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Erstellt:
Mai 1998


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Die Palästinenser gedenken ihrer Tragödie

Michael Schlickwei

"Und eines Tages wird eine Blume unter all den Blumen meines Landes, oder ein Löwenjunge zwischen allen Löwenjungen der Heimat hervortreten und hoch über diesen Mauern die Flagge Palästinas hissen." Nur wenige Tage, nachdem der israelische Präsident Ezer Weizmann die Feierlichkeiten anläßlich des 50. Jahrestags der Staatsgründung Israels eröffnete, sprach Yassir Arafat in Ramallah davon, spätestens 1999 einen palästinensischen Staat mit Jerusalem als seiner Hauptstadt auszurufen. Der Anlaß seiner Rede: die 50. Wiederkehr der Al Nakbah. Al Nakbah meint Katastrophe oder Desaster und bezieht sich auf die Niederlage der arabischen Armeen 1947/48 gegen Israel und dem damit einhergehenden Verlust der Heimat von schätzungsweise einer halben Millionen Palästinenser/innen, die damals aus dem jetzigen Staatsgebiet Israels flüchteten. Doch trotz dieser Ankündigung Arafats in seiner Rede, die er in den letzten Jahren in regelmäßigen Abständen wiederholt und damit reflexhaft den Protest Netanjahus provoziert, setzen die Palästinenser/innen bei den Veranstaltungen anläßlich der nakbah ihren Schwerpunkt ganz eindeutig mehr auf die Darstellung ihrer eigenen Kultur als auf die politische Auseinandersetzung zwischen den beiden beiden Nationen. Standen in den früheren Jahren die Kritik an Israel`s Weigerung, arabische Rechte anzuerkennen, seine Ablehnung der verschiedenen UN-Resolutionen oder seiner Mißachtung internationaler Gesetze im Mittelpunkt palästinensischer Aktivitäten, überwiegt nun die Rückbesinnung auf die eigene leidvolle Geschichte. Auch die Teilnahme von vielen arabischen Israelis aus dem Galilee bei der Eröffnungsveranstaltung in Ramallah deutet daraufhin, daß es den Organisatoren mehr um den Versuch geht, die kulturellen Wurzeln als Klammer für die arabische Bevölkerung im ehemaligen osmanischen Verwaltungsbezirk Palästina hervorzuheben, unabhängig, unter welcher Regierung sie nun leben.

 zum AnfangEin Hauptaugenmerk legen die Veranstalter dabei auf die ca. 400 während des Krieges in den Jahren 47/48 zerstörten palästinensischen Dörfer. So sollen Kinder ein traditionelles palästinensisches Modelldorf errichten, wie es bis 1948 existiert haben könnte. Auf Veranstaltungen sollen Überlebende als Augenzeugen nicht nur von ihrer Vertreibung berichten, sondern auch vom alltäglichen Leben vor der nakbah berichten. Die Kinder aus den Flüchtlingslagern sollen in einer Buchserie mit Bildern und Geschichten ihr Leben darstellen, palästinensische Filmfestivals, Literaturtage und Kunstausstellungen stehen im Mittelpunkt. Damit sieht der arabische-israelische Journalist Rhami Khoury denn auch eine neue Ebene der Auseinandersetzung heraufziehen: Neben den Konflikten der Armeen, der Ökonomie und der Diplomaten entbrennt eine "Schlacht zwischen den persönlichen Erinnerungen, kulturellen Identitäten, angestammten Wohnsitzen und den kollektiven Rechten, die um dasselbe Stück Land gehen" (Haaretz, 1.4.98).

