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Ostermärsche und -aktionen 2006

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Redebeitrag für den Ostermarsch Colbitz (Colbitz-Letzlinger Heide) am 16. April 2006

Liebe Friedenfreundinnen und Friedensfreunde!

Peter Strutynski (in Colbitz)

Die Welt scheint sich auf einen weiteren Krieg hin zu bewegen - und die Öffentlichkeit schaut mehr oder weniger uninteressiert zu. Das ist der beunruhigendste Befund, mit dem wir uns bei den diesjährigen Ostermärschen auseinandersetzen müssen. Beunruhigend, weil er uns auch wieder darauf hinweist, wie vergesslich die Menschen sind, wie schnell sie doch bereit sind, sich an Kriegsdrohungen, Intervention und Krieg zu gewöhnen. Und: wie unkritisch sie interessengeleiteten Nachrichten aus dunklen Geheimdienstquellen Glauben schenken.

Ich werde also zunächst vom drohenden Krieg gegen Iran sprechen. Worum geht es dabei?

Im Grunde genommen ist eigentlich alles ganz einfach. Der Iran tut das, was viele andere Staaten schon längst tun: Er will in größerem Umfang in das Atomgeschäft einsteigen und sich dabei nicht damit begnügen, Material hierfür aus dem Ausland zu beziehen, sondern die eigenen Ressourcen zu nutzen. Die eigenen Ressourcen nutzen heißt:



das im Iran vorhandene Uran zu fördern,



die eigene technische Intelligenz des Landes, Wissenschaftler und Ingenieure mit anspruchsvollen Aufgaben zu beschäftigen,



den nuklearen Brennstoffkreislauf von A bis W, von der Anreicherung des Urans bis zur Wiederaufbereitungstechnologie zu schließen.


Viele entwickelte Länder tun das - nicht nur die offiziellen und nicht offiziellen Atomwaffenstaaten, sondern auch jene, die nicht selbst über Atomwaffen verfügen, z.B. die Bundesrepublik Deutschland.

Nun gehört der Iran aber - und das ist der andere Teil der Geschichte - zu den Staaten, die in den Augen der US-Administration zu den Schurkenstaaten dieser Welt zählen.

Davon gibt es zur Zeit etwa eine Handvoll: Neben dem Iran ist das Nordkorea - mit dem man aber sehr behutsam umgeht, seit das Land selbst über Atomwaffen verfügt -, der Sudan, Simbabwe, Venezuela und natürlich die Altlast Kuba. Und besäße Palästina schon eine eigene Staatlichkeit, so gehörte dieses Land spätestens seit dem Wahlsieg von Hamas ebenfalls zum exklusiven Klub der Schurkenstaaten, der "Achse des Bösen", wie George Bush vor vier Jahren formulierte.

Eines wird bei der Aufzählung dieser Staaten schon deutlich: Es handelt sich keineswegs nur um islamische Regime, die den Gottesstaat auf ihrem Territorium errichtet haben und in denen das religiösen Recht der Scharia herrscht.

In vier der sieben genannten Schurkenstaaten sind weltliche Regime an der Macht und deren Bevölkerungen sind mehrheitlich christlich oder atheistisch. Einen Kampf der Kulturen in den gegenwärtigen Konflikten dieser Welt zu diagnostizieren, ist also nicht nur weit hergeholt, sondern verdeckt die wahren Beweggründe für die kriegerische Haltung der westlichen Supermacht und ihrer Gefolgschaft.

Die wahren Beweggründe sind sehr profan: Es geht um wirtschaftliche Macht, Sicherung von Energiequellen und um den Erhalt geostrategischer Positionen, die im globalen Kampf um Märkte, Standorte und Renditen Vorteile gegenüber den Hauptkonkurrenten garantieren sollen. Es geht im wesentlichen um die Absicherung des westlichen Modells der Globalisierung.

