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Erstellt:
März 1998


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FriedensForum 2/1998


Die "Schurken-Doktrin" der USA

Die neue Militärdoktrin und die Politik gegenüber Irak

Eric Chauvisté

In den vergangenen Tagen und Wochen steuerten die USA zielstrebig auf einen erneuten Militärschlag gegen Irak. Es ist fraglich, ob und wie lange die neuen Rüstungskontrollvereinbarungen Bestand haben werden. So ist und bleibt die nachfolgend dokumentierte Studie zur Feindbildproduktion der US-Amerikaner von Interesse.

Als Präsident Bill Clinton im September 1993 erstmals vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen sprach, stellte er die Problematik der Verbreitung von Massenvernichtungsmitteln in einen völlig neuen Zusammenhang. "Wenn wir die Proliferation der tödlichsten Waffen der Welt nicht stoppen", so der Präsident der Atommacht USA, "kann sich keine Demokratie sicher fühlen."

Diese Verbindung zwischen der Berechtigung, Atomwaffen zu besitzen einerseits, und der inneren Struktur eines Staates, war ein entscheidender Bruch mit der bis dahin geltenden US-Politik. Zwar hatte es in der langen Geschichte der Versuche, den Zugang zu Atom-, Chemie- und Biowaffen zu kontrollieren, oft Kontroversen und Richtungsänderungen bezüglich der angemessenen Mittel und der angestrebten Ziele gegeben. Doch stets gab es einen Konsens darüber, daß die Versuche, die Verbreitung dieser Waffen zu verhindern, allein durch deren negativen Auswirkungen auf Abrüstungsbemühungen einerseits, und die steigende Wahrscheinlichkeit ungewollter Kriege andererseits, gerechtfertigt waren.

Dies war zumindest die offizielle Linie der US-Politik. In der Praxis wurde stets zwischen "guten" und "schlechten" Waffenbesitzern, potentiellen und tatsächlichen, unterschieden. So war Israel selbstverständlich nie das Ziel von Sanktionen, obwohl bekannt ist, daß es seit langem ein beträchtliches atomares Arsenal hat und auch über andere Massenvernichtungsmittel verfügt. Selbst die Bestrebungen des Apartheidregimes in Südafrika, sich Atomwaffen zu beschaffen, wurden sowohl von den USA als auch von westeuropäischen Regierungen stillschweigend toleriert. Bedenken gegenüber den pakistanischen Waffenprogrammen wurden kurzerhand zurückgestellt, als das Land für den militärischen Nachschub der anti-sowjetischen Mudschaheddin in Afghanistan gebraucht wurde. Das Ergebnis war in beiden Fällen fatal: Die Regierung de Klerk legte kurz vor der Übergabe der Regierungsgeschäfte an Mandela offen, daß sie sechs Atomwaffen gefertigt hatte. Das pakistanische Atomprogramm ist soweit gediehen, daß die Einzelteile der Bomben jederzeit zu einem einsatzfähigen Sprengsatz zusammengesetzt werden können.

 zum AnfangDie inkonsequente Nonproliferationspolitik der USA und Westeuropas hat auch das Ausmaß der Rüstungsbemühungen Iraks erst ermöglicht. Iraks Anstrengungen, sich Atom-, Chemie- und Biowaffen zu beschaffen, wurden solange geduldet, wie Irak in den Außen- und Verteidigungsministerien in Washington, London und Bonn als Quasi-Alliierter gegenüber Iran galt. Die Einfachheit, mit der deutsche, britische und US-amerikanische Firmen die Rüstungsprogramme Iraks beliefern konnten, lag nicht allein an den unzureichenden Exportkontrollen, sondern auch an dem fehlenden politischen Willen, Bagdad Einhalt zu gebieten.

Trotz dieser Fälle von Inkonsequenz in der Nichtverbreitungspolitik der USA hatte es bis zum Ende der Ost-West-Konfrontation keine explizite Erklärungen gegeben, die darauf abzielten, eine solche Politik allgemein zu rechtfertigen. Nun aber soll eine generelle Unterscheidung gemacht werden zwischen solchen Staaten, die nach Auffassung der militärpolitischen Elite der USA Massenvernichtungswaffen besitzen dürfen und solchen, denen dies mit allen Mitteln verwehrt werden muß.

