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November 1998


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FriedensForum 6/1998


"Wir handelten wie Betrunkene"

Der ehemalige Oberbefehlshaber der US-Atomstreitmacht, Lee Butler, über die Risiken atomarer Rüstung und den Wahnsinn des "atomaren Gleichgewichts"

Spiegel: General Butler, Sie hätten im Ernstfall auf den Knopf drücken müssen, um das gesamte strategische Atom-Arsenal der Vereinigten Staaten abzufeuern. Waren Sie sich der Macht bewußt, die Erde mehrere Dutzend Male zerstören zu können?

Butler: Aber ja, wahrscheinlich deutlicher als irgendein anderer Mensch auf dieser Erde. Meine gesamte militärische Karriere war von Nuklearwaffen bestimmt. An der Air Force Academy habe ich die Theorie der nuklearen Abschreckung gelehrt; ich flog B-52-Atombomber und kommandierte später Amerikas gesamte strategische Nuklearstreitmacht: Bomber, land- und seegestützte Raketen; ich habe die Entwicklung neuer Sprengköpfe mitbestimmt und entschied über ihre Verwendung; ich saß am Verhandlungstisch zur Rüstungs- und Abrüstungskontrolle und diente US-Präsidenten als Berater in Nuklearfragen. Im übrigen trug der Einsatzplan aller amerikanischen Atomwaffen für den Ernstfall meine Unterschrift.

Spiegel: Haben Sie jemals geglaubt, die Strategie vom "Gleichgewicht des Schreckens" könne fehlschlagen?

Butler: Ich war fest davon überzeugt. Wir handelten wie ein Betrunkener beim russischen Roulett, der zehnmal die Pistole abdrückt und dann erklärt: Guck mal, es ist überhaupt nicht gefährlich. In Wahrheit war das Nuklear-Roulett überaus gefährlich und arrogant. Es ist ein Wunder, daß wir es geschafft haben, uns irgendwie durchzuwursteln. Nukleare Abschreckung ist ein Hasardspiel, das irgendwann verlorengeht.

 zum AnfangSpiegel: Wie groß war die nukleare Kriegsgefahr während des Kalten Kriegs?

Butler: Die nuklearen Beziehungen zwischen den USA und der Sowjetunion waren voller Krisen. Lange Zeit, oft Jahre, passierte wenig, worüber wir ernsthaft hätten besorgt sein müssen. Plötzlich gab es einen simplen Computerabsturz oder die falsche Interpretation eines Radarbildes schon stolperten wir in eine Krise und standen am Abgrund zur nuklearen Apokalypse.

Spiegel: Die Kuba-Krise 1962, als die Sowjets atomar bestückte Raketen im US-Hinterhof stationierten, war offenbar nicht die einzige Gefahrensituation?

Butler: Es gab viele Krisensituationen, die meisten wurden niemals bekannt.

Spiegel: Zum Beispiel?

Butler: Zum Beispiel wurde ein Nato-Manöver von den Sowjets als Vorbereitung eines realen Angriffs mißinterpretiert.

Spiegel: Waren die jeweiligen US-Präsidenten und deren Berater sich über die Folgen eines Nuklearkrieges im klaren?

Butler: Nein, keiner von uns. Wir haben niemals die tatsächlichen Risiken und Konsequenzen verstanden. Nehmen Sie als Beispiel die atomsicheren Regierungsbunker, die von den Sowjets und uns gebaut wurden. Ich erinnere mich an keine einzige Gelegenheit, bei der die Frage erörtert worden wäre, was denn die Führer vorfinden würden, wenn sie aus ihren atomsicheren Unterständen hervorkrabbelten, wen sie dann noch regieren sollten oder wer am anderen Ende der Leitung den Telefonhörer abnehmen würde.

Spiegel: Sie hatten aber doch den nuklearen Krieg geplant, was haben Sie denn in das Papier hineingeschrieben?

Butler: Der strategische nukleare Kriegsplan bestand hauptsächlich aus mathematischen Formeln, mit denen die Zerstörungskraft eines Nuklearangriffs errechnet wurde. Irrig ist die Annahme, wir hätten sämtliche einschlägigen Experten zusammengerufen und irgendeine Art von Supercomputer eingesetzt, um die Gesamtschäden abzuschätzen, die durch die nahezu gleichzeitige Explosion Zehntausender von Nuklearsprengköpfen angerichtet worden wären.

Spiegel: Die atomaren, das Erdklima verändernden Großbrände, die Verstrahlung riesiger Landstriche, die Zerstörung sämtlicher Strukturen einer Gesellschaft - kein Wort davon im Kriegsplan?

Butler: Kein Wort. Brände? Niemand wollte mit Sicherheit vorhersagen, was denn brennen würde. Ausmaß der Verstrahlung? Sie sei, so hieß es, abhängig von der Windrichtung. Bei der Frage nach der Zahl der Opfer fühlte ich mich an Josef Stalin erinnert, der gesagt hatte, der Tod eines einzelnen Menschen ist eine Tragödie, der von Millionen aber eine statistische Größe.

Spiegel: Ob die atomare Zerstörung Hiroshimas und Nagasakis moralisch zu rechtfertigen sei, wurde außerhalb Amerikas oft diskutiert. Gab es in den USA offizielle Gremien, die sich damit befaßten?

 zum AnfangButler: Nicht daß ich wüßte. Wir haben die Nuklearwaffen zu einer Art Ikone erklärt und uns auf den Standpunkt gestellt: Wenn diese Waffen den Krieg verhindern, müssen sie moralisch vertretbar sein. Eine sehr perverse Form von Logik, welche die Konsequezen eines nuklearen Krieges ignoriert.

Spiegel: Die USA geben in diesem Jahr 35 Milliarden Dollar aus, um ihr nukleares Arsenal einsatzbereit zu halten. Zugleich verrottet und zerfällt die Streitmacht des ehemaligen Gegners. Wie groß ist die Gefahr eines versehentlich ausgelösten russischen Angriffs?

Butler: Aus meiner Sicht ist das sehr unwahrscheinlich. Rußland ist heute ein bedauernswerter Gigant, den der Westen noch immer nicht versteht. Rußland ist keine nukleare Großmacht mehr, die russische U-Boot-Flotte liegt vertäut in ihren Häfen. Rußlands Bomber fliegen nur noch selten, Modernisierungsprogramme kommen nicht voran. Das russische Radarfrühwarnsystem ist geschwächt, die wichtigsten, einst sowjetischen Anlagen stehen Rußland nicht mehr zur Verfügung und die Frühwarnsatelliten haben viel von ihrer Kapazität eingebüßt.

Spiegel: Fühlt sich Rußland bedroht?

Butler: Das wäre kein Wunder. Es gibt keinen Warschauer Pakt mehr, wir aber erweitern die Nato und versichern, das habe weiter nichts zu bedeuten. Und wir modernisieren unsere Atomwaffen. Wir verspielen die kostbare Gelegenheit, neue Regeln der internationalen Sicherheit zu entwickeln, in denen Nuklearwaffen keinen Platz mehr haben.

Dokumentation aus: Spiegel Nr. 32/1998 (von der FF-Red. gekürzt)

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