Logo Friedenskooperative


Erstellt:
November 1997


 nächster
 Artikel

FriedensForum 1/1998


Belarus auf dem Weg zur Diktatur, oder:

Ein Fall für demokratische Solidarität

Gennadij Gruschewoj

Zur Zeit wird Belarus zu einer Quelle der Instabilität in Europa und zur potentiellen Gefahr für das System der kollektiven Sicherheit in dieser Region. Dies ist im wesentlichen mit drei Faktoren verbunden:

- Die Formierung eines autoritären, diktatorischen Regimes des Präsidenten Lukaschenko, der die demokratischen Organe der Gesellschaft zerstört und den Totalitarismus restauriert.

- Die Erweiterung der NATO bis zur Grenze von Belarus, was dem unberechenbaren und aggressiven Präsidenten Lukaschenko ermöglicht, Provokationen zu organisieren.

- Ein enger Kontakt Lukaschenkos mit antidemokratischen Kräften Rußlands mit der Perspektive der Errichtung eines ähnlichen diktatorischen Regimes in Moskau und der Wiederherstellung eines großen östlichen Imperiums. Indem Lukaschenko zum Führer aller Slawen werden will, macht er keinen Hehl daraus, daß für ihn die russischen Atomwaffen dabei eine wichtige Rolle spielen. Unterschätzt man diese Absichten, so wächst dadurch die Bedrohung für Frieden und Stabilität.

Bei den ersten Präsidentenwahlen in Belarus 1994 siegte Lukaschenko mit den Losungen: Wiedervereinigung mit Rußland und Wiederherstellung der UdSSR / Errichtung einer starken staatlichen Macht / Kampf gegen Korruption und Kriminalität. Bei der Formierung seiner diktatorischen Macht lassen sich drei Etappen unterscheiden:

1. Etappe Juli 94 bis Herbst 95

Alle marktwirtschaftlichen Reformen wurden beendet und die totale staatliche Lenkung der Wirtschaft wieder hergestellt. Die Massenmedien inclusive vieler kleinerer Zeitungen wurden der Kontrolle des Präsidenten unterstellt und staatlich zensiert. Dem Präsidenten wurden alle Strukturen der Exekutive untergeordnet und die kommunale Selbstverwaltung liquidiert. Es begannen Repressionen gegen die Opposition und die Arbeit des Obersten Sowjets wurde lahmgelegt.

 zum Anfang2. Etappe Herbst 95 bis November 96

In dieser Zeit versuchte der Präsident den Obersten Sowjet (13. Wahlperiode) sowie die Gerichtsbarkeit, einschließlich des Verfassungsgerichtes, unter seine Kontrolle zu bringen. Er schuf für seine Ziele ein `schwarzes` Budget außerhalb der Kontrolle von Regierung und Oberstem Sowjet. Die nicht-staatlichen, freien Gewerkschaften, die NGOs und demokratische politische Parteien wurden diskriminiert. Repressive Mechanismen sowie das KGB-System wurden wieder errichtet. Dieser Apparat ist dem Präsidenten persönlich untergeordnet.

Um seinen verfassungswidrigen Handlungen Legitimität zu verleihen, entwarf der Präsident eine neue Verfassung, die in einem Referendum abgestimmt werden sollte. Der Oberste Sowjet weigerte sich jedoch, diese zu unterstützen und leitete zusammen mit dem Verfassungsgericht ein Impeachment-Verfahren gegen den Präsidenten ein.

3. Etappe nach dem Referendum am 24. November 1996

Trotzdem führte der Präsident das gesetzwidrige Referendum durch, wobei er die Ergebnisse fälschte. Aufgrund der Referendumsergebnisse löste der Präsident den Obersten Sowjet de facto auf. Danach `legitimierten` die präsidentenhörigen Mitglieder diese Auflösung (aber nicht mit 2/3 der Stimmen). Der Präsident nahm großen Einfluß auf die Besetzung der Repräsentantenkammer - das Unterhaus - sowie des Oberhauses - der Nationalversammlung. Nach der neuen Verfassung kann er z.B. die Hälfte der Mitglieder des Verfassungsgerichtes und seinen Vorsitzenden ernennen, Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen, das Parlament auflösen usw.

