Oster-
märsche
2005


vom:
26.03.2005


 voriger

 nächster

Ostermarsch 2005

 Reden/Kundgebungsbeiträge

Redebeitrag zum Augsburger Ostermarsch 2005 am 26. März

Ein Gespenst geht um in Europa

Kurt Köpruner (Augsburg)

- Sperrfrist: Redebeginn -

- Es gilt das gesprochene Wort -



Für Conny, geboren am 24. März 2003 in Potsdam

Liebe Augsburgerinnen und Augsburger!

Ein Gespenst geht um in Europa. Weltweit sogar treibt es sein Unwesen. Jeder bekommt seinen kalten Hauch zu spüren: Arbeitnehmer und Arbeitslose, Pensionsbezieher und Kranke. Jedes Unternehmen tut, was es verlangt; selbst Parteien, Parlamente und Regierungen tanzen nach seiner Pfeife.

Dabei hat das Gespenst einen recht simplen Namen. Man nennt es schlicht "Sachzwang". Dieses Wort soll offenbar eine Notwendigkeit benennen, die keineswegs von schlechten Menschen oder bösen Mächten ausgeht, einen Zwang vielmehr, der in der Natur der Sache liegt.

Oder glaubt da jemand, dem Gerhard Schröder bereite es Spaß, Monat für Monat neue Horrorzahlen schönzureden?

Nein, es ist nichts als Sachzwang, wenn Arbeitsplätze ins Ausland verlagert werden. Eine Arbeitsstunde im Osten kostet bekanntlich nur ein Zehntel des Preises im Westen, und in der Dritten Welt noch viel weniger - daran kann kein besseres Unternehmen vorbeikommen.

Es ist Sachzwang, wenn Arbeitszeiten verlängert, Sozialleistungen gekürzt werden. Die Menschen leben heute nun einmal viel länger als früher, und wer soll das bezahlen?

Es ist Sachzwang, wenn Beiträge und Gebühren erhöht werden. Gesundheit ist nun mal ein kostbares Gut.

Es ist Sachzwang, wenn die Gewinnsteuern gegen Null tendieren, denn sonst wandert das Kapital eben in freundlichere Regionen ab.

Und so weiter, und so fort. Wir alle kennen die gespenstischen Schlagworte: Liberalisierung und Deregulierung, Flexibilisierung und Globalisierung. Im politischen Alltag hier zu Lande heißt das dann: Agenda 2010, Harz IV und Rürup V. Oder - etwas blumiger: "Schaffung von Minijobs im Niedriglohnsektor", "Freier Dienstleistungsverkehr", "Kampf gegen Faulenzer und Drückeberger", um nur ein paar dieser Euphemismen zu nennen.

"Alles", so wird uns eingehämmert, "alles muss sich ändern, damit alles so bleibt, wie es ist." "Zu alledem gibt es gar keine Alternative."

"Das muss umgesetzt werden - ohne Wenn und Aber."

"Das ist das Gebot der Stunde - das ist nichts als Sachzwang!"

Merkwürdig ist nur, dass bei alledem ausnahmslos immer nur eines herauskommt: Umverteilung von unten nach oben. Damit die Starken noch stärker, die Reichen noch reicher werden.

Lassen wir uns nicht irre machen! Gespenster - das weiß jedes Kind - gibt es nur im Märchen. Und auch beim Gespenst namens "Sachzwang" hat sich jemand ein Leintuch über den Kopf gezogen, um Angst und Schrecken zu verbreiten.

Fragen wir uns: Wem nützt das ganze Spektakel? Wer übt den Sachzwang aus? Wer ist das Gespenst? Wer verbirgt sich unter dem Leintuch?

Die Antwort ist kein Geheimnis: Es ist nichts anderes als das, was heute selbst in konservativen und liberalen Medien mit der größten Selbstverständlichkeit mal als "Raubtierkapitalismus" mal als "Turbokapitalismus" bezeichnet wird.

Und der besteht gar nicht so sehr im Konzern X oder im Kapitalisten Y oder im Kanzler Z. Das sind nur Phänomene eines Systems. Eines Systems, unter dessen Räder kommt, wer sich ihm nicht anpasst.

Das System besteht in der Herrschaft des Geldes über den Menschen. Das System macht es möglich, dass einige wenige Auserwählte ihre Einkünfte nicht mit Kopf- oder Handarbeit erzielen müssen, sondern indem sie ihr Geld arbeiten lassen. Ja, Geld arbeitet und bringt Ertrag! Und das schon sehr lange. Auf diese Weise haben sich mittlerweile aberwitzige Kapitalberge angesammelt, die nur das Ziel haben, sich pausenlos zu vergrößern. Jahr für Jahr, Monat für Monat, Tag für Tag.

