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2005


vom:
30.03.2005


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Ostermarsch 2005

 Reden/Kundgebungsbeiträge

Ansprache am Mahnmal "Die Rampe" von E. R. Nele in Kassel am 28. März 2005 anlässlich des Ostermarsches und in Verbindung mit dem 60. Jahresta

Sehr geehrte Teilnehmerinnen und Teilnehmer des diesjährigen Ostermarsches!

Gunnar Richter (Kassel)

Wir stehen hier vor einem sehr eindrucksvollen Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus:

Wir sehen einen Güterwaggon mit einer Holzrampe. Aus dem geöffneten Güterwaggon stürzen schwarze Gestalten. Es sind eigentlich nur noch Hüllen, die von den Menschen übrig sind. Eine der Figuren hat hilfesuchend, oder auch flehend und angstvoll, die Arme erhoben. Eine andere Figur wendet sich stützend an eine dritte oder versucht, an ihr Halt zu finden. Links neben der Rampe liegen zwei aufgefaltete Mäntel - aus ihnen ist das Leben entwichen.

"Die Rampe" ist eines von mehreren Denkmälern für die Opfer der NS-Zeit, die seit den 80er Jahren in Kassel errichtet wurden. So gibt es ganz hier in der Nähe - gegenüber der Hauptpost - eine Gedenktafel, die an die Zerstörung der großen Synagoge im November 1938 erinnert und im Hauptbahnhof ein Denkmal von Horst Hoheisel, das den deportierten Juden und Jüdinnen aus Kassel und Nordhessen gewidmet ist.

Dieses Denkmal, mit dem Titel "Die Rampe", ist insofern etwas Besonderes, weil es das erste dieser Mahnmale war, die in den 80er Jahren errichtet wurden. Es ist auch deshalb etwas Besonderes - und darauf möchte ich gerne hinweisen - weil es von einer Künstlerin geschaffen wurde - die meisten anderen Mahnmale - ich denke, nicht nur in Kassel - stammen von männlichen Künstlern.

Geschaffen hat dieses Mahnmal die in Kassel geborene Künstlerin Eva René Nele, die sich mit dem Künstlernamen auch Rele Nele nennt. Sie ist die Tochter von Arnold Bode, dem Initiator und Gründer der documenta.

Wie kam es dazu, dass sie dieses Denkmal gestaltete?

Anfang der 80er Jahre entstand in der Bundesrepublik Deutschland eine regelrechte Bewegung, in der sich Studenten, Schüler, Geschichtswerkstätten und auch Künstler mit der NS-Zeit in ihrer Region auseinander setzten. Damals wurde auch an der Gesamthochschule ein groß angelegtes Projekt zur Geschichte Kassels in der NS-Zeit begonnen. Im Rahmen dieser Forschungen entstand auch die Gedenkstätte Breitenau in Guxhagen. Im documenta-Jahr 1982 fand hier auf diesem Gelände (dem ehemaligen Fabrikgelände der Firma Henschel und heutigem Hochschulgelände) eine Ausstellung mit dem Titel "K 18 - Stoffwechsel" statt. Und zu dieser Ausstellung hat Rele Nele das Denkmal mit dem Titel "Die Rampe - Ankunft und Ende" geschaffen.

In einem Brief an Esther Haß (sie ist Vorstandsvorsitzende der Jüdischen Gemeinde Kassel und Stadträtin) schilderte Rele Nele einmal ihre persönlichen Beweggründe dafür:

"Als Kind lebte ich oft bei meinen Großeltern, die eine Zimmerei betrieben hatten. Diese lag ganz in der Nähe der Henschel-Betriebe. Abends (während des Zweiten Weltkrieges, G. R.) wurden die russischen und polnischen Gefangenen, die in den Henschel-Betrieben arbeiteten, am großen Tor des Zimmerei-Betriebes vorbeigetrieben, von bewaffnetem Personal (...) bewacht. Sie waren jeden Abend auf dem Rückweg in ihr Lager auf dem Hegelsberg. Diese Menschen mit Lappen um die Füße, ausgemergelt, (...) " ein trauriger, grauer, endloser Zug.

Meine Mutter steckte ihnen heimlich Brot und Wurst durch das Tor zu, viele Abende. Eines Abends steckte einer der Russen etwas durch das Tor zurück, ein Lumpen-Päckchen; und als wir es öffneten, war darin ein aus Holz geschnitzter Vogel, ganz in der traditionellen Art russischer Volkskunst. Irgendwann wurden die Russen verlegt; sie kamen nicht mehr am Tor vorbei.

Viele Jahre später, ich las die Bücher von Jorge Semprun, kam mir die Erinnerung an dieses Erlebnis."

Jorge Semprun ist ein spanischer Widerstandskämpfer, der in den 30er Jahren nach Paris floh, dort an der Resistance teilnahm und 1943 in das KZ Buchenwald deportiert wurde. Über seinen Verfolgungsweg veröffentlichte er in den 60er Jahren sein erstes Buch mit dem Titel "Die große Reise". "Die große Reise" das ist die fünftägige Fahrt in einem Güterwaggon, in dem Jorge Semprun und 118 weitere Gefangene aus Frankreich in das KZ Buchenwald deportiert werden. Die grausamen Bedingungen auf dieser Fahrt - ohne Essen, im Stehen - bildet den Rahmen, in dem Jorge Semprun seine Erlebnisse während der Verfolgung bis zu seiner Befreiung und der Nachkriegszeit schildert.

