65 Jahre Hiroshima

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04.08.2010


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65 Jahre Hiroshima

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Gedenkrede zu den 65. Jahrestagen der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki - 6. und 9. August 2010 in Berlin

Erinnern heißt Handeln

Xanthe Hall (in Berlin)



- Sperrfrist: 6. August 2010, Redebeginn, ca. 16.30 Uhr -

- Es gilt das gesprochene Wort -



Ich werde oft gefragt: was sind die gesundheitlichen Folgen von Hiroshima und Nagasaki? Als ob wir an den vielen Toten messen können, welche Zerstörungskraft Atomwaffen besitzen. Wenn wir etwas von den Hibakusha - den Überlebenden - gelernt haben, ist es dies: Das Leiden endet mit dem Tod, mit dem Überleben beginnt es erst.

In den ersten vier Monaten nach den Atombombenabwürfen sind ca. 200.000 Menschen gestorben. Das Leid dieser Menschen kann man nur erahnen. Jeder, der ein Familienmitglied oder Lebensgefährten verloren hat, kennt den Schmerz des Verlustes. Die Überlebenden hatten nicht nur diese Schmerzen, sie waren meistens selber verletzt oder strahlenkrank. Darüber hinaus waren sie ausgegrenzt, weil die Gesellschaft mit Strahlenkranken nichts anzufangen wusste. Und dann kamen zudem die Spätfolgen: Krebs, Leukämie, genetische Schäden, Fehl- und Todgeburten.

Ich möchte daher heute weniger an die Toten erinnern, als an die Überlebenden, die 65 Jahre nicht nur an diesem barbarischen Kriegsakt gelitten haben, sondern auch immer wieder uns gemahnt haben, zu handeln, so dass so etwas nie wieder geschieht. Viele dieser mutigen und weisen Menschen sind inzwischen gestorben. Es ist daher an der Zeit, ihre Aufgabe zu übernehmen und endlich zu erfüllen: die Atomwaffen zu ächten.

Erst fünf Jahre nach den Abwürfen begannen die Untersuchungen über die Folgen. Dennoch sind wir heute nicht wirklich imstande, eine verlässliche Zahl der Opfer dieser Angriffe zu benennen. Warum?

Auf Grundlage der Forschung einer britischen Ärztin, Alice Stewart, müssen wir annehmen, dass die Zahl der Opfer durch Spätfolgen weit höher ist, als bisher angenommen. Das Zentrum zur Forschung der Strahlenfolgen RERF (Radiation Effects Research Foundation) untersuchte 20.000 Menschen, die eine bestimmte Strahlendosis abbekommen hatten. Ca. 10.000 Menschen, die weiter weg vom Explosionsmittelpunkt wohnten und daher weniger Strahlung ausgesetzt waren, fungierten als Niedrigstrahlungsgruppe. Zudem gab es eine Kontrollgruppe von Menschen außerhalb der Stadt.

Leider waren sehr viele Menschen in Hiroshima und Nagasaki bereits in den ersten fünf Jahren gestorben, so dass die Referenzgruppe nicht wirklich repräsentativ war, besonders bei den unter 10 und über 50-Jährigen. Diese Menschen hatten nicht nur den Krieg sondern auch die Atombomben überlebt und waren daher sehr viel robuster als normale Menschen. Es besteht zudem der Verdacht, dass die Menschen in den Niedrigstrahlungs- und Kontrollgruppen durch Fallout mehr bestrahlt wurden, als ursprünglich gedacht. Da der Unterschied zwischen den Krebsraten der drei Gruppen dann nicht so groß ausfiel, wurde geschlussfolgert, dass die Rate der direkten Opfer nicht besonders erhöht war und nur wenige Menschen als Strahlenopfer zu bezeichnen waren.

Weil kein Zusammenhang gesehen wurde untersuchte das Zentrum weder genetische Schäden noch allgemeine Gesundheitsbeschwerden, wie z.B. Immunsystemschwäche, Anämie, Blutkrankheiten oder Grauen Star. Auch die im Volksmund sogenannte "Genbaku Bura-Bura"-Krankheit (Genbaku = Atombombenabwurf, Bura-Bura = langwierig), mit den Symptomen Müdigkeit, Schwindel, Krämpfe, usw., werden von der RERF als "psychische Störungen" auf Grund von Stress abgetan.

Heute verfügen wir zwar über viel mehr Wissen über die Folgen von Strahlung, aber zugleich gibt es auch sehr viel Streit darüber. Nach wie vor hat dieser Streit einen politischen Hintergrund. Damals war es für die nach dem Krieg mit den USA verbündeten Japaner wichtig, die Folgen der Abwürfe zu minimieren, weil sie selbst unter dem US-amerikanischen nuklearen "Schirm" lebten, der heute "erweiterte Abschreckung" genannt wird. Heute basieren alle internationalen Strahlenschutzregelungen auf diesen falschen Daten der RERF. Das ist natürlich vorteilhaft für die Atomindustrie, die weiterhin ihre Atomkraft als sicher verkaufen will.

