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2005


vom:
30.03.2005


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Ostermarsch 2005

 Reden/Kundgebungsbeiträge

Rede zum Ostermarsch 2005 in Oldenburg am 26. März

Liebe Oldenburger und Oldenburgerinnen! Liebe Ostermarschierer!

Peter Niebuhr (Oldenburg)

Ich möchte über Ereignisse von Krieg, Flucht und Vertreibung zu Euch / zu Ihnen sprechen und in diesem Zusammenhang aufmerksam machen auf eine neue, üble Form rechtsfreier Räume und einer weltweiten Lagerpolitik.

Beginnen möchte ich mit einem Rückblick:

Vor 60 Jahren ging der Zweite Weltkrieg zu Ende.

12 Millionen Menschen flohen vor dem Einmarsch der Roten Armee, 2 Millionen kamen durch Hunger und Kälte oder durch die Krankheiten und Seuchen in sowjetischen Lagern ums Leben.

Vor mehr als 65 Jahren - im August 1939 - wurde der "Hitler-Stalin-Pakt" geschlossen mit jener Grenzziehung durch Osteuropa, die die großräumige NS-Germanisierungspolitik eingeleitet hatte - mit der "Heim-ins-Reich" genannten Umsiedlung von Volksdeutschen nach Westen und brutalen Vertreibungen von Polen nach Osten.

Später folgte die Deportation von Hunderttausenden polnischer und ukrainischer Zwangsarbeiter in das Reichsgebiet.

Auf sowjetischer Seite wurden nach dem Einfall der deutschen Truppen in den Jahren 1941-44 neun Völker oder Volksgruppen unter pauschalem Kollaborationsverdacht unter grausamen Bedingungen deportiert - "verschleppt", wie es auch hieß - ich nenne hier nur die Krimtataren und die Wolgadeutschen. Die Todesopfer schätzt man auf eine halbe Million. Und vergessen wir nicht, dass jenes grausamste und größte Verbrechen der Nazis, das an den Juden, auch immer mit Deportationen begann. Opfer wurden auch Tausende von Juden, die sich schon auf der Flucht in andere Länder befunden hatten. Aber die Länder hatten die Aufnahme abgelehnt und sie zurückgeschickt.

Soweit dieser kurze Rückblick - Was geschah danach?

Um dem maßlosen Elend der Zivilbevölkerung in Kriegen zu begegnen, wurde im Juli 1951 von zahlreichen Staaten die Genfer Flüchtlingskonvention beschlossen.

Danach sollte niemand in ein Land abgeschoben werden dürfen, in dem Gefahr für Leib und Leben bestand (Art. 33, GK). Flüchtlingen und Vertriebenen ist nach der Konvention ein sicherer Schutz zu gewähren und auch materiell eine vollständige Perspektive zu geben.

Die Regelungen wurden bald darauf in die Europäische Menschenrechtskonvention aufgenommen (Art. 34). Im selben Geist war im Mai 1949 der Art. 16 des Bonner Grundgesetzes verfasst worden: Politisch Verfolgten war umfassender Schutz zu gewähren.

Und heute?

Bosnien, Kosovo, Liberia, Afghanistan, Irak, Tschetschenien, Sudan ... die Kette der Kriege reißt - wie wir alle wissen - nicht ab und ebenso wenig die Angriffe auf die Zivilbevölkerung, deren Vertreibung und Flucht:

Flucht aus den Kampfgebieten, Flucht aus zerstörten Häusern und zerbombten Städten (Bosnien, Tschetschenien), Flucht aus verseuchten und verminten Gebieten (Nordirak), Flucht vor Rache und Völkerhass (Ruanda, Kosovo), Flucht vor staatlich nicht mehr kontrollierten "Warlords" und Terrorregimen (Afghanistan).