Thomas Barnett, Berater des Pentagon und Professor am US Naval War College in Newport, Rhode Island, hat das in einem grundlegenden Strategiepapier beschrieben. Titel: "Die neue Weltkarte des Pentagon". Darin teilt er die Welt in zwei Teile: die vollständig globalisierte und integrierte erste Welt oder, wie er es nennt, den "Kern", zu dem alle industrialisierten Länder des Westens und des Nordens zählen, und in den großen Rest der mit der Globalisierung noch nicht verbundenen bzw. von den Segnungen der Globalisierung noch erfassten Länder. Er nennt diesen Teil der Welt die "Lücke". Dazu zählen folgende Weltregionen: die Karibischen Inseln, fast ganz Afrika, der Balkan, der Kaukasus, Zentralasien, der Nahe Osten (ausgenommen Israel, das selbstverständlich zum "Kern" gehört), große Teile Südwestasiens.

Sie alle sind im Visier Washingtons. Thomas Barnett redet nicht darum herum, sonder sagt ganz offen:

"Verliert ein Land gegen die Globalisierung oder weist es viele der Globalisierungsfortschritte zurück, besteht eine ungleich größere Chance, dass die Vereinigten Staaten irgendwann Truppen dorthin entsenden werden."

Und an anderer Stelle seines Papiers fragt er im Stil eines Sportreporters:

"Wo also soll die nächste Runde von Auswärtsspielen des US-Militärs stattfinden? Das Muster, das sich nach dem Ende des Kalten Krieges herausgeschält hat, legt eine einfache Antwort nahe: in der Lücke."

In der Lücke lag auch der Irak, bis er im Krieg vor drei Jahren in die Globalisierung hinein gebombt wurde. In der Lücke liegt heute der Iran. Und er ist sogar im echten Wortsinn der Lückenschluss, den die USA auf ihrem Weg bis an die Grenze des künftigen Hauptrivalen China brauchen. Den Irak haben sie (wenn sie ihn denn haben), Pakistan ist ein enger Verbündeter der USA (da spielt der Islam für die USA ebenso wenig eine Rolle wie beim Verbündeten Saudi-Arabien), und Afghanistan fiel nicht ganz zufällig schon vor fünf Jahren in die Hände der USA.

Im Augenblick erleben wir, dass die Kriegsvorbereitungen gegen den Iran nach einem ähnlichen Drehbuch ablaufen, wie wir es schon vom Irak her kennen. Waren es damals die Massenvernichtungswaffen, über die der Irak angeblich verfügte, so ist es heute der Griff des Iran nach atomaren Massenvernichtungswaffen. War es damals zusätzlich die unbefriedigende Menschenrechtslage im Irak, so spielt auch dieser Gesichtspunkt in der Iran-Kriegsrhetorik eine Rolle. Damals wie heute geht es um einen "Regimewechsel". Das ist das Schlagwort, das zur Zeit Karriere macht.

Einen Regimewechsel, das heißt das Ersetzen einer wie auch immer legitimierten, in der Regel aber legalen Regierung von außen ist selbstverständlich mit dem geltenden Völkerrecht genauso wenig vereinbar wie ein Angriffskrieg. Art. 2 der UN-Charta garantiert sowohl die territoriale Integrität jedes Mitgliedstaats als auch ihre politische Unabhängigkeit. Nach Art. 2 Ziff. 7 ist die Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates verboten.

Verstöße dagegen sind dennoch zahlreich und gehören sogar zum Alltag in den Beziehungen zwischen den Staaten. Das war während des Kalten Kriegs übrigens nicht anders. Die Schlagwörter dabei sind "Infiltration", "Subversion", "Wandel durch Annäherung", wenn wir den Blick auf die Politik des Westens richten; "internationale Solidarität", "Klassenkampf", "Systemkonkurrenz", wenn wir an die Versuche des Ostens denken, das Kräfteverhältnis im Weltmaßstab zugunsten des Sozialismus zu verändern. Und jede wirtschafts- und handelspolitische Maßnahme, jedes bilaterale Gemeinschaftsprojekt - dabei muss es nicht immer um Pipelines gehen -, jedes Kulturabkommen oder jeder andere Vertrag, der zwischen Staaten abgeschlossen wird, jedes Interview, das ein Botschafter der Zeitung seines Gastlandes gibt, kurz: alles, was Auswirkungen auch auf die innere Situation eines derart bedachten Landes hat, ist eine Art Einmischung in seine inneren Angelegenheiten.

Die Frage ist nur, ob diese Einmischung gegen den Willen des betroffenen Landes geschieht oder mit dessen Einwilligung. Die Grenzen sind hier zweifellos fließend.

