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Ostermarsch 12. April 2004 in Bern

Liebe Freundinnen und Freunde,

Irena Brezna (Bern)

Europa überwindet seine östlichen Grenzen. Ich stamme aus einem Land, das vier Jahrzehnte lang hinter dem Eisernen Vorhang lag und nun in die EU kommt. Wenn die westlichen Politiker weiter nach Osten gehen, die Scheu auch vor Russland ablegen, ist dies Friedensarbeit. Und doch nicht. Denn die neue Russophilie betrifft einen Mann, der aus einem kleinen kaukasischen Land Steinwüste gemacht hat, der im Oktober 1999 vom Kaspischen Meer Präzisionsraketen Zemja-Zemja abfeuern liess, die Hunderte von tschetschenischen Marktfrauen in den Ruinen von Grosny zerfetzten. Russland warf von der Genfer Konvention verbotene chemische und biologische Waffen auf die einzigartige Flora und Fauna im Nordkaukausus ab - Entlaubungsmittel, Phosphor wie auch Vakuumbomben, die im grossen Umkreis die Lungen zerreissen. Die russische Regierung bestreitet dies bis heute. Ich habe 1996 eine explodierte Vakuumbombe im Dorf Samaschki gesehen und den Abwurf von Napalm über dem Dorf Sernowodsk erlebt. Die russische Armee benützte regulär von der Weltgemeinschaft verpönte Damm -Dammgeschosse, die solange durch den Körper wandern, bis der Mensch qualvoll stirbt.

Die Liste der Kriegsverbrechen in diesem Kolonialkrieg ist lang und wird täglich länger. Kein Kriegstribunal zu Tschetschenien fand statt, der offizielle Westen konfrontiert den russischen Präsidenten nicht mit Zahlen wie diesen: 25% der tschetschenischen Bevölkerung ist in den beiden Kriegen seit Dezember 1994 umgekommen und 30% ist zu Flüchtlingen geworden. Das weniger als eine Million zählende Volk hat inzwischen zehntausende Kriegsinvalide, ob durch Minen, Granaten oder Folter. Tschetschenien ist das mit Minen drittverseuchteste Land der Welt. Die tschetschenische Menschenrechtlerin Zainap Gaschajewa hat Namenslisten von Voll- und Halbwaisen, einigen bringt sie Hefte, etwas Mehl, Tee und Zucker, sie schätzt ihre Zahl auf 60.000. Es gibt keine tschetschenische Familie ohne Tod und Verstümmelung.

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Die EU hat wiederholt die russische Regierung, ob unter Jelzin oder Putin mit Milliarden sogenannter Demokratisierungshilfe vollgepumpt, während Grosny und hunderte von Dörfern bombardiert wurden - mitfinanziert von den westlichen Steuerzahlern. Herr Putin hat im Einverständnis der westlichen Demokraten, die mit ihm gerne per Du sind und ihren Urlaub mit ihm verbringen, die Jagd auf die sogenannten tschetschenischen Terroristen für eröffnet erklärt. Der russische Kampf gegen den Terrorismus bedeutet, dass meist junge tschetschenische Männer willkürlich verhaftet und in zahlreichen sogenannten "Filtrationslagern" gefoltert werden dürfen, es bedeutet "Zatschistki", Säuberungen, das heisst, dass im Morgengrauen maskierte Angehörige von Spezialeinheiten Zivilisten aus ihren Häusern verschleppen und später den Familien die verstümmelten Leichen für hohe Preise in US Dollars zum Verkauf anbieten. Ueber 80.000 Soldaten, Angehörige der Polizei-, des Geheimdienstes FSB, der OMON-Einheiten sind in einem Land mit einer Bevölkerung von etwa 400.000 Menschen stationiert. In einer straflosen Zone, zu der weder internationale Beobachter noch Helfer und keine Medienleute freien Zutritt haben.

