Erstellt: September 1998 nächster Artikel | FriedensForum 5/1998 Kairos Europa Für ein sozial gerechtes, lebensfreundliches und demokratisches Europa Martin Singe Kairos - das ist die griechische Bezeichnung des richtigen Augenblicks, in dem etwas erkannt wird oder geschehen muß. In der ökumenischen Bewegung hat es verschiedentlich "Kairos"-Dokumente gegeben, so z.B. gegen die Apartheid in Südafrika oder gegen den "totalen Krieg gegen die Armen" der USA und herrschenden Eliten in Mittelamerika. Nach verschiedenen ökumenischen Versammlungen und Diskussionen ist im Mai 1998 das Europäische Kairos-Dokument mit obigem Titel erschienen. Es versteht sich als "Aufruf an die Glaubensgemeinschaften, Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und andere interessierte Gruppen und Personen zur Bündnisbildung für die Befreiung vom Diktat der deregulierten globalisierten Wirtschaft und ihrer Konkurrenzkultur". Das Dokument gliedert sich in die Teile "Die Wahrheit der Situation sehen" - "Die Ursachen erkennen" - "Mit Herz und Verstand urteilen" - "Gemeinsam handeln" - "Der weitere Prozeß und die nächsten Schritte". In einem zweiten Teil wird auf die spezifische Rolle der Kirche und Theologie eingegangen. Hier richtet sich das Dokument gegen staats- und kapitaltheologische Rechtfertigungen von Ungerechtigkeit und kirchentheologische Scheinversöhnung. Im Analyseteil wird die 20% zu 80%-Spaltung der Welt am Beispiel der 358 Dollarmilliardäre versinnbildlicht: Diese 358 Menschen verfügen über ein jährliches Gesamteinkommen in dergleichen Höhe, wie es sich die 2.300.000.000 ärmsten Menschen teilen müssen. "Wir müssen uns nicht wundern, daß angesichts der dramatischen Verarmung und Verelendung der Mehrheit der Menschen in Süd und Nord, Ost und West Gewalt und Unfriede rapide zunehmen."(11f) Kritisiert werden die neue Militarisierung zur Aufrechterhaltung westlicher Wirtschaftsinteressen, der ökologische Stillstand bzw. Raubbau, die Ausbeutung der osteuropäischen Länder ("Aus der ehemaligen DDR blieben nur 6% des Produktivvermögens in ostdeutscher Hand, 94% gingen an westliche Kapitaleigentümer") und die zunehmende gesellschaftliche Spaltung. Die EU-Politik zielt "ausschließlich auf Geld-(Vermögensvermehrungs-) Stabilität", statt sich beschäftigungs- und sozialpolitisch zu orientieren, Spekulationen zu verhindern und Steuerflucht zu bekämpfen. Die Konvergenzkriterien führen in den EU-Ländern zu einer Sparpolitik, die Sozialabbau, Arbeitslosigkeit und Marginalisierung schwacher Regionen zur Folge hat. | |
zum Anfang | Die Ursachen liegen vor allem in der globalen Machtkonzentration der Kapitalakteure, der "global players", die die national organisierten Arbeitenden und Staaten gegeneinander auszuspielen versuchen, indem sie diese in ein Wettrennen nach unten im Abbau von Rechten und sozialen Standards verwickeln. Zudem machen die Kapitalbesitzenden Gewinne an den Steuern der Staaten vorbei. Geldvermögensgewinne, Spekulationsgewinne und Währungstransaktionen laufen steuerfrei. Die neoliberale Politik der G-7-Staaten - über Weltwährungsfonds und Weltbank vermittelt - führen zu Deregulierung sozialer Errungenschaften und zu Entdemokratisierung. "Das gegenwärtige Herrschaftssystem lebt davon, daß die neoliberale Ökonomie die lähmende Meiung unter den Völkern verbreitet, die Entwicklungen der Weltwirtschaft seien Schicksal, so unveränderbar wie Naturgesetze. SozialwissenschaftlerInnen haben nachgewiesen, daß die herrschende Ökonomie keine Wissenschaft, sondern ein Glaubenssystem ist (Susan George). Dessen `Gott` ist die Geldvermögens- und Kapitalvermehrung. Er muß selbstverständlich durch einen weltweiten gigantischen Militärapparat verteidigt werden." (20f) Das Funktionieren des kapitalistischen Systems hängt aber auch davon ab, daß die Mehrheit der Menschen in ihrem Konsum, Lebensstil und im Umgang mit Geld mitmachen und sich - unter Einfluß von Markt, Medien und Machbarkeitswahn - an Konkurrenzverhalten und Elitebildung orientieren.
