25 Jahre Tschernobyl

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26.04.2011


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25 Jahre Tschernobyl

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Redebeitrag auf der Kundgebung vor dem AKW Neckarwestheim am 25. April 2011

Liebe Aktive der Anti-Atom-, der Energiewende und der Friedensbewegung, Liebe Ostermarschierer, Liebe Freundinnen und Freunde,

Henrik Paulitz (in Neckarwestheim)

den Super-GAU von Tschernobyl bezahlten schätzungsweise 110.000 Katastrophenhelfer mit ihrem Leben. Forscher rechnen allein mit 240.000 zusätzlichen Krebsfällen. Es sollen 800.000 weniger Kinder zur Welt gekommen sein. Von Tschernobyl betroffene Menschen unterliegen einem extrem frühzeitigen Alterungsprozess. Insgesamt sollen europaweit viele Millionen Menschen gesundheitlich betroffen sein.

Und Tschernobyl setzt sich erwartungsgemäß in den nächsten Generationen fort: Offiziell wird damit gerechnet, dass bis zu 200.000 Kinder mit genetischen Schäden geboren werden.

Das ganze Ausmaß dieser Katastrophe ist unter anderem deswegen unklar, weil die Weltgesundheitsorganisation WHO die Öffentlichkeit nicht darüber aufklären darf. Das gleiche Spiel wiederholt sich jetzt in Japan.

Aber auch hier in Deutschland tut man nur so, als wolle man umfassend über die Gefahren der Atomenergie informieren. Diese systematische Desinformationspolitik, liebe Freundinnen und Freunde, ist verantwortungslos und skandalös.

Was bislang über Fukushima bekannt wurde, ist schlimm genug: Man muss wohl davon ausgehen, dass es bereits am 15. und in der Nacht zum 16. März zu massiven Freisetzungen von Radioaktivität kam. Selbst in Tokyo kam es zu einem erheblichen Anstieg der Radioaktivität. Man muss damit rechnen, dass ein erheblicher Teil des verbleibenden radioaktiven Inventars der vier Atommeiler und ihrer Lagerbecken noch auf die eine oder andere Weise in die Umgebung freigesetzt wird.

Es kommt entscheidend darauf an, dass endlich die richtigen Lehren aus Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima gezogen werden. Diese Technologie ist nicht beherrschbar und deswegen muss das vor den jüngsten Wahlen beschlossene Moratorium von Frau Merkel in eine endgültige und dauerhafte Stilllegung aller Atomkraftwerke führen.

Ob man sich jetzt tatsächlich schnell und umfassend von der Atomenergie verabschieden wird, muss allerdings bezweifelt werden. Und hier kommt die besondere Verantwortung von SPD und Grünen ins Spiel. Die Spitzen dieser Parteien tun bislang alles, um einen schnellen und umfassenden Atomausstieg sowie eine echte Energiewende zu verhindern.

Selbst nach Fukushima wollte man zunächst zum alten Konsens mit der Atomindustrie zurückkehren, nur sieben Altanlagen stilllegen und den später errichteten deutschen Altmeilern wie Neckarwestheim-2 durch Strommengenübertragungen einen umso längeren Weiterbetrieb ermöglichen.

Erst seit sich bei Union und FDP angesichts der schieren Angst vor einer Abstrafung durch die Bevölkerung bei Wahlen Ungeahntes in Bewegung setzte, verspricht man bei den Grünen einen Ausstieg bis 2017. Man verspricht also einen Atomausstieg zum Ende der kommenden Legislaturperiode. Das ist ein kluger Schachzug.

Damit verschafft man sich die besten Voraussetzungen, die Bundestagswahl im Herbst 2013 zu gewinnen - ohne natürlich dieses Versprechen nach der Wahl tatsächlich einlösen zu müssen. Wir haben das alles schon wiederholt erlebt.

Es geht bei allen Parteien derzeit erkennbar allein darum, künftige Wahlen zu gewinnen und zugleich diverse Deals mit den großen Energiekonzernen zu machen. Entgegen aller öffentlichen Rhetorik geht es darum, die Marktmacht der Großkonzerne weiterhin abzusichern und diesen Milliardenprofite von noch nie dagewesener Größenordnung zuzuschanzen.

Allein deswegen will man nicht so richtig ernst machen mit der Stilllegung von Atommeilern wie Neckarwestheim-2 und verhandelt längst über die Errichtung neuer konventioneller Großkraftwerke.

Allein deswegen wird nicht geklärt, ob man einen zweiten Sarkophag für Tschernobyl wirklich braucht oder ob es nur darum geht, großen Baukonzernen weitere Milliarden in den Rachen zu werfen.

Allein deswegen setzt man einseitig auf den Ausbau der Offshore-Windenergie mit Staatsbürgschaften, deutlich erhöhten Einspeisevergütungen und kostenlosem Leitungsanschluss.