Dabei vollzieht sich nach Auffassung von Khouri ein entscheidender Wandel im Bewußtsein der Palästinenser: Die wichtigste Dimension der diesjährigen Gedenkveranstaltungen der Palästinenser liegt seiner Meinung nach in der Abkehr von dem Bewußtsein, das eigene Haus, Dorf oder Land verloren zu haben hin zu dem Wissen, es nach wie vor zu besitzen und einen ewigen Anspruch darauf zu haben. "Die Palästinenser, die in ihrem eigenen, hauptsächlich von den Juden gemachten Babylon des 20sten Jahrhunderts leben, haben das Land ihrer Vorfahren nicht nur nicht vergessen, sie haben es sich neu geschaffen, tragen es mit sich herum, wo immer sie auch leben." Unter anderem sollen an allen Orten, die 1948 zerstört oder von jüdischen Einwanderern besiedelt wurden, Gedenksteine errichtet werden. Im April d.J. wurde in Shfaram, einer arabischen Stadt bei Nazareth, eine Gedenkstätte für diejenigen, die im 48er Krieg umkamen, eröffnet. Mehr als 800 000 USD wurden speziell für diesen Zweck im Ausland gesammelt. (Haaretz, 1.4.98)

Da sich das palästinensische Nationalbewußtsein in der Auseinandersetzung mit dem Zionismus erst entfaltete und seinen wichtigsten Ausdruck immer im Widerstand gegen die Aktivitäten der Zionisten fand, interpretiert Khouri diese von ihm ausgemachte Entwicklung als eine neue Parallele: "Millionen von Palästinenser/innen sitzen in diesem Jahr jeden Tag zusammen und erinnern ihre Dörfer in Palästina. Genauso wie es das jüdische Volk einmal tat in ihrer eigenen qualvollen Weise, in ihrem eigenen leidvollen Exil." (Haaretz, 1.4.98)

 zum AnfangUnterstützung bekommen die Palästinenser/innen seit gut 10 Jahren aus Israel selbst. Israelische Historiker haben mit Hilfe neu zugänglichen Archivmaterials ein neues Bild von den Kriegswirren 47/48 entworfen. Alte Vorstellungen, wie z.B. die, daß die Arabische Liga die Palästinenser aufgerufen habe, ihre Dörfer zu verlassen, mußten revidiert werden. Heute läßt sich in Israel nur noch schlecht leugnen, daß nicht nur die Terrorgruppen der rechten zionistischen Gruppen um Begin und Shamir Dörfer zerstört und die Bevölkerung massakriert haben. Auch reguläre Einheiten der Haganah haben auf Anweisung oder selbständig die zivile Bevölkerung vertrieben. Der Historiker Benny Morris hat in seinem in Israel spektakulär aufgenommenen Buch "The Birth of the Palestinian Refugee Problem" die Situation von 369 palästinensischen Dörfern und Städten im israelischen Staatsgebiet analysiert und ist zu dem klaren Ergebnis gekommen, daß lediglich in sechs Fällen die Bevölkerung infolge der Aufforderung durch die lokalen Behörden ihre Dörfer verlassen hatten. Auch können die "Neuen Historiker" belegen, daß durch die innerarabischen Widersprüche und Konflikte die militärische Balance längst nicht so unausgewogen war, wie immer behauptet. Vieles spricht dafür, daß der jordanische König andere Ziele verfolgte als beispielsweise Ägypten. Ihm ging es vor allem um die Eroberung der Westbank gemäß des UN-Teilungsplanes, wovon die israelische Regierung nach Geheimtreffen zwischen dem König und Golda Meir zumindest ausgehen konnte. Damit, sowie mit dem Abräumen weiterer konstitutioneller Mythen über die Gründungsphase Israels beginnt für die jüdisch-israelische Gesellschaft langsam die schmerzhafte Konfrontation mit den eigenen Taten, die es unmöglich machen, sich noch länger ausschließlich als David gegenüber eines aggressiven arabischen Goliath zu begreifen, den sie im fairen Kampf besiegen konnte.

Aber 50 Jahre später regt sich auch langsam im palästinensischen Lager eine selbstkritische Reflexion.

Schon Emil Habibi, der große arabisch-israelische Autor, der als bisher einziger Nichtjude den israelischen Staatspreis für Literatur empfing, schreibt in seinem Buch "Der Peptimist" kritisch über die Verherrlichung der "guten, alten Zeit" unter den Türken. Doch nun beginnen viele arabisch -palästinensische Intellektuelle vornehmlich in Israel in der kulturellen Abgrenzung auch die jüdische Geschichte neu zu sehen. Der ebenfalls arabisch-israelische Schriftsteller Ali Taha verglich noch 1982 den Libanon - Feldzug Israels mit der Politik der Nazis, revidierte später diese Haltung. Er äußerte seine Überzeugung, daß die Araber zuwenig über den Holocaust wissen. In einem Manifest, das nun anläßlich des 50. Jahrestags der nakhba erscheinen wird, wird im arabischen der Holocaust der Juden in Europa als al karita beschrieben und damit von der eigenen Trägodie unterschieden.

