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vom:
06.12.1999


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FF 6/99 "Kultur des Friedens":

  Initiativen

Immer mehr Kriegsgegner werden vor das Berliner Amtsgericht gezerrt

Elke Steven

In den kommenden Wochen werden vor dem Berliner Amtsgericht Tiergarten noch viele Prozesse gegen Gegner des Nato-Angriffskrieges gegen die Bundesrepublik Jugoslawien stattfinden. Die PazifistInnen hatten zu Beginn des Krieges die Soldaten - in dem "Aufruf an alle Soldaten der Bundeswehr, die am Jugoslawien-Krieg beteiligt sind" - aufgefordert, die grund- und völkerrechtswidrigen Befehle nicht zu befolgen.


Einen ersten Freispruch im ersten Prozess der beginnenden Serie von öffentlichen Gerichtsverhandlungen hat es am 4. November 1999 gegeben. Wilfried Kerntke wurde von einer Amtsrichterin nach zweistündiger Verhandlung freigesprochen. Die Amtsrichterin sah sich selbst darin überfordert, zu entscheiden, ob dies nun ein völker- und grundrechtswidriger Krieg war oder nicht. Sie wollte nach den Einlassungen von Wilfried Kerntke und denen seiner Anwältin jedoch auch nicht - wie das Landgericht in seinem Beschluss in anderen Verfahren - einfach feststellen, dass er nicht völkerrechtswidrig war. Wilfried Kerntke hatte im Prozess herausgearbeitet, dass dieser Krieg nicht zu rechtfertigen ist und die Lügen und die Propaganda zu durchschauen waren. Er hatte deutlich gemacht, dass nicht dieser Aufruf eine Straftat war, sondern einem bürgerlichen Gebot entsprach, gegen diesen Verfassungsbruch durch die Regierung vorzugehen. Die Rechtsanwältin Zecher hatte den Antrag gestellt, den Völkerrechtler und Rechtsphilosophen Prof. Reinhard Merkel (Uni Hamburg) als Sachverständigen zur Frage der Verfassungswidrigkeit und Verwerflichkeit der Kriegsführung zu hören. Als Begründung las sie einen Aufsatz vor, in dem die Verfassungswidrigkeit und ethische Verwerflichkeit des Krieges ausführlich juristisch begründet wurden (vgl. Friedensforum 4/99, S. 30). Diese Begründungen liegen dem Gericht nun in schriftlicher Form vor, auch wenn das Gericht den Juristen Prof. Merkel nicht selbst hören wollte.

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Letztlich stellte die Amtsrichterin in ihrer mündlichen Begründung des Freispruchs die Grundrechte über das Strafgesetz. Mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung begründete sie ihren Freispruch. Sie hob hervor, dass man über die Völkerrechtswidrigkeit dieses Krieges unterschiedlicher Meinung sein könne.

Gerade in dieser umstrittenen Situation müsse allerdings das Recht auf Meinungsfreiheit erst recht extensiv anwendbar sein. Die Richterin erklärte, dass Wilfried Kerntke wohl um vieles besser informiert sei als sie, die sie nur die allgemeinen Medien verfolgt habe. Und in diesem Streit um die Meinungen, also in der Meinungsbildung, müsse es möglich sein, auch die Schlussfolgerungen aus der eigenen Argumentation deutlich zu benennen. Die Aufforderungen, die Befehle zu verweigern und sich von der Truppe zu entfernen, stünden in dem Aufruf eben nicht isoliert, sondern wären eingebettet in eine ausführliche Argumentation. Die Aktualität und Dringlichkeit der Situation würden es auch nicht zulassen, von dem Angeklagten zu verlangen, abzuwarten, bis die Gerichte sich (eventuell nach Jahren) eine abschließende Meinung über die Rechtslage gebildet hätten.

Die Staatsanwältin machte auch vor Gericht noch einmal deutlich, dass sie nicht davon abgehen werde, diese "Straftaten" zu verfolgen, auch wenn ihre Argumentationen mehr als dürftig waren. So behauptete sie - wohl der preußisch-militaristischen Tradition entsprechend - dass Soldaten auch dann Befehle befolgen müssten, wenn diese völkerrechtswidrig wären. Daraufhin konterte die Rechtsanwältin in ihrem Schlussplädoyer mit dem Hinweis auf die Mauerschützenurteile, in denen den Soldaten der DDR rückblickend eigenständiges Abwägen zugemutet wurde und sie folglich zu handfesten Strafen verurteilt wurden. Also: Recht mit zweierlei Maß!

Insgesamt liegen zur Zeit 25 Strafbefehle über 30 bis 90 Tagessätze gegen die ErstunterzeichnerInnen vor.

