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Erstellt:
Januar 1998


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FriedensForum 1/1998


Aufruf zum Mitwirken bei der Demokratie

TÜSIAD

(...) Als gemeinnütziger Verein, als ehrenamtliche Organisation der zivilen Gesellschaft, hat die TÜSIAD infolge ihrer Bemühungen auf diesem Sektor eine führende Rolle bei der Einführung des Systems der freien Marktwirtschaft in der Türkei übernommen.(...)

In der Türkei hat sich gezeigt, daß der Bestand der freien Marktwirtschaft langfristig nur in einem politischen System pluralistischer Demokratie mit möglichst breiter Partizipation und Kanälen für den Dialog über den gesellschaftlichen Konsens gesichert werden kann. Daher hat sich die Aufmerksamkeit gemeinhin auf die Faktoren gerichtet, welche die Entwicklung der wirtschaftlichen und politischen Demokratie im Lande verlangsamen; Faktoren, die von der Geschichte der Türkei, von der institutionellen Struktur und der politischen Kultur herrühren.

Während sich die TÜSIAD unter diesem Gesichtspunkt mehr und mehr darauf konzentriert hat, die notwendigen wirtschaftlichen Strategien für eine Türkei des Jahres 2000 zu schaffen, hat sie sich auf der anderen Seite teilweise auch darum bemüht, die Defizite bei den vorhandenen demokratischen politischen Strukturen aufzudecken. Die Arbeiten mit dem Titel "Unsere Gesetze, unsere Rechte", erschienen im Jahre 1989-90, der Verfassungsentwurf, der von 9 Universitätsdozenten erarbeitet, dem Parlamentspräsidenten vorgelegt und von diesem veröffentlicht wurde, sowie weitere drei Arbeiten, erschienen in den Jahren 1993-96, die eine Umstrukturierung der öffentlichen Verwaltungen vorsehen und Diskussionen über das Wahlsystem ausgelöst haben, sind die Produkte dieser Anschauungen.

 zum AnfangIst es denn allein die Meinung der TÜSIAD, daß die Probleme der Türkei nur auf dem Boden wirtschaftlicher und politischer Demokratie gelöst und die Entwicklung des Landes nur so beschleunigt werden kann? Nein. Die Tatsache, daß die Türkei im Jahre 1995 die Zollunionvereinbarung unterzeichnet hat, hat uns gezeigt, daß die Integration mit Europa für die Türkei eine Staatspolitik darstellt. Und daran, daß die Bemühungen zu jener Zeit große Unterstützung seitens der Öffentlichkeit fanden, erkennt man, daß auch bedeutende Teile der Gesellschaft die gleichen Ziele verfolgen. Auch weiß mittlerweile jeder, daß die Demokratie in Wirtschaft und Politik die Grundvoraussetzung für die Integration mit Europa ist. Andererseits hat die Tatsache, daß die Wörter Konsens und Dialog bei der Besprechung fast jeder Frage zu unverzichtbaren Begriffen geworden sind, oft genug deutlich gemacht, wie stark die Sehnsucht nach demokratischen Voraussetzungen ist.

Unvermeidlich also, daß sich auf politischer und sozialer Ebene gewisse Widerstände formieren, die sich der Entwicklung des Landes hin zu einem offeneren, transparenteren System mit mehr Beteiligung entgegenstellen; und daß diese an Stärke gewinnen, hat nicht zuletzt die wirtschaftliche und politische Konjunktur zu verantworten. Somit hat die Entwicklung nicht etwa in der Richtung stattgefunden, daß die Demokratie sich über alle Bereiche ausgebreitet und etabliert hätte, sondern sie vollzog sich genau entgegengesetzt. (...)

Während die TÜSIAD unter diesen Umständen vorwiegend bemüht war, geordnete Verhältnisse in die türkische Wirtschaft zu bringen und so der Wirtschaft zu Stabilität zu verhelfen, hat sie auch betont, daß es notwendig ist, die Schwächen der Demokratie zu beseitigen, damit nicht politische Instabilität diesen Weg versperrt. Dieses Thema (...) wurde im Jahre 1996 auf die Tagesordnung des Vereins gesetzt. (...)

Wenn wir auf das zurückblicken, was wir in der Zeit erlebt haben, als die Arbeit "Perspektiven der Demokratisierung in der Türkei" kurz vor der Veröffentlichung stand, stellen wir erneut fest, daß sie die Öffnung bewirken könnte, der die Türkei schon seit längerem bedurfte. Während die letzten Korrekturen an der Arbeit vorgenommen wurden, waren die Medien von Schlagzeilen mit der Nachricht beherrscht, daß die Ermittlungen bezüglich dem Susurluk Skandal abgeschlossen seien und 35 Personen der Justiz überantwortet würden. (...) Und während der Todestag des Özdemir Sabancy sich erstmalig jährte, habe einer der Täter dieser verräterischen Tat seine Schuld eingestanden. Auch der Todestag des Journalisten Metin Göktepe, der in Gewahrsam ums Leben gekommen war, jährte sich, während andererseits gemeldet wurde, daß die Diebe, die den Leichnam des Vehbi Koç aus dem Grab gestohlen hatten, eines Mannes, der in der Türkei die Liebe und Achtung der ganzen Nation genoß, gefaßt worden wären.

 zum AnfangAll diese Ereignisse zeichnen ein beschämendes Bild der Demokratie, der Menschenrechte, sauberer Politik, sauberer Führung und der Menschheit. In allen Teilen der Gesellschaft breitete sich tiefes Mißtrauen gegenüber diesem oder jenem Teil oder auch dem gesamten System aus. Während einerseits innere Spannungen zunehmen, setzt man andererseits die Hoffnung in die "äußeren Feinde" mit ihren Tendenzen, die nationale Einheit zu gefährden. (...)