Dieser Bruch in der offziellen US-Politik wurde deutlich mit der Entwicklung und Akzeptanz einer Linie, die mitunter auch als "Rogue Doctrine" bezeichnet wird. Verfechter dieser "Schurken-Doktrin" gehen davon aus, daß es eine - nicht klar definierte - Gruppe von Staaten gibt, die sich nicht der ansonsten vermeintlich liberal-demokratischen Weltordnung fügen und deshalb ausgegrenzt und im Zweifelsfall militärisch bekämpft werden müssen.

Erste Anzeichen für die Entwicklung der neuen Doktrin waren in den späten 80er Jahren erkennbar, zu einer Zeit, als sich die Ost-West-Konfrontation abschwächte und - zunächst unabhängig davon - die weltweiten mobilen Eingreifkapazitäten der USA anwuchsen. In Europa setzte bald nach dem Amtsantritt Gorbatschows 1985 eine Entspannung ein, während die USA bereits 1979 durch die iranische Revolution ihren wichtigsten Alliierten im Persischen Golf verloren hatten. Der Aufbau des US-Militärapparates rund um den Persischen Golf setzte unmittelbar nach dem Machtwechsel in Teheran ein.

 zum AnfangSchutz der Ölressourcen

Der Krieg gegen Irak 1991 hätte ohne den Aufbau des US "Central Command" oder CENTCOM nicht in dem gesehenen Ausmaß stattfinden können. Obwohl der Rüstungsaufbau von Anfang an auf die Kontrolle der regionalen Ölstaaten ausgerichtet war, konnte er bis Ende der 80er Jahre doch noch mit der vermeintlichen Bedrohung aus dem Osten rechtfertigt werden: Es galt, so die offizielle Begründung, die Ölressourcen des Westen gegen den Zugriff der Sowjetunion zu schützen.

Mit dem endgültigen Ende der Ost-West-Konfrontation geriet diese US-Politik jedoch in eine Legitimationskrise. Die weltweite Militärpräsenz war stets durch die Opposition zur Militärmacht Sowjetunion gerechtfertigt worden. Ein solch mächtiger Kontrahent war nun nicht mehr in Sicht. Erstmals in ihrer Geschichte waren die USA damit zu einer globalen und unangefochtenen Militärmacht geworden - und dies ohne Aussicht auf einen ebenbürtigen Kontrahenten. Dem gerade erreichten Status, der den USA bislang unerreichte Macht und Schutz gab, stand jedoch, sowohl in der militärisch-politischen Fachliteratur des Landes als auch in den Massenmedien, eine Rhetorik gegenüber, die das Bild einer unkontrollierbaren und für die USA bedrohlichen Welt zeichnete. Auf dem Höhepunkt militärischer Macht wurde wie nie zuvor die Verwundbarkeit der Weltmacht gepredigt. Der Feind war nun nicht mehr eine ungeliebte, aber respektierte Sowjetunion, sondern ein Haufen unbekannter und vermeintlich unberechenbarer "Schurken", die nichts anderes im Sinne haben sollten, als die USA zu bedrohen. Bis hin zu den benutzten Begriffen ("renegades", "bad guys") gibt es auffällige Parallelen zur Diskussion über den Zugang zu Handfeuerwaffen in den USA. Auch in dieser innenpolitischen Debatte dominierten ja diejenigen, die Waffen dann für kein Problem halten, wenn sie in den Händen vermeintlich verantwortungsvoller Bürger sind. (...)

Wenn das Konzept von den "Rogues" auch noch so vage und für unsere komplizierte Welt unbrauchbar scheint, seine Entwicklung war ein gelungener Schachzug der militärpolitischen Elite in den USA. Sowohl innenpolitisch als auch auf internationaler Ebene wurde ein vermeintlich umfassendes Konzept wie das der "Rogue Doctrine" dringend gebraucht. Nur eine solche neue Doktrin, zudem eine mit moralischem Anspruch, gab der weltweiten militärischen Präsenz der Vereinigten Staaten die nötige Legitimation. (...)