Die russische Menschenrechtsorganisation Memorial berichtet von regelmässigen Vergewaltigungen, von monatlich Dutzenden Verschwundenen, von Plünderungen. Ich habe bei meinen Besuchen in Tschetschenien Panzerwagenkolonnen beladen mit Möbeln, Teppichen, Elektrogeräten gesehen. In jedem durchwühlten Bauernhaus hat sich die Besatzungsarmee bedient, in den Ställen Kühe, Schafe im Wodkarausch abgeknallt. Die tschetschenischen Bauern lieben ihre Tiere genauso wie die Schweizer Bauern. Mit dem Tod der Tiere wird ihnen auch die Lebensgrundlage entzogen. Der Krieg, das sah ich in jedem Dorf, bedeutet sinnlose Gewalt auch gegen Tiere, es bedeutet Respektlosigkeit der ganzen Umwelt gegenüber. Diese Soldaten, die von ihren Vorgesetzten eine Lektion in triumphierender Zerstörung und Straflosigkeit bekommen, kehren kriminalisiert, verstört nach Hause. Der Gatinnenmord hat sich in den letzten Jahren in Russland vervierfacht. Es sind diese Tschetschenienrückkehrer, die mit ihrer Agression nicht umgehen können, sie werden mit ihren Symptomen alleine gelassen, ihre eigene Gesellschaft stösst sie aus.

Und die tschetschenische Jugend wächst in der Atmoshäre der Willkür, der perversen Brutalität auf, manche binden sich Sprengstoff um die Taille und tragen die Antwort auf Wunden, die ihrer Familie, ihrem Land angetan wurden, nach Russland zurück. Die Todessehnsucht ist die Begleiterin des Krieges. Die Selbstmordatentate sind ein neues Phänomen in der tschetschenischen Kultur. Sie sind Flaschenpost aus einem Konzentrationslager. Immer mehr von diesen gefährlichen Botschaften werden ans Ufer gespült. Wir sollten sie richtig lesen lernen. Die westlichen Politiker wissen, was in Tschetschenien geschieht, doch sie argumentieren, dass die Kritik an Russland kontraproduktiv sei, dass man Russland nicht isolieren dürfe. Sie verbünden sich mit einer Kraft, die Russland schadet, statt jenen Russinnen und Russen behilflich zu sein, die mutig gegen Putins Militarisierung, gegen seine Zensur der freien Medien, gegen den autoritären Persönlichkeitskult arbeiten. Diese dünne Bevölkerungsschicht ist das Gewissen Russlands. Russland zu achten, Russland ins gemeinsame Europa einzubeziehen, soll bedeuten, von Russland Achtung vor dem Anderen zu verlangen und bei Menschenrechtsverletzungen unnachgiebig zu sein, nicht Lügen, die Menschenleben fordern, als Kompromisse zu akzeptieren, nicht ein uraltes kaukasisches Volk kurzsichtig, amoralisch den Wirtschaftsinteressen zu opfern. Es kann kein demokratisches Russland geben, solange im Kaukasus Völkermord verübt wird.

Die Weltgemeinschaft muss forden, dass Tschetschenien für Medien, humanitäre Hilfe und internationale Beobachter geöffnet wird. UNO-Truppen sollen die russischen Truppen ablösen, ein funktionierendes Gerichtswesen soll etabliert werden. Tschetschenische Menschenrechtler und Menschenrechtlerinnen sowie die Vertreter der kämpfenden Partei sollen bei Entwürfen über eine tschetschenische Zivilgesellschaft mitreden. Ein Kriegstribunal soll die Verbrechen untersuchen, der Begriff Völkermord soll für Tschetschenien anerkannt werden. Tschetschenien ist ein Teil Europas, die Sicherheit der tschetschenischen Zivilbevölkerung ist auch ein Teil unserer Sicherheit. Kein Schweigen mehr zu Tschetschenien!

  Mehr Informationen über Irena Brezna und ihre Bücher
http://www.brezna.ch

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