Das Referendum und die aufgrund der neuen Verfassung verwirklichte Umgestaltung wurden durch die EU und andere Staaten nicht anerkannt und als staatlicher Umsturz bewertet. Nur Rußland hat die Handlungen Lukaschenkos anerkannt und ihn unterstützt.

Die Gegenwart

Zur Zeit werden in Belarus die wichtigsten Grundrechte und Freiheiten der Menschen unterdrückt und die tätigen Strukturen der Zivilgesellschaft zerstört oder vom Präsidenten instrumentalisiert. Mehr als 2.000 Teilnehmer an Protestaktionen gegen seine Politik sind festgenommen und verurteilt worden, unter ihnen etwa 20 Abgeordnete des Obersten Sowjets der 12. und 13. Wahlperiode. Unabhängige Gewerkschaften, gesellschaftliche Organisationen, humanitäre Initiativen, die Lukaschenko nicht unterstützen, werden Repressionen ausgesetzt. Die Oppositionspresse kann in Belarus nicht gedruckt werden und muß deshalb nach Litauen ausweichen.

Gegen Journalisten der unabhängigen Zeitungen und des russischen Fernsehens wird ein Polizeikrieg mit Verhaftungen und Gefängnis geführt. Das Recht auf eine unabhängige rechtsanwaltliche Verteidigung wurde aufgehoben und im Juni 1997 sogar die Rechtsanwaltschaft verstaatlicht. Auch die internationale, nicht-staatliche, humanitäre Hilfe ist von Behinderungen betroffen. Staatliche Lizenzen für die Wohltätigkeit wurden erforderlich, wodurch auch z.B. die belarussische gemeinnützige Stiftung "Den Kindern von Tschernobyl" behindert wird.

 zum AnfangDie Totalisierung des Staates und der Gesellschaft vernichtet wirtschaftliche und soziale Grundlagen der Unabhängigkeit der Menschen und ihrer Vereinigungen. Ihr Bestreben nach Unabhängigkeit von staatlichen Strukturen wird vom Präsidenten als Opposition gegen ihn gewertet. Lukaschenko hat sich den Staat untergeordnet, er will jetzt alle Seiten und Prozesse des gesellschaftlichen Lebens dem Staat unterordnen.

Stimmen für Lukaschenko

Die soziologischen Untersuchungen zeigen, daß die Gesellschaft heute in zwei antagonistische Gruppen gespalten ist. Unter dem Einfluß der staatlichen Propaganda unterstützt die erste Gruppe die totalitäre Macht des Staates. Diese Wähler des Präsidenten haben ein demokratie- und reformfeindliches Bewußtsein und rechnen für die Lösung ihrer eigenen Probleme mit staatlicher Hilfe, nicht aber mit Eigeninitiative. Sie streben zurück in die "UdSSR". Neben 15-20% der Bevölkerung, die als Alte, Invalide und Kinderreiche objektiv auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, gibt es in Belarus das "Tschernobyl-Sozium", Opfer der Radioaktivitätskatastrophe (25-30%). Beide Gruppierungen sind mehrheitlich die Wähler Lukaschenkos, der die Interessen dieser Gruppen scheinbar artikuliert und gegen Demokratie, Rechtsstaat und marktwirtschaftliche Reformen mobilisiert.