Das ist das oberste Gesetz, nach dem alles funktioniert. Und es hat zur Folge, dass auf der Welt nicht das geschieht, was gut ist für möglichst viele Menschen, sondern allein das, was die Geldberge am schnellsten weiter anwachsen läßt, sprich: was die größte Rendite bringt.

Keine Frage: In diesem System funktioniert vieles wunderbar, und viele von denen, die heute noch jung, gesund und nicht arbeitslos sind, glauben noch immer bedingungslos daran.

Doch mehr und mehr wird das System zum Monster. Denn es gibt immer mehr Geld, das arbeiten muss, und deshalb müssen stets neue Bereiche erschlossen werden, in denen Geld gewinnbringend angelegt werden kann. Und was nicht sofortige Rendite verspricht, gilt als Schrott. Kein Lebensbereich kann da ausgenommen werden, und selbst der entfernteste Landstrich wird davon erfasst.

Vollbeschäftigung für das Geld - das hat absoluten Vorrang. Das klingt so absurd wie es ist.

Und vergessen wir eines nicht: Wir haben es mit einem Raubtier zu tun, einem sehr hungrigen und sehr mächtigen Raubtier. Und übersehen wir nicht, dass mit Globalisierung und Liberalisierung untrennbar eines verbunden ist: Die Militarisierung.

Auch die ist ein Sachzwang. Denn das Arbeit suchende Geld braucht freie Bahn. Ellbogenfreiheit - und die ist nicht selten nur mit Krieg zu erhalten.

Warum das so ist? Auch die Antwort darauf ist kein Geheimnis. Weil das Arbeit suchende Geld bei seiner wundersamen Vermehrung immer wieder einmal auf Widerstand stößt. Auch auf Konkurrenz. Doch Widerstand und Konkurrenz duldet das Monster nicht. Seine Propheten predigen zwar die "Freie Marktwirtschaft", in Wirklichkeit ist das Monster der Feind, der Todfeind, jeder echten Marktwirtschaft. Wettbewerb bei gleichen Chancen, mit Spielregeln, die für alle gelten, das ist Gift für das Raubtier. Konkurrenten werden verdrängt oder einfach aufgekauft. Nicht der Klügere oder Bessere oder Fleißigere darf sich durchsetzen, nein: der Stärkere.

Und weil man stark nur durch Waffen wird, wird gerüstet und gerüstet und gerüstet.

Kein Mensch kann die Milliarden benennen, die dafür aufgewendet werden. Jahr für Jahr, Monat für Monat, Tag für Tag. Aberwitzige Beträge, die weltweit für soziale Gerechtigkeit sorgen könnten.

Doch soziale Gerechtigkeit bringt keine Rendite und ist daher nicht angesagt. Sie wissen schon, das verbietet der Sachzwang.

Gut, sagen so manche, das ist nicht schön, aber so ist es eben, da kann man nichts machen. Und überhaupt, was gehen uns Kriege an, Kriege in fernen Regionen? Und so ganz unschuldig sind die dort ja wohl auch wieder nicht.

Wenn das nur nicht zu kurz gedacht ist!

In diesen Tagen, meine sehr geehrten Damen und Herren, jährt sich zum sechsten Mal ein Ereignis, das schon beinahe vollständig der Vergessenheit anheim gefallen ist, das aber mit gutem Grund die Wiedereinführung des Faustrechtes genannt werden kann: Das NATO-Bombardement gegen Jugoslawien.

Erinnern wir uns: Ab dem 24. März 1999 bombardierten 19 Nato-Staaten 78 Tage und Nächte lang ein kleines, fast wehrloses Land. Dabei wurden tausende Menschen getötet, hunderttausende vertrieben und die Lebensgrundlagen von Millionen zerstört. Nato-Soldaten sorgen dort seither für Ruhe und Ordnung. Was sie in sechs Jahren erreicht haben, ist ein totales Fiasko. Kein einziges der angeblichen Ziele dieser Bombenaktion wurde erreicht. Und doch werden uns die Bomben bis heute erfolgreich als der erste Krieg der Geschichte verkauft, bei dem es ausschließlich um Menschenrechte gegangen sei.

Selbst Vergleiche mit Auschwitz wurden gezogen. Man erklärte, einen multikulturellen Kosovo herbeibomben zu müssen - und hat das genaue Gegenteil erreicht: Der Kosovo, das läßt sich nicht bestreiten, ist heute jenes Land der Erde, in dem die Nationalitäten so scharf wie nirgendwo sonst von einander getrennt leben müssen.