Suche nach dem neuen Feind

Nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation gab es vier Möglichkeiten, dem US-Militär eine neue Rolle zu verschaffen. Zum einen konnte es auf eine vermeintliche Bedrohung durch kleine, sogenannte "low intensy"-Konflikte ausgerichtet werden. Dies hätte aber eine konstante Weltpolizisten-Rolle der USA bedeutet und wäre nach den Erfahrungen in Vietnam und Mittelamerika nicht auf breite Unterstützung getroffen, weder unter der eigenen Bevölkerung noch bei den Alliierten der USA. Zudem hätte ein solches Bedrohungsszenario nicht einen riesigen, alle Waffengattungen umfassenden Militärapparat rechtfertigt.

 zum AnfangDie zweite Möglichkeit bestand darin, sich schlicht auf einen unbekannten Feind einzustellen. Dies wäre zwar den Militärs recht gewesen, doch zur Legitimation der hohen Militärausgaben gegenüber dem Kongreß und den Medien hätte eine solch anonyme Bedrohung nicht ausgereicht.

Als dritte Option bot sich die Konzentration auf einen neuen, halbwegs ebenbürtigen Feind. Doch ein solcher war schwer zu finden. Die stärksten Militärmächte waren schließlich Verbündete der USA, und gerade erst hatte man gemeinsam den vermeintlichen Sieg im "Kalten Krieg" gefeiert. Auch die neu gewonnenen Partner und Alliierten in Osteuropa kamen natürlich nicht als Erzfeinde in Frage.

Erstaunlich wenig Aufmerksamkeit erhielt die aufstrebende Militärmacht China. Dabei hätte sich das Land schon deshalb als legitimierender Feind gut geeignet, weil es in Menschenrechtsfragen dem alten Feind Sowjetunion in keiner Weise nachstand. Doch der Möglichkeit, China als neuen Feind zu küren, stellten sich wohl massive wirtschaftliche Interessen in den Weg. Außerdem verbindet China und die USA eine lange Geschichte der Geheimdienstkooperation.

Zur Auswahl standen also schließlich nur noch Staaten, die von Pentagon-Strategen unter dem unschmeichelhaften Kürzel "ROW" für "Rest of World" abgehandelt werden. Im "Rest der Welt", also allen Staaten außerhalb der traditionellen Militärblöcke NATO und Warschauer Vertrag sowie Chinas, war es allerdings schwierig, Militärmächte zu finden, die die USA ernsthaft zu bedrohen in der Lage waren. Um moderne Waffen zu beschaffen, zu warten und auch einzusetzen, ist eine aufwendige Infrastruktur notwendig, die sich keiner der "ROW"-Staaten leisten könnte.

Dem Bestreben, neue Bedrohungsszenarien und Feinde zu finden, kamen jedoch zwei Tendenzen entgegen. Zum einen die sich verbreitende Fähigkeit von immer mehr Staaten, Atom-, Chemie- und Biowaffen zu entwickeln, zum anderen die wachsende ablehnende Haltung solchen Waffen gegenüber in der öffentlichen Meinung weltweit. Die Friedensbewegungen der 80er Jahre und deren Protest gegen Atomwaffen, vor allem in Westeuropa und den USA, hatten langfristig einen merklichen Effekt erzielt. (...)

Durch die simple Weltsicht einer demokratischen Welt einerseits und einer undemokratischen Welt andererseits wird die gefährliche Illusion einer klaren Grenze zwischen "guten" und "bösen", berechenbaren und unberechenbaren Staaten geschaffen.