Die Industriestaaten verhängen Boykotts oder liefern Waffen und Giftgas, verbünden sich mit dieser oder jener Kriegpartei (Erster Golfkrieg), führen selber Kriege - mit oder ohne Unterstützung der UNO - in Form von sog. Militärschlägen, versuchen die Lage durch Wiederaufbauhilfen zu stabilisieren (Afghanistan), meist mit massiven eigenen wirtschaftlichen (Öl-) Interessen.

In das schlimmste Massaker - 1994 an den Tutsis durch Hutumilizen in Ruanda - greift das danebenstehende UN-Militär nicht ein.

Wo die Industriestaaten beteiligt sind, werden Flüchtlinge mehr und mehr von den kriegführenden Mächten selber dirigiert (sei es um die Menschen zu schützen, sei es um kritischen Medien keine Katastrophenbilder zu liefern.

Aber die Flüchtlinge kommen nicht mehr weit.

Sie werden im eigenen Land in Lagern untergebracht (um eine Fluchtalternative vorzugaukeln) oder im Nachbarland hinter der Grenze "zusammengefasst", verwaltet, "entsorgt".

Das Schlimmste: Sie werden vergessen: Von 12 Millionen Flüchtlingen weltweit befinden sich 7 Millionen schon länger als 10 Jahre in ihren Lagern.

Ein Teil der Lager wird zu Hungerlagern (an der pakistanisch-afghanischen Grenze), umgeben von Stacheldraht und lebensbedrohenden Einschränkungen.

Und Europa?

"Europa macht dicht" ist zu einem bekannten Slogan geworden, Europa hat "dichtgemacht". Auf 5000 Opfer schätzt man die Zahl derjenigen, die im Mittelmeer - in der Adria, vor den Küsten Siziliens oder vor Gibraltar - ertrunken sind.

Angeblich, um dieses Problem zu steuern, in Wirklichkeit aber, um Flüchtlinge aus Afrika und dem Nahen Osten künftig reibungsloser abweisen zu können, haben Tony Blair, Schily, Berlusconi und andere den Plan gefasst, Flüchtlinge zu Tausenden in Lagern Nordafrikas, vor allem in Libyen zu kasernieren und nur wenigen - je nach Bedarf und gutem Willen - die Einreise in die Länder der EU zu gestatten.

Diese Lager gibt es schon - in Tunesien - ausgehandelt als Versuchsmodell von der italienischen Regierung. Sie stehen unter der Regie von Staaten, in denen die Menschenrechte nicht gelten. Die Dauer des Verbleibs, die Beratung durch Anwälte, die Unterstützung durch Dolmetscher, alles ist ungeregelt und in höchstem Maße fragwürdig.

Da sind sie, diese rechtsfreien Räume, eingerichtet für Menschen 2. Klasse, die nicht als gleichberechtigte Bürger gelten, an deren Vorhandensein wir uns gewöhnen sollen! Aber wir werden uns nie daran gewöhnen!

Ähnliche Entwicklungen gibt es an den neuen Ostgrenzen der EU.

In Polen, Ungarn und den baltischen Staaten existieren heute Lager, die zugleich Auffang- und Abschiebelager sind. Auch sie haben für die Festgehaltenen Gefängnischarakter. Auch dies Orte minderen Rechts wenn nicht "rechtsfrei". Entlang der Grenzen immer dichtere Kontrollen und - finanziert aus Brüssel - Einsatz von Überwachungstechnologie. In einem Streifen landeinwärts wird Jagd auf Flüchtlinge gemacht, unter ihnen sind viele Kriegsflüchtlinge aus Tschetschenien.

Auch im Inland werden Flüchtlinge, mehr und mehr an den Rand gedrängt! Es geschieht durch die Flughafenregelung, durch die Unterbringung in Großlagern, die zugleich Abschiebelager sind und beschönigend "Ausreisezentren" genannt werden. Die Flüchtlinge sollen nicht mehr mit der normalen Wohnbevölkerung in Kontakt kommen.

Aber kommen wir zu den Kriegsflüchtlingen, den 200.000 Menschen - in Niedersachsen sind es über 20.000 Menschen, die nur eine "Duldung" haben. Viele von denen müssen jetzt täglich mit einer Abschiebung rechnen. Das neue Zuwanderungsgesetz gewährt ihnen kein "Bleiberecht".