Allein deswegen verabschiedet man sich nicht von der absurden Vorstellung, mit Großkraftwerken in den nordafrikanischen Wüsten Strom für Europa herstellen zu wollen.

Allein deswegen verbreitet man täglich die Lüge, für den Ausbau der erneuerbaren Energien bräuchten wir jede Menge neue Stromautobahnen.

Und nicht zuletzt deswegen schwört man die Bevölkerung täglich darauf ein, dass die Strompreise schon wieder drastisch steigen müssten.

Wir aber sagen Nein zur Fortsetzung dieses Systems der Abzocke durch wenige Großkonzerne.

Wir wissen doch längst, dass die Zukunft im weiteren dezentralen Ausbau der erneuerbaren Energien liegt. Wir sehen doch längst, dass vom dezentralen Weg die Bevölkerung, die Kommunen, Stadtwerke und mittlere Unternehmen wirtschaftlich profitieren und eben nicht nur die vier großen Atomkonzerne.

Der dezentrale Ausbau der erneuerbaren Energien in Bürgerhand ist auch notwendig, um dieses Land zu demokratisieren, indem man die Macht der Atomkonzerne endlich bricht.

Und es gibt noch einen ganz wesentlichen Grund: Nur wenn wir auf heimische erneuerbare Energien setzen, verhindern wir, dass immer und immer wieder Länder überfallen werden, in denen es Erdöl, Erdgas oder Uran gibt.

Warum wird denn derzeit Krieg gegen Libyen geführt? Das Land verfügt über die größten Erdöl-Reserven Afrikas und Gaddafi beging den Fehler, westlichen Ölkonzernen Steine in den Weg zu legen. - Warum wird denn seit zehn Jahren Krieg in Afghanistan geführt? Die Taliban machten einem westlichen Ölkonzern Probleme beim geplanten Bau einer Pipeline. Allein deswegen wurden sie plötzlich zu Feinden erklärt und aus der Regierung gebombt.

Mit welchem Recht maßen wir uns an, mit Bombern, Drohnen und Bodentruppen durch die Welt zu ziehen und mit militärischer Gewalt den einen Diktator gegen den nächsten Gewaltherrscher auszutauschen? Wir haben schlichtweg nicht das Recht, uns mit Gewalt Bodenschätze anzueignen, die anderen Völkern, aber nicht uns gehören.

Wo leben wir eigentlich, wenn auch deutsche Politiker praktisch nur dann eine Chance haben, in Parteien und Regierung aufzusteigen, wenn sie zuvor in den USA waren und dort ihre atlantische Zuverlässigkeit unter Beweis gestellt haben? Ich nenne hier nur beispielhaft den ehemaligen Verteidigungsminister und Beinahe-Kanzler, Ex-Doktor zu Guttenberg, sowie Grünen-Chef Cem Özdemir.

Wo leben wir eigentlich, wenn Massenmedie-n mit geballter publizistischer Macht Parteien und Politiker zu bestimmten Positionen nötigen und Politiker zum Rücktritt drängen, die völlig zu Recht zögern, die Bundeswehr in den nächsten Krieg zu schicken? Wo leben wir eigentlich, wenn Menschen aus einflussreichen Positionen entfernt werden, die wie beispielsweise Margot Käßmann Kritik an völkerrechtswidrigen Kriegen der Bundeswehr üben?

Wie weit wollen all die bezahlten Kriegstreiber und Karrieristen in verantwortlichen Positionen dieses Spiel noch treiben? Kommt so mancher Konzernlenker, so mancher Politiker, so mancher Journalist erst dann zur Besinnung, wenn nach all den Urangeschossen und Streubomben, nach all den zerfetzten Frauen, Männern und Kindern erneut eine Atombombe gezündet wird?

Die aktuellen Energiekriege, liebe Freundinnen und Freunde, und der laufende Super-GAU in Fukushima müssen sehr viel weitreichendere Konsequenzen haben als nur kosmetische Korrekturen, um die nächsten Wahlkämpfe zu bestehen. Wenn von deutschem Boden wieder regelmäßig Krieg ausgeht und wenn alle Welt erkennt, dass Naturgewalten Atomkraftwerke in fürchterliche Radionuklid-Schleudern verwandeln können, dann muss sich etwas ganz grundlegend in dieser Politik ändern.

Wir wollen eine friedliche Welt, ohne Atomwaffen, Bomber und Drohnen. Wir wollen eine gesunde Welt, ohne atomare Bedrohung. Wir wollen eine freie und gerechte Welt, ohne die primitive Herrschaft des Geldes.

Wir fordern jetzt den Umstieg auf eine kriegs-präventive Energiewirtschaft mit erneuerbaren Energien in Bürgerhand. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Ich danke Ihnen.



Henrik Paulitz arbeite für die IPPNW.

E-Mail: paulitz (at) ippnw (Punkt) de

Website: www.ippnw.de
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