 zum AnfangIn der hebräischen Übersetzung wird die palästinensische Vertreibung 1947/48 nicht mehr als "arabische Shoah" umschrieben. Die Bezeichnung nakbah soll nun in allen Sprachen verwandt werden, um einen ähnlichen Effekt zu erzielen, wie es Ende der 80ger Jahre mit dem Begriff intifada gelang (Haaretz, 27.3.98). Auf einer großen Konferenz in Beirut Ende April d.J. wird unter dem Motto "Image of the Self -Image of the Other" kein geringer Versuch gestartet, in den Ausdrucksmitteln Literatur, Architektur, Film und Geschichte, das arabische "Selbst" mit dem jüdischen "Anderen" zu konfrontieren. Unter anderem wird dort Claude Lanzmann`s Film "Shoah" zu sehen sein.

Und so könnte sich gerade mit einem gesteigerten Selbstvertrauen über die eigene kulturelle Identität auch die eigene Rolle der Araber als Staatsbürger Israels verändern. Der arabische Knesset - Abgeordnete Azmi Bishara hat im vorigen Jahr bereits seinen Hut in den Ring geworfen und will bei den künftigen Wahlen um das Amt des Premierministers kandidieren. Damit hat er ein mittleres Erdbeben in Israel ausgelöst und die Diskussion über die Frage, welchen Charakter Israel haben soll: ein Staat der Juden oder ein Staat seiner Bürger, weiter angeheizt. Nach wie vor gibt es unter der jüdischen Bevölkerung eine Mehrheit, die meint, daß bei wichtigen Belangen des Staates in der Knesset eine rein jüdische Mehrheit entscheiden muß, während viele arabische Israelis aus Angst oder aus Taktik für zionistische Kandidaten stimmten.

Längst wurde auch dem traditionellen panarabischen Nationalismus abgeschworen, kritisch äußert sich der Ali Taha darüber, daß die arabischen Staaten dem UN-Teilungsplan 1947 nicht zustimmten, was immerhin zu der Bildung von zwei Staaten geführt hätte. Taha lehnt auch - im Gegensatz zu Bishara - strikt alle Ideen von einer arabischen Universität in Israel ab, weil er von der weiteren Segregation der arabischen Bevölkerung in Israel nur eine Verschlechterung ihrer Lage erwartet. Statt dessen setzt er auf eine offensive und selbstbewußte Politik, die die sozialen, ökonomischen und politischen Diskriminierungen der arabischen Israelis bekämpft und aus Israel einen Staat macht, in dem neben Juden auch Araber und andere Ethnien gleichberechtigt miteinander leben können.

Zumindest die Zahlen sprechen für seine Haltung. 1949 waren 13 % der israelischen Staatsbürger/innen Araber, heute sind es 21%. Im gesamten ehemaligen britischen Mandatsgebiet Palästina leben 8,2 Millionen Menschen, aufgeteilt in 60% Juden und 40% Araber. In etwa 15 Jahren wird ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der jüdischen und der arabischen Bevölkerung herrschen. Damit ist endgültig jegliche Vorstellung von einem Transfer oder einer Vertreibung der jeweils anderen Seite hinfällig, durchaus noch breit diskutierte Forderungen der radikalnationalistischen und relgiös- fundamentalistischen Kräfte auf beiden Seiten.

 zum AnfangBleiben wird allerdings die Tatsache, daß während die jüdischen Israelis mit den Jahren 47/48 ihr Glück und ihre Unabhängigkeit verbinden, die Palästinenser/innen, gleichgültig ob sie israelische Staatsbürger/innen sind, in den Autonomiegebieten leben oder im Exil, ihrer Tragödie gedenken werden.



Michael Schlickwei ist Vorstandmitglied von Projekt Freundschaft Birzeit Münster e.V.

E-Mail:   michael.schlickwei@t-online.de
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