Das Konzept der Souveränität ist so alt wie das moderne Staatensystem und hat seine Wurzeln im Westfälischen Frieden von 1648. Grund genug für die US-Administration es auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen. US-Außenministerin Condoleezza Rice hat das in einer programmatischen Rede an der Georgetown Universität im Januar 2006 getan. Sie argumentierte, dass man bisher davon ausgegangen sei, "dass jeder Staat die von seinem Inneren ausgehenden Bedrohungen selbst kontrollieren und lenken kann. Es wurde auch angenommen", sagte sie, "dass schwache und schlecht regierte Staaten lediglich eine Last für ihre eigenen Bürger darstellten, ein internationales humanitäres Problem, aber nie eine wirkliche Bedrohung für die Sicherheit." Und sie fährt fort: "Heute sind diese alten Annahmen nicht mehr gültig."

Wie begründet sie diese Annahme? Nun, mit dem heute so weit verbreiteten und wohlfeilen Hinweis auf die Globalisierung. Die meisten Bedrohungen kämen heute nicht mehr aus den Beziehungen zwischen den Staaten, sondern entstehen "eher innerhalb von Staaten".

"In dieser Welt ist es nicht mehr möglich, zwischen unseren Sicherheitsinteressen, unseren Entwicklungsbestrebungen und unseren demokratischen Idealen klare und eindeutige Trennlinien zu ziehen. Die amerikanische Diplomatie muss alle diese Ziele als Ganzes betrachten und zusammen fördern."

Was dabei heraus kommt, ist in den Worten der US-Chefdiplomaten die "transformational diplomacy", die "umgestaltende Diplomatie". Deren Aufgabe fasst sie folgendermaßen zusammen:

"Zusammenarbeit mit unseren zahlreichen internationalen Partnern, um demokratische Staaten mit einer guten Regierungsführung aufzubauen und zu erhalten, die auf die Bedürfnisse ihrer Bürger reagieren und sich innerhalb des internationalen Systems verantwortlich verhalten."

Es braucht hier nicht erwähnt zu werden, dass natürlich die USA selbst bestimmen, wann sich eine fremde Regierung "verantwortlich verhält" und wann nicht. US-Präsident George Bush hat bei seiner zweiten Antrittsrede die globale Strategie der USA so beschrieben:

"Es ist die politische Strategie der Vereinigten Staaten, demokratische Bewegungen und Institutionen in jedem Land und jeder Kultur zu suchen und ihre Entwicklung zu unterstützen, um letztendlich die Tyrannei auf der Welt zu beenden." (Bush 2005)

Nun werden Sie sagen: Na gut, so ist es. So haben sich die USA gegenüber vielen Staaten in ihrem Hinterhof seit über 100 Jahren verhalten. So haben sie in Chile und Nicaragua gehandelt, und so machen sie es in Afghanistan, Irak und demnächst vielleicht im Iran und in Syrien. Und, auch das wissen wir, dabei ging es ihnen mitnichten um die Beendigung der Tyrannei, sondern um die Beseitigung demokratisch gewählter Regierungen oder einfach unbotmäßiger Regime.

Noch nie aber sind dem diplomatischen Korps so unverhohlen und coram publico exakte Anweisungen gegeben worden, wie sie sich bei ihrer "ehrgeizigen Mission", der Welt Freiheit und Demokratie zu bringen, zu verhalten haben. Und zwar auch außerhalb ihrer Botschaften. "Wir werden", sagt Frau Rice, "Kontakte mit Privatpersonen in neu entstehenden regionalen Zentren aufbauen müssen und nicht nur mit Regierungsvertretern in den Hauptstädten." Und sie verrät im nächsten Satz sogar, wo dies sein wird: "Wir müssen eine Rekordzahl von Menschen in schwierigen Sprachen wie Arabisch, Chinesisch, Farsi, und Urdu ausbilden."

Hätte Condoleezza Rice auch "Französisch" gesagt, können wir sicher sein, dass Chirac seine Atomwaffen scharf gemacht hätte.

Wirklich beunruhigend sind solche Konzepte, weil ihnen die reale Politik und weil ihnen reale Truppen folgen.