Dagegen kann das Hören auf die Opfer des Systems und das Aufdecken individueller und kollektiver Schuldverstrickungen in das System den Mut zur Verweigerung stärken: "Wir können uns erkannten Strukturen des Unrechts und der Gewalt gegen Menschen und Schöpfung verweigern und Geist, Logik und Praxis der deregulierten, aber militärisch geschützten kapitalistischen Geldvermögensvermehrung eine Absage erteilen." (27) Verweigerungsschritte - Bankenboykott, Verbraucherboykotte, Konsumverweigerung - müssen von der Vision einer Alternative getragen sein, die die vorrangige Option für die Armen, für die Gewaltfreiheit und für das gefährdete Leben umfaßt. Dieser Alternative soll sich in einer Doppelstrategie von "Teilabkopplung aus dem Weltmarkt durch lokale Alternativen im Kleinen und Bündnisbildung zur politischen Einmischung mit dem Ziel der institutionellen `Zähmung` des Systems" angenähert werden. Zu ersterer Strategie gehören z.B. Tauschringe, Leihgemeinschaften, alternative Banken, alternative Energien, Selbstversorgung, fairer Handel, selbstorganisierte Kommunikationsnetze, kooperatives und selbstbestimmtes Lernen ohne Ausgrenzungen, gewaltfreie Konfliktaustragung und Mediation. In Sachen politischer Einmischung ist die Finanz-, Wirtschafts- und Steuerpolitik zentraler Ansatzpunkt. Diese "ist gegenwärtig falsch gepolt: Die Hauptlast liegt auf der Arbeit, dagegen werden Geld- und Bodenbesitz auf der einen und Energie- und Ressourcenverbrauch auf der anderen Seite entlastet. Genau umgekehrt müßte es sein (Altvater/Mahnkopf). Eine Wende ist aber nur möglich im Rahmen einer demokratischen, sozial-ökologischen Wiederregulierung des transnationalen Kapitals auf der Ebene internationaler Institutionen." Auf diesem Hintergrund stellt das Kairos-Dokument konkrete politische Forderungen auf, die wir nachstehend dokumentieren. | |
zum Anfang | Das Kairos-Dokument von Juni 1998 versteht sich als Diskussionsanstoß. Stellungnahmen, Aktionsbeispiele, Erfahrungen zu der Problematik sollen an die Koordinationsstelle geschickt werden, die diese dann im Juni 1999 veröffentlichen will. Im Oktober 1999 soll ein Basistreffen in Brüssel stattfinden, das in ein internationales Treffen im Jahr 2000 einmünden soll. Dazwischen sollen die praktischen Ansätze und Anlässe genutzt werden, so z.B. EU- und G7-Gipfel im Juni 1998, die Kampagne "Erlaßjahr 2000" u.v.m.