Die Staatsanwaltschaft ermittelt jedoch auch in Zweit- und Drittverfahren gegen die ErstunterzeichnerInnen. So geht es in dem Verfahren gegen Martin Singe am 17.11.1999 gleich um drei Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft. Martin Singe hatte den Aufruf am 1. April 1999 am Kriegsministerium in Bonn verteilt. Ein Exemplar des Aufrufes war hier beschlagnahmt und an die Bonner Staatsanwaltschaft weitergeleitet worden. Diese hatte keinen Strafbefehl erlassen, die Akten jedoch inzwischen an Berlin weitergeleitet. Am 21. April 1999 war der Text des Aufrufes in einer Anzeige in der "tageszeitung" erschienen. Deswegen ermittelte die Berliner Staatsanwaltschaft gegen alle ErstunterzeichnerInnen. Einer der Erstunterzeichner hatte des weiteren den Aufruf an verschiedene Bonner Behörden geschickt. Auch deswegen wird noch einmal von der Berliner Staatsanwaltschaft gegen alle ErstunterzeichnerInnen ermittelt und so getan, als ob jedes Verbreiten eine eigene Tat wäre. Gegen die sich darin abzeichnende Justizposse - denn verbreitet wurde der Aufruf noch in vielfacher Weise -, in der die Staatsanwaltschaft so tut, als könne sie die eine "Tat" des Unterzeichnens des Aufrufs in viele einzelne Taten zerstückeln, wird von den ErstunterzeichnerInnen immer wieder angeprangert werden.

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Gegen diejenigen, die sich in der Anzeige in der "tageszeitung" dem Aufruftext als "ZweitunterzeichnerInnen" angeschlossen haben wird ebenfalls von der Staatsanwaltschaft ermittelt. Ein erster Strafbefehl ist hier gerade gegen den Pfarrer Hans-Jochen Vogel in Chemnitz erlassen worden.

Gegen Verantwortliche aus Redaktionen, in deren Zeitungen der Aufruf abgedruckt war, wird ebenfalls ermittelt. So wird inzwischen nicht nur gegen den verantwortlichen Redakteur der "tageszeitung" sondern auch gegen den verantwortlichen Redakteur der "graswurzelrevolution" ermittelt, weil der Aufruf dort abgedruckt wurde.

Im weiteren Verlauf der Prozesse werden wir nicht nachlassen den unhaltbaren Vorwurf der Staatsanwaltschaft Berlin, wir hätten rechtswidrig zu Fahnenflucht und Gehorsamsverweigerung aufgerufen, mit der tatsächlichen Regierungsstraftat eines völker- und grundrechtswidrigen Angriffskrieges zu kontern. Die Staatsanwaltschaft hat mir ihrem Vorgehen die Gerichte gewissermaßen "genötigt" in Sachen zu entscheiden, die nicht zu ihrem normalen Handwerk gehören. Wir jedoch können die Richter und Richterinnen nicht in dieser Arbeitsüberforderung entlasten, indem wir uns auf diese dürftige Anklage der Staatsanwaltschaft einlassen.

Nachtrag: (red) Nach redaktionellem Abschluss dieses Artikels wurden am 17.11. Martin Singe zu 4.000 DM Geldstrafe verurteilt und Wolfgang Kaleck vom Republikanischen AnwältInnenverein am 19.11. freigesprochen.

Zur Zeit weitere Prozesstermine bekannt:

Hanne und Klaus Vack und Dirk Vogelskamp: Dienstag, 7. Dezember 1999, um 11.30 Uhr im Gerichtsgebäude Turmstr. 91, III. Stock, Raum 863

Volker Böge: Freitag, 10. Dezember 1999 (Tag der Menschenrechte), um 12.30 Uhr im Gerichtsgebäude Wilsnacker Str. 4, I. Stock, Raum D 107

Elke Steven: Donnerstag, 23. Dezember 1999, um 13.30 Uhr im Gerichtsgebäude Turmstr. 91, III. Stock, Raum 768

Alois Finke: Mittwoch, 26. Januar 1999, um 13.30 Uhr im Gerichtsgebäude Wilsnacker Str. 4, II. Stock, Raum C 201

Ralf Siemens von der Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär hat ebenfalls am 10. Dezember 1999, um 10.30 Uhr, einen Prozess wegen des Aufrufs zu Straftaten. Er hat die Verantwortung für das Plakat der Kampagne übernommen, auf dem zur Desertion aufgerufen wurde.

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Weitere Informationen bei: Elke Steven, Landgrafenstr. 47, 50931 Köln, Telefon und Fax: (p) 0221 / 406 22 10, Telefon (d): 0221 / 97 26 930 und Fax -31


Dr. Elke Steven arbeitet beim Komitee für Grundrechte und Demokratie in Köln
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