Bedenklich ist die These vom "liberalen Frieden" vor allem deshalb, weil sich aus der Behauptung, die demokratische Welt sei grundsätzlich friedlich und die undemokratische Welt sei grundsätzlich unfriedlich, einige potentiell gefährliche Schlüsse ziehen lassen: Zum einen bedeutet dies nämlich, daß Konfliktlösungen mit nichtdemokratischen Staaten unmöglich sind und daher alle Verhandlungsansätze zum Scheitern verurteilt sind. Zum anderen führt diese Aufteilung der Welt in letzter Konsequenz dazu, Kriege gegen Nicht-Demokratien gutzuheißen, da ein solcher Krieg womöglich der einzige Weg wäre, diese nicht-demokratischen Staaten ins "liberale Lager" zu bringen und damit einer endgültig friedlichen, liberalen Weltordnung näher zu kommen.

 zum AnfangSchließlich läßt sich aus der These des "demokratischen Friedens" auch ableiten, daß Abrüstung demokratischer Staaten überflüssig, wenn nicht gar kontraproduktiv ist. Stimmt die These, wären Demokratien ja friedlich, egal wie hochgerüstet sie sind. Aufrüstung wäre sogar friedensfördernd: Denn je besser gerüstet eine "liberale Demokratie" für einen Krieg mit dem "undemokratischen Lager", desto größer ihr Beitrag für den Weltfrieden. (...)

Erste Ansätze der "Rogue Doctrine" wurden schon vor dem Einmarsch Iraks in Kuwait entwickelt, also bevor die militärpolitische Elite der USA den Irak vom stabilisierenden Faktor am Persischen Golf zum destabilisierenden bösen "Schurken" umdefinierte. Als die vom Westen unterstützte Militärmacht nicht mehr gegen Iran und die kurdische Bevölkerung im eigenen Land, sondern gegen einen ölreichen Verbündeten der USA gerichtet wurde, paßte Irak hervorragend in das Schema der "Schurken-Doktrin". Der Staat, der kurz zuvor noch militärische Unterstützung durch die USA erhalten hatte, etwa durch Zugang zu US-Militärsatelliten, wurde über Nacht zum Hauptfeind erklärt. Fortan wurde er gebraucht, um die "Schurken-Doktrin" zu untermauern.

Seitdem machte die "Rogue-Doctrine" es den USA praktisch unmöglich, abgestuft auf Irak zu reagieren. Laut Beschluß des UN-Sicherheitsrates sollte das Embargo gegen Irak nur solange andauern, bis Bagdad die Forderungen der Waffenstillstandsresolutionen erfüllt hatte. Die USA machten dagegen von Beginn an klar, daß sie auch bei Erfüllung der Forderungen kein Ende der Sanktionen gegen Irak zulassen würden.

Eine solche Linie hatte natürlich zur Folge, daß es kaum Anreize für Irak gab, die Forderungen der Sicherheitsratsresolutionen zu erfüllen. Die Politik der USA konnte dennoch einige Jahre lang funktionieren, weil Bagdad die Arbeiten der UN-Inspekteure in der Tat ständig behinderte. Es mußte aber zu dem Punkt kommen, an dem die Unterstützung für eine solche US-Politik seitens der Verbündeten der USA, sowohl in Europa als auch in der Golfregion, nachlassen würde.

Wer ist der nächste Kandidat?

Die Entwicklung der "Rogue Doctrine" war ein genialer Schachzug der militärpolitischen Elite der USA, um die Legitimationskrise des US-Militärs zu überwinden. Sie benötigt jedoch einen dauernden Spannungszustand mit zumindest einem designierten "Schurken". Es ist durchaus möglich, daß Irak den USA den Gefallen tut und weiter als Feind posiert. Sollte sich Irak aus der Rolle zurückziehen, wird sich Washington wohl auf einen der anderen Kandidaten stürzen oder die Liste der "Rogues" erweitern.

 zum AnfangAufgeben wird Washington die "Schurken-Doktrin" nicht. Es bestünde sonst die Möglichkeit, daß die immensen US-Arsenale an ABC-Waffen genauso in Frage gestellt würden wie die weltweite militärische Infrastruktur der Vereinigten Staaten.

Eric Chauvistré ist Friedensforscher und Journalist. Der Beitrag beruht auf einem englischsprachigen Manuskript über die aktuelle US-Atomwaffenpolitik und wurde vom Autor für die Veröffentlichung in der Frankfurter Rundschau - Dokumentation - (5.2.98) stark überarbeitet. Wir haben den Artikel stark gekürzt.
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