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2005


vom:
26.03.2005


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Ostermarsch 2005

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Redebeitrag zum Ostermarsch in München am 26. März 2005

Zu einer friedlichen Gesellschaft gehört auch sozialer Frieden

Heinrich Birner (München)

- Sperrfrist: Redebeginn -

- Es gilt das gesprochen Wort -



Liebe Freundinnen und Freunde,
aus den Friedensinitiativen und Friedensorganisationen,


liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Gewerkschaften,
liebe Münchner Bürgerinnen und Bürger,


Frieden kann nicht allein auf die Abwesenheit von Krieg reduziert werden. Zu einer friedlichen Gesellschaft gehört auch sozialer Frieden. Deshalb lautet das Ostermarsch-Motto 2005:

"Abrüstung, Demokratie & soziale Gerechtigkeit - Ein anderes Europa ist möglich"

Von einem sozialen Europa sind wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts allerdings sehr weit entfernt. Die sozialen Gegensätze werden in nahezu allen entwickelten Industriestaaten größer. Die Verteilung der Einkommen und der Vermögen wird in den reichen Ländern von Jahr zu Jahr ungerechter.

Gerade mal ein halbes Prozent der Erwachsenen in unserem Land, das sind rund 400.000 Bürgerinnen und Bürger, besitzen über ein Viertel des gesamten Geldvermögens. Tendenz zu ihren Gunsten steigend.

Der Spitzensteuersatz ist in zwei Schritten abgesenkt worden. Die Reichen und Einkommensstarken wurden dadurch um mehrere Milliarden Euro steuerlich entlastet. Allein die Reduzierung des Spitzensteuersatzes von 45 % auf 42 %, die zu Jahrsbeginn in Kraft getreten ist, brachte den Vermögenden Steuergeschenke in einer Summe von 2,5 Milliarden Euro. Ein Einkommensmillionär zahlt dadurch im Jahr rund 30.000 Euro weniger Steuern. Soviel, liebe Freundinnen und Freunde, verdienen die meisten von euch nicht einmal in einem ganzen Jahr.

Gleichzeitig wurden zu Jahresbeginn die Hartz IV-Gesetze in Kraft gesetzt. Das Einsparziel hat die Bundesregierung mit 2,5 Milliarden beziffert. Rein zufällig ist dies der Betrag der Steuersenkung für die Wohlhabenden. Diejenigen, die keine Arbeit haben und auf Arbeitslosengeld oder Arbeitslosengeld II angewiesen sind, finanzieren also Steuergeschenke für die Reichen und Vermögenden. In einer Zeit, in der mehr als 5 Millionen Arbeitsplätze fehlen, ein blanker Zynismus.

Die steuerliche Umverteilung von unten nach oben reicht den Vordenkern in den Schaltzentralen der großen Konzerne und ihrer Wirtschaftsverbände jedoch nicht aus. Die Löhne seien in Deutschland um 10-15 % zu hoch. Bei einfachen Tätigkeiten sogar um bis zu 30 %. Dies behauptet der Präsident des Münchner Ifo-Instituts, Herr Hans-Werner Sinn.

Norbert Walter, Chef-Ökonom der Deutschen Bank, spricht aus, was in den Hinterzimmern vorbereitet wird. In Zukunft können "manche von uns nicht so viel verdienen, wie sie in Deutschland zum Überleben brauchen. Dann kann es sein, dass zwei oder drei Mitglieder einer Familie arbeiten müssen, damit es zum Leben reicht." Es gehe nicht mehr, dass Unternehmer verpflichtet sind, "einem Beschäftigten einen Familienlohn zu zahlen". Der Banker Walter fordert eine Absenkung des Sozialleistungsniveaus, damit die Arbeitnehmer motiviert sind, auch für Hungerlöhne zu arbeiten.