Die zweite Gruppe besteht aus Menschen mit guter Bildung, aus qualifizierten Arbeitern und Fachleuten jungen und mittleren Alters, aus Intellektuellen und Studenten. Sie nehmen aktiv am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben teil, streben demokratische Reformen an und wirken in verschiedenen NGOs mit. Diese Gruppe unterstützt eine Integration mit EU-Europa, wünscht keine Wiederherstellung der Sowjetunion und ist überwiegend in Opposition zum politischen Kurs von Lukaschenko. Diese Gruppe umfaßt jedoch nicht mehr als 30-40% der Bevölkerung und ist mehr in den Städten als auf dem Lande zu Hause. Anzumerken ist allerdings, daß gerade in den radioaktiv verseuchten Gebieten des Landes auch NGOs, wie "Den Kindern von Tschernobyl", ein hohes Ansehen genießen.

Bei der totalen staatlichen Kontrolle über die Massenmedien, die Wirtschaft, den sozialen Bereich, sowie die zivile Gesellschaft werden die angeblichen Wünsche des sozial-passiven Typs der Bevölkerung, die von Lukaschenkos Propaganda als "Volkswille", als die "Wahl des Volkes" dargestellt werden, immer aggressiver formuliert. Dieser Typ bildet gegenwärtig die soziale Basis der Diktatur in Belarus, die bestrebt ist, das politische Bewußtsein und die Fähigkeit zur Selbstorganisation der zweiten aktiv-demokratischen Bevölkerungsgruppe zu brechen.

 zum AnfangLukaschenko weiß selbstverständlich, daß das Potential von Belarus nicht ausreicht, um eine Restauration der Sowjetunion bzw. eines totalitären "asiatischen Reiches" zu verwirklichen. Deshalb strebt er unter der Losung einer "slawischen Vereinigung" eine Union mit Rußland an, allerdings nicht mit dem `demokratischen Rußland`. Er setzt vielmehr auf die Vereinigung mit den Kräften der russischen kommunistisch-patriotischen Opposition, um die demokratischen Bestrebungen in Rußland zu besiegen. Er hofft, auf diesem Wege zum Führer in einem vereinigten russisch-belarussischen Staat zu werden. Auch im jüngsten Kampf gegen die offene Berichterstattung des russischen Fernsehens wurden seine Ambitionen erkennbar. Ganz in dieses Bild paßt die Bemerkung des russischen Parteiführers Shirinowskij angesichts einer drohenden Auflösung der russischen Duma (Parlament), Rußland und Belarus hätten heute bereits einen gemeinsamen Führer, nämlich Lukaschenko. Ihn werde die Duma nach Moskau rufen. Wie realistisch auch immer dieses Drehbuch sein mag, offensichtlich denken führende russische Politiker darüber nach. Schon heute gebärdet sich Lukaschenko wie der neue Führer, wenn er dem Westen als Antwort auf die NATO-Osterweiterung androht, Atomwaffen wieder nach Belarus zurück zu holen. Der Westen sollte die hier angedeuteten Entwicklungen und Ambitionen sehr ernst nehmen.

Demokratisches Potential

Wenn auch die Chancen für eine Rückkehr auf den demokratischen Weg gering zu sein scheinen, so sind sie doch vorhanden. Vor allem ist Hoffnung auf das in der Zeit der Perestrojka entstandene Netz der NGOs und anderer Strukturen der zivilen Gesellschaft zu setzen. Etwa 4.000 Bürgerinitiativen vereinigen viele tausende sozial aktiver Menschen, die in ihrer Mehrheit das diktatorische Regime nicht akzeptieren. Fast alle politischen Parteien und demokratischen Gewerkschaften stehen in Opposition zum Regime Lukaschenkos. Eine immer größere Rolle spielen unabhängige Medien trotz aller Zensurbemühungen der staatlichen Stellen.

Die sich vertiefende wirtschaftliche und soziale Krise ruft zudem bei den bisherigen Wählern Lukaschenkos mehr und mehr Zweifel, Ärger und sogar Wut hervor. Auch die Erwartung einer schnellen Restauration der Union erfüllt sich nicht. Für Lukaschenko wird es immer schwieriger, zu seiner Entlastung neue Schuldige für die Misere in Belarus zu präsentieren. Er muß bald seinem Beamtenapparat die Schuld zuschieben, was jedoch seine Macht weiter untergraben würde.