Allein damit schon könnte man den ganzen Irrsinn der Bomben und die vielen Lügen entlarven. Doch das für uns entscheidende Ergebnis dieses Krieges ist die Tatsache, dass mit der Mißachtung des UNO-Sicherheitsrates so ganz nebenbei das Völkerrecht außer Kraft gesetzt wurde: Wenn es hart auf hart geht, ist es seit dem März 1999 das Papier nicht mehr wert, auf dem es steht. Seither gilt letztlich wieder das Faustrecht.

Trotzdem ist die Welt mit sich im Reinen und kein Mensch spricht mehr davon. Wie ist das möglich?

"Was ist Wahrheit?", fragte einmal einer, der aus der Branche kommt. Und er fand eine treffliche Antwort. "Drei Wochen Pressearbeit und alle Welt hat die Wahrheit erkannt. Ihre Gründe sind solange unwiderlegbar, als Geld vorhanden ist, sie ununterbrochen zu wiederholen."

Es wäre nun verlockend, auf unsere Medien zu schimpfen. Und in der Tat, dafür gäbe es Gründe genug. Doch das ginge am Kern unseres Problems vorbei, denn auch bei den Medien herrscht der Sachzwang. Man braucht nur die Werbeeinschaltungen im Fernsehen oder die Inserate in den gedruckten Medien zu betrachten. Da wird mit sehr viel Geld durchwegs für mehr oder weniger harmlose Dinge geworben. Und zwar von Konzernen, die wirklich nichts Böses im Schilde führen; die nichts anderes wollen, als ihre Produkte zu verkaufen. Für ihre sagenhaften Werbebudgets erwarten sie natürlich, dass die Medien zu einem verkaufsfreundlichen Klima beitragen, was sich ja nun wirklich von selbst versteht.

Das Resultat dieser Selbstverständlichkeit aber ist die freiwillige Selbstgleichschaltung der Medien bei allen Problemen, die das Verkaufsklima stören könnten. Krieg und das sonstige Elend auf diesem Planeten dürfen nur als schaurige Show oder als humanitäre Aktion vorkommen.

Es ist lehrreich, die Vorgänge in Jugoslawien genau zu studieren. Denn sie zeigen, dass es bei diesem NATO-Verbrechen um vieles gegangen ist, aber um eines ganz sicher nicht: Um die Humanität. Die zusammengebombten Menschen waren so schuldlos am Krieg wie Sie und ich.

Ja gut, sagen machen, im Fall Jugoslawien war vielleicht wirklich nicht alles in Ordnung, doch das war ja eine sehr komplexe Geschichte, und außerdem ist das längst vorbei. Lass uns nach vorne schauen.

Einverstanden, schauen wir nach vorn. Dabei müssen wir weder Propheten sein, noch allzu phantasiebegabt. Ein Szenario etwa, in dem eine erstarkte EU den Interessen der USA allzu sehr in die Quere kommt, bietet sich geradezu an. Setzt nicht die EU seit Lissabon erklärter Maßen alles daran, die stärkste Wirtschaftsmacht der Erde zu werden? Es erübrigt sich die Frage, ob die USA sich tatenlos ihren Rang ablaufen lassen werden. Sie sind doch die Stärksten, und das wollen sie ganz bestimmt auch bleiben. Und da könnte leicht der Fall eintreten, dass auch wir in eine sehr komplexe Geschichte verwickelt werden.

Doch seien wir vorsichtig. Es ist in Europa opportun geworden, mit den Fingern auf die USA zu zeigen. Mit durchaus sehr guten Gründen. Doch was ist Europas Antwort auf den US-amerikanischen Irrsinn? Ist die Europäische Union tatsächlich die Friedensmacht, die in Sonntagsreden so gerne beschworen wird? Tritt sie wenigstens bedingungslos für die Wiederinkraftsetzung der entscheidenden Bestimmungen des Völkerrechtes ein?

Die Europäische Union ist bekanntlich gerade dabei, sich eine neue Verfassung zu geben. Und da ist sehr viel von Friede die Rede, und von Freiheit, Menschenwürde und anderen hehren Prinzipien. Doch wer genauer hinschaut, der könnte das Gruseln erlernen.

Als kleine Kostprobe zitiere ich aus einem Papier einer europäischen Denkfabrik, des "Instituts für Sicherheitsstudien", das jedermann im Internet nachlesen kann1. Die Rede ist da vom notwendigen Umbau unseres Militärs:

"Die Transformation europäischer Streitkräfte von der Landesverteidigung in Richtung Intervention und Expeditionskriegszügen ist eine unabdingbare Voraussetzung für eine effektive europäische Sicherheitsstrategie."

