, mindestens in einem Teil unseres Landes oder vielleicht auch in der Bundesrepublik, weil diese Aussagen die Interessen der einfachen Menschen ausdrücken. Sie haben im Grunde eine gemeinsame Basis, eine gemeinsame Meinung und Ansicht, nämlich daß es ein ganz grausiger Krieg war. Dieser Krieg war vorbereitet und geführt mit ungewöhnlicher Brutalität, die für Millionen von Menschen den Tod bedeutete, schreckliches Leiden, Haß, schwere Folgen und ebenfalls Rache. Sie litten, sie starben, und es starben nicht nur die Schuldigen, sondern vor allem die Unschuldigen. Aber wer will heute zwischen den Schuldigen und den Unschuldigen unterscheiden? Wer will sie erkennen? Natürlich mit der Ausnahme der Hauptschuldigen. Wer will die Schuldigen bestrafen und wer will die Unschuldigen verteidigen? Alle wissen, wo dies Ganze seinen Anfang gehabt hat und daß den großen Gedanken, den ursprünglichen Gedanken und den Hauptanführern eigentlich die meisten gefolgt sind. Alle begreifen auch, daß nach einem verlorenen Krieg die Rache auch die Unschuldigen treffen wird, daß neben den legalen Entscheidungen und Maßnahmen auch der Schmerz und das Leid der Unschuldigen, auch die Rache geboren wurden, an der eine Horde von Psychopathen, Abenteurern und Goldgräbern eigentlich mitpartizipiert hatten. Es gab aber auch die einfachen Verbündeten, die Mitläufer. Diese alle hätten aber niemals die Gelegenheit der Rache bekommen, wenn es keinen Faschismus und Nazismus gegeben gätte, wenn es nicht die Vertreibung der Menschen aus den tschechischen Grenzgebieten gegeben hätte, wenn es den Krieg nicht gegeben hätte und die Konzentrationslager. Wenn es nicht das Leid auf einer Seite gegeben hätte, wäre das andere Leid nicht gefolgt, wäre die Vertreibung und die Aussiedlung der Schuldigen, aber auch der Unschuldigen nicht passiert. Ich habe während meiner Friedensarbeit einige hunderte Menschen getroffen aus verschiedenen Teilen Deutschlands, die Vorkriegs-Einwohner der Tschechoslowakei nicht ausgenommen. Hoffentlich habe ich kein schlechtes Gedächtnis, wenn ich sage, daß ich keinen Menschen getroffen habe, der diese schon angeführten Fakten nicht anerkannt hätte und der nicht alles hätte tun wollen, damit solche Grausamkeiten nicht noch einmal wiederholt werden. Daß sich einige wiederholen konnten im ehemaligen Jugoslawien, ist eine grausige Mahnung. Ich habe in Deutschland viele gute Freunde, und die Grundlage unserer Freundschaft ist gerade diese gemeinsame Mühe, diese Entschlossenheit, daß sich dieses nicht wiederholen darf. Auf diese Entschlossenheit bauen wir gemeinsame Aktionen in der Gegenwart und die Pläne für die Zukunft. Wir arbeiten in kleinen Schritten geduldig wie die kleinen Ameisen. Wir tragen eine Nadel zu der anderen auf den gemeinsamen Ameisenhaufen. Manche denken, daß die gemeinsame Regierungsdeklaration eigentlich mehr Schaden für die gegenseitigen Beziehungen gebracht hat als Nutzen. Auch das ist eine Ansichtssache. Tatsache ist, daß diese Deklaration früher beschlossen wurde, als man erwartet hatte. Aber es ist gleichzeitig auch eine Tatsache, daß diese Deklaration wie ein Vulkan wieder die Probleme zur Eruption kommen ließ, die Probleme, die diese Deklaration nicht gelöst hat und auch nicht lösen konnte. Was für eine Relevanz haben in dieser Deklaration Begriffe wie Vertreibung oder Abschiebung, wenn sie in der Realität im Grunde keine Folgen haben, weder im Hinblick auf politische noch im Hinblick auf wirtschaftliche Ansprüche? Denn ein Großteil der Menschen der beiden Länder möchte in der Zukunft gemeinsam und sogar im Rahmen des vereinigten Europas zusammenleben. Das heißt nicht, daß man die Vergangenheit vergessen sollte, vor allem die Lehren, die aus ihr gezogen werden müssen. Das heißt nicht, daß alle derselben Meinung sein werden, daß es keine Gespräche, Diskussionen und Streitgespräche geben wird. Sie werden uns aber nicht zurückziehen in die Vergangenheit, sie werden nicht mehr weh tun. Sie werden uns genauso wenig weh tun, wie uns Tschechen nicht mehr der Einfall der Schweden weh tut oder des französischen Militärs oder andere historische Angelegenheiten. Es erwartet uns selbstverständlich ganz viel Arbeit, bevor uns dieser große Stein nicht mehr belastet. Aber wir werden es sicherlich einmal schaffen, daß wir diesen Stein Hand in Hand einmal gemeinsam erklimmen.

Dr. Jan Sumavsky ist Geschäftsführer der Tschechischen Friedensgesellschaft.
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