Sie sind gekommen aus Afghanistan, aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawien, dem Nordirak. Sie konnten nicht zurück, zum Beispiel, weil sie aus ethnisch gemischten Familien kommen: Mutter serbischer, Vater kroatischer Herkunft. Viele von ihnen leben länger als 10 Jahre hier, sind hier aufgewachsen, sprechen Deutsch besser als ihre Muttersprache und haben ein Recht, sich hier heimisch zu fühlen.

Die Benachteiligungen sind groß und zermürbend: Es fehlt die Arbeitserlaubnis, wo diese da ist, fehlt die Arbeitsstelle. Über Jahre müssen diese Menschen mit Gutscheinen einkaufen. Der Aufenthalt wird oft nur kurzfristig, für Wochen oder Monate verlängert - und dies jahrelang.

Die Abschiebungen erfolgen meist im Morgengrauen - schikanös, ohne Vorwarnungen.

Ziehen wir die Bilanz: Flucht und Vertreibung aus Kriegsgebieten finden heute in kaum übersehbarem Ausmaß statt. Wie die Kriege sind sie gekoppelt mit dem Nord-Süd-Problem, die wachsende Aufnahmeverweigerung mit den Interessensunterschieden zwischen armen und reichen Ländern.

Die Genfer Flüchtlingskonvention, die eine klare Aufnahme, keine Zurückweisung und eine vollständige Unterstützung - bis zur Eingliederung - vorsah, ist ausgehöhlt. Die weltweite Schutzregelung, geboren aus dem Desaster des Zweiten Weltkriegs, ist in Gefahr, ganz über Bord geworfen zu werden. Die Fortsetzung der Abschottung (Blair, Schily u.a.) zielt genau darauf ab.

Liebe Oldenburger und Oldenburgerinnen, liebe Friedensfreunde!

Lasst uns in Zukunft unsere Aufmerksamkeit viel stärker auf das richten, was heute in den Randgebieten und jenseits der Grenzen der erweiterten EU geschieht!

Gegen das Zusperren der europäischen Grenzen, gegen die Einrichtung von gefängnisartigen Auffang- und Abschiebelagern gegen rechtsfreie Räume und menschenunwürdige Behandlung müssen wir nach Kräften Widerstand leisten!

Sagen wir den Plänen von Blair, Schily und Berlusconi den Kampf an!

Natürlich können und sollten wir nicht dagegen sein, dass Kriegsflüchtlinge in Nachbarstaaten ihrer Länder unterkommen, wenn dieses menschenwürdig, freiwillig, auf begrenzte Zeit und nicht als Bestandteil der Kriegshandlungen geschieht. Aber Flüchtlinge - auch Kriegsflüchtlinge - müssen weiter in Länder kommen können, in denen es den Menschen besser geht und in denen ihnen auch besser und umfassender geholfen werden kann!

Das muss vor allem da gelten, wo diese reichen Länder - zu denen wir ja auch gehören - durch Waffenlieferungen Kriege mitverursacht haben oder sogar selber Kriegsparteien sind!

Auch im Inland dürfen Flüchtlinge nicht zu Menschen 2. Klasse gemacht werden. Auch hier darf es keine rechtsfreien Räume geben!

Schluss mit der weiteren Aushöhlung der Genfer Konvention und der Gefährdung des Internationalen Schutzsystems!

Niemand darf die Lehren vergessen, die aus den Deportationen und Massenfluchten des Zweiten Weltkriegs gezogen wurden. Aber seien wir uns auch klar darüber, dass das Elend von Flucht und Vertreibung nicht beseitigt werden und keine befriedigende Lösung gefunden werden kann, solange nicht die Grundverbrechen von Rüstungsgeschäft und Krieg aus der Welt geschafft sind!



Peter Niebuhr ist aktiv beim Arbeitskreis Asyl Oldenburg.
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