Unsere Vorstellungskraft versagt, wenn es um Atomwaffen geht. Die IPPNW hat öfters versucht zu beschreiben, was passieren würde, wenn eine moderne Wasserstoffbombe über einer Stadt explodiert. Ich erinnere mich daran, wie ich 2002 während der Krise zwischen Indien und Pakistan einem Journalisten die unmittelbaren Folgen einer Atomexplosion vermitteln wollte. Er fragte, wie viele Menschen sterben würden, wenn es zu einem Atomkrieg zwischen den beiden Ländern käme. Ich habe detailliert beschrieben, welches Leid die Menschen erleben würden, durch schwere Verletzungen, Verbrennungen, Strahlenkrankheit, Mangel an medizinischer Hilfe, umgeben von sterbenden Menschen und Infektionskrankheiten. Danach sagte er: "Das wird aber nicht wirklich passieren." Er konnte und wollte es sich einfach nicht vorstellen.

Wir denken schnell, es kann nicht passieren, weil wir es uns nicht vorstellen können. Das nennt man das nukleare Tabu. Aber dieses Tabu ist gleichzeitig das Damoklesschwert, das seit 65 Jahren über unseren Köpfen hängt. Die meisten Menschen bemerken es nicht einmal, die jüngeren Menschen haben davor keine Angst, die Älteren von uns glauben, wir haben bereits so viel Atomwaffen abgerüstet, jetzt muss es auch gut sein.

Auf keinen Fall will ich die Menschen dazu bringen, wieder Angst vor einem Atomkrieg zu haben, wie ich ihn als junger Mensch in den 80er Jahre hatte. Aber es gibt eine neue Bewegung, geführt von alten Staatsmännern wie Henry Kissinger, die uns Angst vor nuklear bewaffneten Terroristen und Verrückten machen will. Nordkorea und Iran sind heute die Buhmänner. Richtig, hier gibt es reale Gefahren, besonders wenn wir durch eine "Renaissance" der Atomenergie die Technologie, Materialien und das Wissen zum Bau der Atombombe immer weiter verbreiten.

Es wäre dabei viel sinnvoller, uns zu überlegen, wie wir uns von dieser nuklearen Geiselhaft befreien. Unsere Sicherheit basiert auf der Grundlage von Abschreckung. Bei zwei gleich großen Gegnern wie im Kalten Krieg führte dieses Denken zum Wettrüsten und ungeheuer großen Atomarsenalen. In der asymmetrischen Welt von heute könnte die Abschreckung dazu führen, dass kleinere Staaten einen möglichen Angriff durch einen großen Staaten wie die USA, Russland oder China mit eigenen Atomwaffen begegnen wollen. Dabei wäre die logische Antwort auf die Gefahr der Weiterverbreitung von Atomwaffen nicht immer mehr militärische Stärke, sondern mehr Vertrauen auf- und die Bedrohungslage abzubauen.

Die deutsche Regierung spielt eine wichtige Rolle bei der notwendigen Veränderung der Sicherheitspolitik, nicht zuletzt bei der Debatte über das strategische Konzept der NATO, das jetzt neu geschrieben wird. Als erster Schritt wäre der Abzug der US-Atomwaffen ein wichtiges Signal, das zeigt, dass Deutschland auf die nukleare Abschreckung verzichtet. Sie können hier eine Postkarte mit dieser Forderung an Verteidigungsminister von Guttenberg mitnehmen und sie ihm schicken.

Und Außenminister Westerwelle muss die Mittelkürzungen bei der Rüstungskontrolle, im Bereich der Menschenrechte und der zivilen Konfliktlösung überdenken. Diese Programme sind die Grundlage einer vernünftigen Sicherheitspolitik.

Es gibt bereits Erfolge zu benennen. Die neue Konvention für die Ächtung von Streumunition ist ein Beispiel, davor war es die Landminenkonvention. Chemische und biologische Waffen sind auch durch Konventionen verboten. Jetzt ist es an der Zeit, eine Atomwaffenkonvention zu verhandeln. Dafür sollte die deutsche Regierung den Vorschlag der jüngsten Konferenz der Bürgermeister für den Frieden in Hiroshima aufgreifen und einen Vorbereitungsprozess für eine solche Konvention unterstützen, in dem sie ähnlich denkende Staaten zu einem Gespräch darüber einlädt. Das würde UN-Generalsekretärs Ban Ki-Moon den Rücken stärken - der heute in Hiroshima ist - und eine Nuklearwaffenkonvention befürwortet.

Auch die Zivilgesellschaft wird weiter verstärkt an diesem Thema arbeiten und zwar in einem großen Bündnis von bekannten Organisationen wie den Bürgermeistern für den Frieden, Middle Powers Initiative, das Parlamentarisches Netzwerk für Abrüstung und Nichtverbreitung und das globale Netzwerk Abolition 2000. Dieses Bündnis handelt unter dem Slogan I CAN - International Campaign to Abolish Nuclear Weapons. Diese Kampagne wird den sehnlichsten Wunsch aller Hibakusha erfüllen: die Abschaffung aller Atomwaffen. Lasst uns damit anfangen.



Xanthe Hall ist ist Abrüstungsreferentin und internationale Campaignerin der Internationalen Ärzte gegen Atomkrieg (IPPNW). Vita siehe hier

E-Mail: xanthe (at) ippnw (Punkt) de

Website: www.ippnw.de
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