Brauchen wir tatsächlich eine solche Arbeit?

Ja. Denn diese Arbeit orientiert sich an den westlichen Demokratien. Da die Verfasser dieser Arbeit keinerlei Anspruch auf die politische Macht erheben können, wurde sie ohne kurzfristige politische Bestrebungen erstellt, und hält dadurch gleichermaßen Abstand zu allen Kräften der politischen Bühne. In dieser Arbeit wird unser Rechtssystem als Ganzes behandelt, kein Faktor wird aus konjunkturellen Gründen oder politischen Erwägungen heraus übergangen. Was Sie in der Hand halten, ist eine Arbeit, die vollständig und konsequent ist. Sie ist nicht de-, sondern konstruktiv, kritisiert das System, macht aber auch Verbesserungsvorschläge. Es werden äußerst bedeutende Veränderungen vorgeschlagen, um die Entwicklung der Demokratie in der Türkei voranzutreiben, doch soll der Wandel innerhalb des Systems und durch einen sanften Übergang erfolgen.

Ist es an der Zeit, eine solche Arbeit der Öffentlichkeit vorzustellen?

Die TÜSIAD hat sich aufgemacht, die notwendige demokratische Infrastruktur festzulegen, damit die Türkei auf den Stand der entwickelten westlichen Länder gelangen und wirtschaftliche wie politische Stabilität gesichert werden können. Da sie keine Institution innerhalb des politischen Kampfes ist, kann sie nicht davon ausgehen, daß die politischen Voraussetzungen günstig sind. Demokratie ist sowohl für die TÜSIAD als auch für die Türkei kein konjunkturelles, sondern ein prinzipielles Problem.

Dazu kommt, daß es in einer Zeit, da jeden Tag neue Mißstände aufgedeckt werden und die Menschen ihr Vertrauen in das System verlieren, der starke Wunsch aller ist, daß das System sich selbstkritisch betrachten und seine eigene Lösung finden kann. Es wird erwartet, daß das Thema "Susurluk-Skandal" nicht damit abgeschlossen wird, daß die Schuldigen erkannt und für einige Jahre hinter Gitter gebracht, sondern daß die Schwächen des Systems beseitigt werden. Die Lösung ist mehr Demokratie, und die türkische Öffentlichkeit ist bereit, diese Lösung anzuhören, zu diskutieren und sich für sie einzusetzen.

Ist all dies Aufgabe der TÜSIAD?

Es ergibt sich aus der Mission der TÜSIAD, sich mit diesem Thema zu befassen. (...) Doch nicht allein die TÜSIAD, sondern jeder Staatsbürger der Republik Türkei, jede Einrichtung der zivilen Gesellschaft, die als Sprachrohr der freien Wünsche der Bürger tätig wird, muß sich dafür einsetzen, daß sich die Demokratie in diesem Land entwickelt und etabliert, denn davon hängt unsere Zukunft ab. Die Zukunft der Türkei liegt nicht darin, sich von der Welt zu distanzieren, sondern mit den Entwicklungen in der Welt mitzuhalten. Die Welt hebt die Barrieren, die sich zwischen ihr und der Demokratie befinden, Stück um Stück auf. Beziehungen in Wirtschaft und Politik können sich mittlerweile unabhängig von Demokratie und Menschenrechten nicht mehr entwickeln.

 zum AnfangDie Türkei kann den Aufstieg des Landes nicht dadurch beschleunigen, daß sie die Zusammenarbeit mit den noch unterentwickelteren Ländern stärkt, sondern indem sie mit den entwickelteren Ländern kooperiert; so kann sie ihrer Wirtschaft die nötige Wettbewerbsfähigkeit für das 21. Jahrhundert sichern. Nicht dem Status Quo, sondern dem angestrebten Ziel gemäß müssen wir unser Vorgehen organisieren. Wir müssen uns die Demokratien der entwickelten westlichen Länder zum Vorbild nehmen. Wir müssen erkennen, daß mehr Demokratie in der Türkei dazu beiträgt, den gesellschaftlichen Konsens und politische und wirtschaftliche Stabilität zu sichern. Wenn wir, anstatt in Hoffnungslosigkeit zu verfallen oder uns auf oberflächliche Lösungen zu versteifen, uns grundlegenden Lösungen zuwenden, dann wird auch das Vertrauen in den Staat und die Demokratie gestärkt. Außerdem wird es sich positiv auf das Image der Türkei im Ausland auswirken.

Zweifelsohne wird diese Arbeit an sich nicht zu mehr Demokratie führen, und es steht auch nicht in der Macht der TÜSIAD, diese zu realisieren. Denn das kann allein dadurch geschehen, daß diejenigen, die die in dieser Arbeit aufgeführten Perspektiven befürworten, (...) daß ihre Organisationen, Einrichtungen der zivilen Gesellschaft, Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände sowie Verbände Industrieller und Geschäftsleute gemeinsam dafür kämpfen und all ihre dahingehenden Forderungen über die politischen Parteien dem Parlament vortragen.

Wenn wir dennoch denken, es sei nicht die Zeit für all dies, und all das ginge uns nichts an, dann müssen wir als eigentliche Herren des Landes, als diejenigen, die ihre Vertreter mit gewissen Vollmachten bestückt ins Parlament geschickt haben, als Einrichtung der zivilen Gesellschaft, die aus dem freien Willen dieser Menschen heraus gegründet wurde, uns folgende Frage stellen: "Wenn nicht wir, dann wer; wenn nicht jetzt, dann wann?"

VORSTAND DER TÜSIAD

20. Januar 1997

Im gemeinnützigen Verband TÜSIAD haben sich die wesentlichen größeren Betriebe der türkischen Privatindustrie zusammengeschlossen.
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