Für eine Rückkehr zu einer demokratischen Entwicklung in Belarus könnte eine koordinierte und aktive Politik der westlichen Regierungen, der Nachbarstaaten und Rußlands sehr hilfreich sein. Die Unterstützung von Programmen der NGOs in Belarus, eine bedeutende Erweiterung der internationalen humanitären Hilfe für die Bevölkerung, die durch Tschernobyl betroffen ist, die Entfaltung von sozialen und professionellen Kontakten mit sozialen Gruppen in Belarus, eine Bildungsförderung für die Jugend und Information der Bevölkerung über die Möglichkeiten der wirtschaftlichen und demokratischen Reformen - das alles würde helfen, das Bewußtsein der Bevölkerung so auszuweiten, daß sie selbst die Propaganda Lukaschenkos durchschauen könnte.

 zum AnfangFerner ist es wichtig, eine allseitige Berichterstattung über die Verhältnisse und Ereignisse in Belarus durch die westlichen Medien zu erreichen. Derzeit gibt es in Belarus leider keine einzige Niederlassung der westlichen Presse und keinen einzigen ständig vor Ort arbeitenden westlichen Journalisten.

Ein Prozeß der Rückkehr zu demokratischerer Entwicklung könnte mit der Durchführung von Parlamentsneuwahlen beginnen. Das würde der Opposition eine Rückkehr in die Politik und zu parlamentarischen Formen des Konfliktaustrages ermöglichen und den Weg zu neuen Präsidenten- und Kommunalwahlen eröffnen. Dadurch könnten Konflikteskalationen vorgebeugt und Wege zu einem friedlichen Wandel beschritten werden. Freilich wird sich Lukaschenko auf einen solchen Weg nur einlassen, wenn die internationale Gemeinschaft, wie auch große Teile der Bevölkerung, ihre Unterstützung für einem demokratischen Weg von Belarus unmißverständlich deutlich machen.

Dr. Gennadij Gruschewoj (1950), Professor für Philosophie am Institut für modernes Wissen in Minsk (Belarus);

1989 einer der Begründer der demokratischen Bürgerbewegung, Leiter der 1989 von ihm gegründeten und heute größten wohltätigen Organisationen in Belarus, der Stiftung "Den Kindern von Tschernobyl";

Mitglied des Obersten Sowjet der 12. und 13. Wahlperiode (das belarussische Parlament ist gegenwärtig durch den Präsidenten Lukaschenko gesetzwidrig aufgelöst);

als früherer Leiter der christlich-demokratischen Partei von Belarus (1996) und seit Februar 1997 als Koordinator der Vollversammlung der Nichtregierungsorganisationen in Belarus (einer Vernetzung von mehr als 250 NGOs), ist er seit der Errichtung der präsidialen Diktatur in Belarus im November 1996 massiven Repressalien ausgesetzt. Seine Tätigkeit wird kriminalisiert.


Artikeldienst der deutschen HCA-Sektion, November 1997, Augustastr. 41, 53173 Bonn, Tel. 0228/361830, Fax: 0228/365106

E-Mail:   HCAGermany@aol.com
 zum Anfang

 nächster
 Artikel

Übergeordnetes Thema:

Krisen und Konflikte
Krisen und Konflikte

Einige weitere Texte (per Zufallsauswahl) zum Thema

Regionale Konflikte:
FriedensForum 4/97 - Indonesien
FriedensForum 4/97 - Krise in Albanien
FF2/98 - Bougainville
FF5/98 - Chiapas auf dem Weg zum Frieden?
FF5/98 - Demokratie beginnt zu blühen
Eritrea: Eindrücke aus dem Kalten Krieg