Das Europäische Kairos-Dokument kann für 4,- DM + Versand beim Verlag Junge Kirche Pf. 100707, 28007 Bremen, bezogen werden. Kontaktadresse: Kairos Europa Deutschland e.V. c/o Niels Hueck, Stöckenhalde 13, 74427 Fichtenberg. Dokumentation: Forderungen des Europäischen Kairos-Dokumentes: Finanz-, Wirtschafts- und Steuerpolitik - Keine gemeinsame EU-Geldpolitik (Euro) ohne gemeinsame und gleichgewichtige Beschäftigungs- und Sozialpolitik; - die Entwicklung alternativer ökonomischer Indikatoren, nach denen wirtschaftlicher Erfolg nicht nur nach monetär gemessenem Wachstum, sondern auch nach sozialem und ökologischem Nutzen (bzw. Schaden) beurteilt wird; - die Begrenzung des privaten Eigentums an Boden und Kapital; - eine angemessene Vermögenssteuer; - eine in der gesamten EU harmonisierte Quellensteuer auf alle Kapitalgewinne, um das Steuerdumping wenigstens in dieser Region zu beenden; - die Abschaffung der Steuerparadiese, die zur Verschuldung öffentlicher Haushalte wesentlich beitragen; - die Entschuldung armgemachter Länder; - die globale Besteuerung spekulativer Transaktionen (Tobin tax); - die Einführung und schrittweise Ausweitung der Besteuerung von Ressourcen- und Energieverbrauch; - die Neufassung des Multilateralen Investitionsabkommen (MAI), um den Regierungen das Recht zu geben, Investitionen sozialen und ökologischen Bedingungen zu unterwerfen sowie lokalen Bedürfnissen Priorität zu geben; - die Setzung sozialer und ökologischer Rahmenbedingungen für den Welthandel; - die Demokratisierung der Wirtschaft von der Mitbestimmung und Selbstverwaltung in Betrieben bis zur UNO-kontrollierten Neugestaltung von IWF und Weltbank; - die Entwicklung eines internationalen Rechtssystems zur sozial-ökologischen Regulierung der Weltwirtschaft mit Ausweitung der Kompetenz des Internationalen Gerichtshofs auf den ökonomischen Bereich. Arbeits- und Sozialpolitik - Die drastische Verkürzung der Arbeitszeit (regional angepasst) mit sozial gestaffeltem Einkommensausgleich (evtl. mit vorübergehend öffentlichen Lohnzuschüssen) und mit der öffentlichen Förderung gesellschaftlich notwendiger Arbeit sowie beruflicher und politischer Fortbildung und Betätigung in der freiwerdenden Zeit; - der Stopp des Abbaus von Schutzbestimmungen für Frauen, die mit Schwangerschaft und Geburt, Erziehungsurlaub und Karenzzeit zusämmenhängen; - die Einführung einer wirtschaftlichen Grundsicherung für jeden Menschen, durch welche die Verarmung, Verelendung und Ausgrenzung immer größerer Teile der europäischen Bevölkerung verhindert wird; - die Orientierung der Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung an der Wertschöpfung, nicht an den Löhnen der Beschäftigten ("Maschinensteuer"); - ein Sonder-Lastenausgleich durch einmalige Besteuerung großer Vermögen zugunsten eines "Sonderfonds zur Beseitigung von Massenarbeitslosigkeit" (vor allem zur Schaffung von Arbeitsplätzen für gesellschaftlich notwendige Arbeit, die keine Profite bringt); - der Stopp des Abbaus von Leistungen im Bildungs- und Gesundheitswesen; - die Re-Demokratisierung der Medien. Umweltpolitik - Die dringende Umsetzung der Beschlüsse der Weltkonferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio 1992, besonders im Blick auf die Reduktion der Kohlendioxyd-Emissionen, die Senkung des Gebrauchs von nitrathaltigen Düngemitteln und die Durchführung der Lokalen Agenda 21; - die Förderung von Energiesparmaßnahmen und regenerativen Energien; - die Orientierung der Technologieentwicklung an sozialer ökologischer und generativer Nachhaltigkeit; - die kurzfristige Ausstieg aus der Kernenergie; - die strike Ablehnung gentechnischer Eingriffe in die Keimbahn; - die globale Regulierung der Patentierung und des Gebrauchs von genetisch manipuliertem Saatgut mit dem Ziel, die Vielfalt der Arten sowie die Selbstbestimmung der Kleinbauern weltweit zu erhalten; - die Förderung umwelt- und tierfreundlicher bäuerlicher Landwirtschaft. Migrations- und Flüchtlingspolitik - Kampf gegen die vor allem wirtschaftlichen und sozialen Ursachen der durch Not erzwungenen Migration und Flucht statt die MigrantInnen und Flüchtlinge; - eine EU-Richtlinie gegen rassische und religiöse Diskriminierung; - eine menschliche Aufnahme von Asylsuchenden durch Wiederherstellung des Grundrechts auf Asyl; Friedenspolitik - Ein Gesamtkonzept ziviler Konfliktbearbeitung unter Einbeziehung des Europarates statt Weiterrüstung, Waffenhandel und Eingreiftruppen; - die Neubelebung des antifaschistischen Konsens der Nachkriegszeit, aus dem auch die UNO hervorgegangen ist; - die Stärkung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) als Rahmen für eine umfassende politische, wirtschaftliche, soziale, kulturelle und ökologische Kooperation statt Ausbau der Nato. | |
zum Anfang | Martin Singe ist Mitarbeiter beim Komitee für Grundrechte und Demokratie und Redakteur des FriedensForums | |
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