Geschichte
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24.10.2001


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Geschichte der Friedensbewegung

 Geschichte im Detail

Beispiele aus dem gewaltlosen Widerstand gegen die Besetzung des Ruhrgebietes 1923

Handlungskompetenz in Sozialer Verteidigung

Barbara Müller

Gewaltfreie Alternativen zur militärischen Konfliktaustragung brauchen die Unterstützung durch weite Teile der Bevölkerung und mitunter eine Beteiligung großer Massen. Über die gesellschaftlichen und individuellen Voraussetzungen ist viel nachgedacht worden. Ein Punkt ist m.E. dabei zu Unrecht in den Hintergrund getreten: es gibt eine sich wandelnde, gesellschaftsimmanente Kompetenz zu einer zivilen Konfliktaustragung, auf die in Konflikten, die nichtgewaltsam ausgetragen werden, ad hoc zurückgegriffen wird. Dazu einige Beispiele, die mir bei der Untersuchung des gewaltlosen Widerstands der Ruhrbevölkerung gegen die Besetzung des Ruhrgebiets 1923 aufgefallen sind.

Die Besetzung vollzog sich so, daß binnen weniger Tage die ganze Region von kriegsmäßig ausgerüsteten Truppen durchquert und eine Grenzlinie zwischen dem Ruhrgebiet und dem unbesetzten Gebiet mit Straßensperren etc. gezogen wurde. Deutscherseits war das Ruhrgebiet entmilitarisiert, militärischer Widerstand war von vorneherein durch die politische und militärische Führung ausgeschlossen und an Sabotage zentraler Verkehrslinien im Vorfeld der Besetzung nicht frühzeitig gedacht worden. Die Besatzungstruppen wurden in Ortschaften und Städten einquartiert. Die Bevölkerung war dem Zugriff der Besatzungsmacht ausgeliefert, die nach Strategie und Zutrauen (!) ihre gewaltsamen Unterdrückungsmittel zunehmend einsetzte mit Straßen- und Verkehrssperren, Besetzung und Lahmlegung von Verwaltungen, Verhaftungen, Vertreibungen, Auferlegung und Konfiszierung von Geldvermögen. Leib und Leben, Hab und Gut waren dem gewaltsamen Zugriff ausgesetzt. Grob gesprochen, wurde gegen diese Unterdrückung die Strategie der Nichtzusammenarbeit gesetzt. Diese konnte neun Monate durchgehalten werden, bis die Erschöpfung der eigenen Ressourcen zur Einstellung des Widerstands und zum Übergang auf eine Konfliktaustragung mit diplomatischen Mitteln und Rechtsvorbehalt führte.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß am Anfang der Besetzung unklar war, ob es zu einem nennenswerten Widerstand weiter Bevölkerungsteile tatsächlich kommen würde. Innerhalb der ersten neun Tage der Besetzung wurde die massenhafte Beteiligung am Widerstand erreicht, indem eine Eskalationskette zwischen widerstandsbereiten Kräften auf deutscher Seite und den Besatzungsmächten in Gang kam - und die Frage der Freiwilligkeit / Widerstandsbereitschaft sollte vor dem Hintergrund dieser typischen Reaktionsweise diskutiert werden. Ereignisse wie die Verhaftung führender Beamter und Zechenbesitzer und der Prozeß gegen sie schufen jedenfalls die Kristallisationspunkte, die die Gewerkschaften und weite Bevölkerungskreise an die Seite von Ruhrindustriellen und Zechenbesitzern brachte. Das Umschwenken der Besatzungsmächte von Verhandlung auf Repression konfrontierte schlagartig viele bis dahin unbehelligte Bevölkerungsgruppen mit der Gewalt der Besatzer und stellte sie vor die Wahl: nachgeben oder...?

Jetzt griffen die Angeriffenen auf die Mittel ihrer Wahl zurück, in der Hauptsache bewährte gewerkschaftliche Kampfmittel: zeitlich befristete Streiks, um den Abzug fremder Soldaten zu erzwingen, um verhaftete Kollegen freizukämpfen oder um in Bedrängnis geratene Beamte oder Angehörige anderer Berufs- oder Personengruppen zu unterstützen. In der Verwaltung war neben dem Protest und dem Hinweis auf die Unzuständigkeit auch das "Versackenlassen" von Anordnungen häufig.