Rele Nele war durch diese Schilderungen offenbar tief beeindruckt und bewegt.

In dem Brief an Esther Haß schrieb sie weiter, dass die Idee für die Rampe immer stärker wurde. Sie baute ein Modell. Dann bekam sie die Einladung, sich an der Ausstellung K 18 zu beteiligen, die hier auf dem Gelände der Henschelei in den übrig gebliebenen Henschel-Hallen stattfinden sollte. Sie erkundigte sich, wohin die Gleise gingen: Zum Hauptbahnhof. Als sie dies erfuhr, stellte sie sich vor, dass die Menschen, die sie als Kind gesehen hatte - sie war damals acht Jahre alt - hier direkt in der Arbeitshalle angekommen waren.

Obwohl ihr persönlicher Bezug über das Leiden der ehemaligen Zwangarbeiter und Zwangsarbeiterinnen entstanden ist, hat sie dieses Denkmal zur Erinnerung an alle Deportierten, Verfolgten und Ermordeten geschaffen.

Sie hieß es auf einer Hinweistafel:

"`Die Rampe`

erinnert als Mahnmal an die Selektion, Deportation und Vernichtung von Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus.

Leiden und Sterben der Kasseler Juden, der geknechteten Ausländer und der Kämpfer im Widerstand, sollen unvergessen bleiben."

Am 8. Mai 1985, am 40. Jahrestag des Kriegsendes und der Befreiung vom Nationalsozialismus - vor nunmehr 20 Jahren - wurde "Die Rampe" hier auf dem Gelände der Gesamthochschule/Universität Kassel als Mahnmal eingeweiht.

Leider wurden auf das Mahnmal in den folgenden Jahren mehrfach Anschläge verübt. Der folgenschwerste Anschlag fand bereits 10 Tage nach der Einweihung statt, bei dem sämtliche Figuren außerhalb des Waggons verbrannt wurden.

Zwei Jahre später, am 12. Juni 1987 wurde das Mahnmal erneut in einer Feierstunde der Öffentlichkeit übergeben. Die Plastiken wurden diesmal aus Bronze gegossen, um ein Abbrennen zu verhindern - außerdem wurde eine neue Hinweistafel angebracht.

Ende Februar 1989 wurde die Hinweistafel beim Mahnmal das zweite Mal zerstört und ist seitdem auch nicht wieder erneuert worden.

Leider setzte seit Mitte der 90er Jahre ein starker Verfall des Mahnmals ein. Außerdem wurde es aufgebrochen und teilweise erneut zerstört.

Vor etwa 5 Jahren engagierten sich daraufhin ein Kasseler Berufsschullehrer, Karl Mahn, mit Schülern der Oskar-von-Miller Schule in einem umfangreichem Projekt und erneuerten das Mahnmal von Grund auf.

Sie haben damit auch auf eine eindrucksvolle Weise zum Ausdruck gebracht, dass "Die Rampe" als Mahnmal nur wirken kann, wenn wir uns auch damit auseinandersetzen.

Das Mahnmal



soll an die vielen Deportierten, Verfolgten und Ermordeten erinnern,



es soll den Opfern und Verfolgten eine Würdigung zukommen lassen,



und es soll uns dazu anregen, uns kritisch mit gesellschaftlichen Entwicklungen unserer Gegenwart auseinander zu setzen.


In diesem Sinne ist "Die Rampe" auch ein Mahnmal



gegen Rechtsradikalismus und Neofaschismus,



gegen Ausländerfeindlichkeit,



gegen Antisemitismus



und gegen Krieg und Gewalt.


Auch heute noch, 20 Jahre, nachdem es eingeweiht wurde und 60 Jahre nach Kriegsende, hat das Mahnmal nichts an Aktualität verloren. Und wir sind alle aufgerufen, aktiv gegen diese Entwicklungen einzutreten - für eine menschlichere Gegenwart und Zukunft!



Literaturhinweise:

- Esther Haß: Schüler-Projekt "Anne Frank und andere". Museumspädagogik am Stadtmuseum Kassel, Dokumentation eines Projektes mit Schülerinnen und Schülern, Stadtmuseum Kassel 1990.

- Frank-Roland Klaube (Red.): Kassel. Zehn Gedenktafeln zur Erinnerung an die Gewaltherrschaft 1933-1945. Im Gedenken an die Opfer von Rassismus und Nationalsozialismus. Faltblatt mit den Texten der Gedenktafeln und weiteren Erläuterungen, herausgegeben von der Stadt Kassel, 2. ergänzte Auflage, Kassel 1998. (Erhältlich über das Stadtarchiv)

- Dietfrid Krause-Vilmar: Ansprache zur Veranstaltung des Magistrats der Stadt Kassel am 27. Januar 2001 (Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus) gegenüber der "Rampe", in Kassel, Moritzstraße, in: Rundbrief des Fördervereins der Gedenkstätte Breitenau, Nr. 20, Kassel 2001, S. 14-16.

- Dirk Schwarze: "E. R. Neles "Rampe" in Kassel aufgestellt. Ein Mahnmal ganz eigener Art", in: HNA-Kassel vom 9.5.1985.

- Jorge Semprun: Die große Reise, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Nr. 744, 17. Auflage, Reinbek bei Hamburg 2005.



Dr. phil. Gunnar Richter ist Mitbegründer und Leiter der Gedenkstätte Breitenau in Guxhagen.

E-Mail: gedenkstaette-breitenau@t-online.de

Website: www.gedenkstaette-breitenau.de
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