"Europäische Expeditionskriegszüge"? Das muss wohl ein Übersetzungsfehler sein. Würde man meinen. Ich habe aber in mehreren Wörterbücher nachgeschaut und keine sympathischere Bedeutung für "expeditionary warfare" gefunden. So steht es im englischen Originaltext. Und wer die Analysen der europäischen Sicherheitsdenker genauer unter die Lupe nimmt, der weiß, dass das genau so gemeint ist, wie es geschrieben ist. Denn - ein weiteres Zitat: "Europa kann seine Verteidigungspolitik nicht auf der Annahme aufbauen, dass es nicht größere militärische Herausforderungen im Mittleren Osten gibt, die von der gleichen oder sogar einer größeren Dimension als der Golfkrieg von 1990/1991 sind."

Da werden Szenarien erkennbar, auf die wir uns einzustellen haben. Alles Sachzwang. Da ist es nur logisch, dass auch die EU sich maximal am Rüstungswettlauf beteiligt und sich in ihrer neuen Verfassung das Recht ausbedingt, auch ohne UNO-Mandat Krieg führen zu können. Das Faustrecht läßt grüßen.

Aber, wird man einwenden, wir leben doch in einer Demokratie. So lange eine Mehrheit das will. Alle Macht geht doch vom Volk aus.

Tut es das wirklich? Ist tatsächlich eine Mehrheit damit einverstanden, dass das Raubtier immer wütender um sich beißt? Dass "mehr als eine Milliarde Menschen chronisch unterernährt dem Hungertod entgegen dämmert"?2 Dass alle sieben Sekunden irgendwo auf unserem Planeten ein Kind an den Folgen von Hunger verreckt? Dass auch bei uns immer mehr Menschen durch den Rost fallen?

Ganz sicher nicht. Offenbar aber gelingt es der Macht des Geldes problemlos, uns all das als unvermeidlichen Sachzwang zu verkaufen. Ich kenne zwar niemanden, der unsere Demokratie nicht als Politshow empfände, doch kaum einer empört sich.

Zu gut offenbar wird die Show inszeniert. Und das ist ja auch wirklich spannend: Schafft es der Gerhard trotz allem noch einmal? Und wie wird die so lebenswichtige K-Frage diesmal entschieden? Da kann man sich so richtig als Souverän fühlen, mitentscheiden, was läuft. Und die "Eckpfeiler unserer Demokratie", die Parteien, machen bei diesem lächerlichen Spiel mit. Notgedrungen, denn auch sie unterliegen dem Sachzwang: Sie würden gnadenlos abgestraft, träten sie dem Raubtier wirklich entgegen.

Was, meine Damen und Herren, haben nachdenkliche Bürger all dem entgegen zu setzen?

Nie wurden weltweit mehr Werte geschaffen, nie war die Welt reicher als heute. Doch der Reichtum kommt immer weniger Menschen zu gute. Wenn die Erträge aus Finanztransaktionen auch nur einigermaßen gerecht besteuert werden würden, ließen sich rasch viele Probleme lösen. Und wenn dann noch die unsagbar hohen Ausgaben für Rüstung für sinnvolle, Menschen dienende Zwecke eingesetzt werden würden, könnten auf unserem Planeten tatsächlich alle gut leben.

Was wir dafür brauchen, ist eine "Revolution der Demokratie", um es mit dem Titel eines empfehlenswerten Buches von Professor Johannes Heinrichs zu sagen. Und wir brauchen, wie es in einem Kernsatz dieses Buches heißt, "eine grundsätzliche und globale Neuordnung des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit" 3.

Das werden wir nicht von heute auf morgen bekommen und schon gar nicht, wenn wir den Sachzwang weiter als Naturgesetz akzeptieren. Aber wir haben nur die Alternative: Entweder wir sehen tatenlos zu, wie die Welt vor lauter Sachzwängen immer unmenschlicher und schließlich vor die Hunde gehen wird, oder wir setzen uns mit allen gewaltfreien Mitteln zur Wehr.

Ich weiß mich mit Ihnen eins, dass wir es unseren Kindern schuldig sind, nicht zu resignieren, sondern nachzudenken und das in unseren Kräften Stehende dagegen zu tun. Und dafür danke ich Ihnen. Ich danke der Augsburger Friedensinitiative und allen die sich konsequent für Frieden und soziale Gerechtigkeit engagieren.

Reißen wir dem Gespenst das Leintuch vom Kopf!

Nehmen wir Demokratie wörtlich!



Anmerkungen:



1)Institut for Security Studies, kurz ISS: http://www.iss-eu.org/chaillot/wp2004.pdf



2)Jean Ziegler, UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung



3)Johannes Heinrichs: "Revolution der Demokratie. Eine Realutopie"




Kurt Köpruner ist Autor und Publizist.

E-Mail: info@koepruner.de

Website: www.koepruner.de
 voriger

 nächster




       
Bereich:

Netzwerk
Die anderen Bereiche der Netzwerk-Website
          
Themen   FriedensForum Ex-Jugo Termine   Aktuelles