Glasklar war im Ruhrgebiet das Wissen von der Abhängigkeit des Spezialwissens verbreitet, das im Verkehrsbereich wie in den Zechenbetrieben die Voraussetzung des Funktionierens war. Innerhalb vieler besetzter Städte entstanden Räte, in denen verschiedene Bevölkerungs- und Berufsgruppen zusammenarbeiteten, um ihre Widerstandsaktionen abzustimmen und ihre Sichtweisen abzuklären. Vorläufer solcher übergreifender Zusammenarbeit waren die Arbeiter- und Soldatenräte der unmittelbaren Nachkriegszeit. Heute würden wir "Runde Tische" dazu sagen.

Die Grenzsperre wurde in den ersten Monaten durch einen lebhaften Schmuggel weitgehend ausgeschaltet.

Die Grenzen des Widerstandsrepertoires wiederum werden daran deutlich, daß die Besatzung im Laufe der Monate einen Bahntransport in gewissem Umfang aus eigener Kraft aufbauen konnte, ohne darin gehindert zu werden. Eine andere Schwierigkeit bestand in der Eskalationsgefahr, wenn bewaffnete Soldatentrupps auf größere Bevölkerungsgruppen trafen. Die meisten Todesopfer gab es in solchen Situationen, wenn Soldaten meinten, sich den Weg jetzt freischießen zu müssen. Im Laufe der Zeit schließlich wurde durch die scharfe Bewachung auch die Grenzsperre zu einer wirklich fast undurchdringlichen hermetischen Mauer, was den Widerstand zur Jahresmitte erheblich schwächte. Hier gab es offenbar keine wirksamen Mittel gegen diese Unterdrückungsmechanismen.

Bei dieser Aufzählung wird indessen klar, daß seit den 20er Jahren die Kompetenz im Widerstandsverhalten gewachsen ist. Denkt man an die Massenaktionen in Rheinhausen oder auch an die Vielzahl von Aktionen Zivilen Ungehorsams zur Zeit der Raketendebatte, wird deutlich, daß mit diesen Aktivitäten auch die Vermittlung von Organisations-, Handlungskompetenz und die Fähigkeit zur Eskalationskontrolle verbunden war.

Die wichtigen taktischen Fehler im Widerstand betrafen nicht einmal das Widerstandsverhalten, sondern resultierten aus der Unfähigkeit, richtige Schritte gegenüber den Spezialinteressen von Kommunalverwaltungen, Zechen und Ministerien durchzusetzen. Daran scheiterte die Chance, die Kohlen, die im besetzten Gebiet weiterhin gefördert wurden, in den Kellern der Bevölkerung verschwinden zu lassen, anstatt hilflos mitansehen zu müssen, wie die Besatzungsmächte sich diese mit Gewalt verschafften. Die Realisierung dieser Chance hätte die Effizienz des Widerstands drastisch erhöht und die materielle Widerstandsfähigkeit der Bevölkerung entscheidend stärken können.

Schließlich scheiterte das erste großangelegte, unfreiwillige Experiment mit zivilen Widerstandsmethoden an einer verfehlten diplomatischen Konzeption und der mangelnden Mobilisierung wirtschaftlicher Ressourcen. Auf die Schieflage der deutschen Diplomatie hatten bereits früher als andere PazifistInnen (Ludwig Quidde und Helene Stöcker) hingewiesen und die Gewerkschaften, die sich in diesem Kampf aufrieben, vergeblich gedrängt, Position zu beziehen. Sie bewiesen damit eine tiefere Einsicht in die machtpolitischen Zusammenhänge, aber auch in die Chancen zu wirklicher Verständigung, die im Ruhrkampf vorhanden waren, aber nicht zum Zuge kamen.

Quelle: Friedensforum 5/94, Seite 33-34


Barbara Müller ist Historikerin und aktiv im Bund für Soziale Verteidigung

E-Mail: friekoop (at) bonn (Punkt) comlink (Punkt) org
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