Wer nicht bereit ist, für so einen Billiglohn zu arbeiten, der wird spätestens nach einem Jahr Arbeitslosigkeit den Druck der Hartz IV-Gesetze spüren und finanziell abstürzen. Die neoliberale Sichtweise, die zu solch unsozialem Handeln führt, prägt aber nicht nur die Politik in Deutschland. In der Europäischen Union sollen nahezu alle Lebensbereiche dem Wettbewerb unterworfen werden. Die EU will alle öffentlichen Dienstleistungen, die heute vor allem die Kommunen erbringen, zwangsweise in den Wettbewerb führen. Insbesondere die Betriebe der Daseinsvorsorge, wie z. B. die Verkehrsbetriebe, die Trinkwasserversorgung, die Abwasserentsorgung, die Abfallwirtschaft sind Unternehmen in gesellschaftlichem Eigentum. Die Betriebe der Daseinsvorsorge arbeiten in der Regel kostendeckend und gehören den Bürgerinnen und Bürgern. Durch den Zwangswettbewerb sollen sie in das Eigentum und in die Verfügungsgewalt privater Konzerne gebracht werden. Überschüsse bleiben dann nicht in der Kommune, sondern landen in den Kassen der Konzerene.

Damit aber nicht genug. Die EU-Kommission ist angetreten, den gesamten Bereich der Dienstleistungen, die gegen Entgelt erbracht werden, zu deregulieren. In diesem Sektor arbeiten rund 70 % aller Beschäftigten in der EU. Der frühere Binnenmarkt- Kommissar Bolkestein hat den Entwurf für eine EU-Dienstleistungsrichtlinie vorgelegt.

Ziel ist es, Hindernisse der Niederlassungsfreiheit und der grenzüberschreitenden Dienstleistungsfreiheit zu beseitigen. Die Bolkestein-Richtlinie ist ein umfangreiches Marktöffnungsprogramm.

In der praktischen Wirkung ist die Dienstleistungs-Richtlinie ein Frontalangriff auf die Verbraucher- und die Arbeitnehmerrechte. Ein Dienstleister kann künftig europaweit seine Dienstleistungen anbieten. Dagegen ist nichts erst mal nichts einzuwenden. Aber, und jetzt kommt es. Er gelten die Rechtsvorschriften seines Herkunftslandes. Was Unternehmen die Expansion ins Ausland erleichtert, verlangt von Verbrauchern und Arbeitnehmern, sich in über 20 unterschiedliche Rechtssysteme, mit über 20 verschiedenen Amtssprachen, einzuarbeiten. Das Herkunftslandprinzip wird eine Abwärtsspirale bei Löhnen und Arbeitsrechten auslösen. Dazu ein Beispiel: Eine Einkaufskette mit Sitz in England richtet in München ein Tochterunternehmen ein und stellt dazu deutsche Verkäuferinnen ein. Mit dem Herkunftslandsprinzip ist es möglich, dass die Löhne und Arbeitsbedingungen nach britischem Recht geregelt werden. Bisher ist dies nur möglich, wenn dies für die Arbeitnehmer zu günstigeren Regelungen führt.

Der Neoliberalismus wird durch die EU-Verfassung zur Staatszielbestimmung. Die EU-Mitgliedsstaaten werden auf eine Wirtschaftspolitik der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet. Unbeschränkte Kapitalmobilität und Freihandel werden als Leitlinien globaler Wirtschaftspolitik festgeschrieben. Die Tür in Richtung Liberalisierung und Privatisierung Öffentlicher Dienste im Bereich Bildung, Soziales und Gesundheit wird weiter geöffnet.

Nicht der Mensch als Individuum oder die Bürgerinnen und Bürger in ihrer sozialen Gemeinschaft stehen im Zentrum der europäischen Verfassung, sondern die Interessen der Wirtschaft und der Vermögensbesitzer.

Die Forderungen der Gewerkschaften, der sozialen Bewegungen und der Friedensbewegung gegen die neoliberale Politik in Europa sind hinlänglich bekannt. Wir brauchen eine gerechte Steuerpolitik, die denjenigen, die mehr schultern können, auch mehr abverlangt. Die Wiedereinführung der Vermögenssteuer ist ein wichtiger Pfeiler einer gerechten Steuerpolitik. Wir verteidigen die sozialen Errungenschaften in der Sozialversicherung, bei den Arbeitsbedingungen, den Arbeitszeiten und den Löhnen. Wir fordern öffentliche Investitionsprogramme, mit denen die Binnennachfrage angeschoben und Arbeitsplätze geschaffen werden.

Die Ostermarschbewegung war schon immer eine Bewegung, die Visionen über das Alltagshandeln hinaus entwickelt hat. Was wir in den nächsten Monaten und möglicherweise auch Jahren brauchen, ist eine Debatte über einen neuen Gesellschaftsvertrag.

John Locke, der philosophische Vater der Menschen- und Bürgerrechte, hat bereits 1690 geschrieben, dass der Mensch im Naturzustand drei grundlegende Rechte hat; das Recht auf Leben, das Recht auf Freiheit und das Recht auf Besitz.

Im Gesellschaftsvertrag kommen die Menschen überein, die Macht zur Durchsetzung der Menschenrechte an staatliche Institutionen zu übergeben. Sie übergeben diese Macht jedoch nicht bedingungslos und nicht für immer, sondern als Vertrauensleihgabe. Das englische Wort, dass Locke benutzt, heißt "trust", also Vertrauen. In diesem Vertrauen ist sowohl der "consent", die Zustimmung des Bürgers, als auch das Ziel des "public good" des öffentlichen Wohls, dem die Institutionen des Staats verpflichtet sind, enthalten. Handelt ein Herrscher gegen die Zustimmung der Mehrheit der Bürger, so hat er den Gesellschaftsvertrag gebrochen. In diesem Fall kann der Gesellschaftsvertrag von den Bürgerinnen und Bürgern, dem Souverän, auch wieder aufgekündigt werden.

Auf heute übertragen, würde das möglicherweise bedeuten, dass sowohl die EUKommission, als auch die nationalen Regierungen, per Volksentscheid abgesetzt werden könnten, wenn ihre Politik nicht mehr dem Volkswohl dient.

In einem Gesellschaftsvertrag oder in einem Sozialpakt für Fair Play, wie ihn der amerikanische Philosoph John Rawls schon 1971 gefordert hat, müssen die grundlegenden Freiheits- und Bürgerrechte vereinbart werden. Wichtig ist aber auch die Festlegung der Grundsätze für die "Grundstruktur" der Gesellschaft. Ganz oben müssen die zwei Gerechtigkeitsprinzipien stehen. Die Verteilungsgerechtigkeit, die besonders die sozial Schwächeren berücksichtigt und die Chancengerechtigkeit, die allen Bürgern den Zugang zu Ausbildung und gesellschaftlicher Einflussmöglichkeit öffnet.

Mit einer intensivern Debatte über einen neuen Gesellschaftsvertrag verbinde ich die Hoffnung, dem derzeitigen Mainstream mit seinem neoliberalen Denken etwas entgegensetzen zu können. Ein anderes Europa ist möglich, es muss aber erst in unseren Köpfen erdacht und miteinander diskutiert werden.

Liebe Freundinnen und Freunde,

ich finde es wichtig, dass die Friedensbewegung, die sozialen Gruppierungen und die Gewerkschaften nicht nachlassen, das Thema der sozialen Ungerechtigkeit in unserem Land offensiv anzugehen. Wenn wir nicht das Sprachrohr der Verlierer in der Gesellschaft bleiben, dann überlassen wir das Feld den braunen Rattenfängern.

Sehr geschickt versuchen rechtsradikale Parteien, mit Aussagen wie "Hartz IV muss weg" auf Stimmenfang zu gehen. Mit dem vorgetäuschten Eintreten für soziale Gerechtigkeit, versuchen sie bei den von der Politik enttäuschten Bürgerinnen und Bürgern zu punkten. Ihre wahren Ziele einer rassistischen und faschistischen Gesellschaftsordnung verstecken sie geschickt unter diesem Deckmantel.

Am 02. April wollen Rechtsradikale und Neofaschisten in unserer Stadt für ihre verfassungsfeindlichen Ziele demonstrieren. Den braunen Horden muss etwas entgegen gesetzt werden. Wir dürfen ihnen nicht die Straßen und Plätze in unserer schönen Stadt überlassen. Ich rufe deshalb alle Münchner Bürgerinnen und Bürger auf, am 02. April an den Gegendemonstrationen teilzunehmen.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit!



Heinrich Birner ist Geschäftsfüher der ver.di Bezirk München.

E-Mail: heinrich.birner@verdi.de

Website: www.verdi.de
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