Beunruhigend ist aber noch etwas anderes: Dass solche Konzepte der umgestaltenden Diplomatie oder der Entsouveränisierung von Staaten oder die Möglichkeit von "Präventivkriegen" mittlerweile Resonanz und teilweise Akzeptanz in internationalen Institutionen, nicht zuletzt auch in Kreisen der Europäischen Union und der Vereinten Nationen finden. Die am letzten Montag von den EU-Außenministern gegen Weißrussland verhängten Sanktionen sind die europäische Variante einer Drohpolitik gegen souveräne, aber missliebige Staaten. Wenn solche Beispiele Schule machen, können wir die UN-Charta und das moderne Völkerrecht tatsächlich auf den Müll werfen. Man muss sich nur über die Konsequenzen klar sein: Das internationale Recht wird zu einer politischen Waffe. Es verliert seine Gültigkeit dort, wo die Interessen der mächtigsten Staaten tangiert sind. Am Ende stünde wieder das atavistische Recht des Stärkeren.

Liebe Friedensfreundinnen und -freunde,

welche Wirkungen die Ausschaltung des Völkerrechts haben kann, haben wir am Irakkrieg gesehen. Drei Jahre nach Beginn des Krieges fällt die Bilanz verheerend aus. Der irakische Schriftsteller Najem Wali, der sich noch am 9. April 2003 über den inszenierten Sturz des Denkmal von Saddam Hussein in Bagdad freute, kommt heute zu einer Lagebeschreibung, wie sie düsterer gar nicht sein kann. Und ich füge hinzu: Wie sie selbst von den engagiertesten Kriegsgegnern und Friedensaktivisten nicht vorhergesagt worden sind. "Alles mögliche habe ich herbeigesehnt, nur nicht dieses Elend", schreibt Wali in einem Zeitungsbeitrag vor drei Tagen. (FR, 13./14. April 2006.) "Invasoren", "Kriegsgewinnler" und "religiöse Extremisten" haben sein Land zerstört. Wali schreibt:

"Die amerikanischen und britischen Soldaten waren seinerzeit unter dem Vorwand einmarschiert, sie brächten die Demokratie und, wichtiger noch, suchten nach Massenvernichtungswaffen. Nichts davon ist ihnen gelungen. Im Gegenteil, sie verbreiten stattdessen selbst Massenvernichtungswaffen."

Und weiter heißt es in seinem bitteren Bericht:

"Die USA haben Irak zum Hauptschauplatz ihres Krieges gegen ihre erbitterten Feinde, die Al Qaida und Iran, erhoben, und gehen dabei über die Leichen der Iraker. Hinzu kommt ein Macht-Vakuum an der Spitze des Staates. Ein Clan von Politikern ohne klares Programm und ohne Visionen lässt es sich in der Grünen Zone wohl ergehen und schaut tatenlos zu, wie der Rest des Landes Wegelagerern, Milizen und anderen Verbrechern anheim fällt, die gnadenlos ihr vorgeblich konfessionell oder ethnisch motiviertes Unwesen treiben."

Und noch ein Zitat: "Die irakischen Politiker sind nicht an der Macht, um ein bestimmtes Programm umzusetzen, sondern um sich so schnell wie möglich zu bereichern. Ja, die irakische Bevölkerung muss heute sogar mehrere Machthaber erdulden: Zunächst einmal die Besatzungsmacht, die ihre eigenen Ziele und Pläne verfolgt, die vom Weißen Haus und vom Pentagon vorgegeben werden; dann die gewählte Übergangsregierung, die wohl noch eine Weile lang auf der Jagd nach rascher fetter Beute ihre Zerstörungsarbeit vorübergehend fortsetzen wird."

Zur gleichen Zeit spricht US-Präsident Bush in zahlreichen Reden, die er anlässlich des dritten Jahrestags des Kriegs gegen Irak gehalten hat und noch hält, von den unübersehbaren Fortschritten, die der Irak auf dem Weg zu Demokratie und Wohlstand, zu Frieden und Stabilität vorzuweisen habe. Zweckpropaganda, die davon ablenken soll, dass der Krieg so gründlich gescheitert ist, dass heute sogar hochrangige US-Militärs aus Protest ihren Dienst quittieren und die Entlassung des US-Verteidigungsministers Rumsfeld fordern. Z.B. John Bastite, der drei Jahrzehnte Soldat war und vor einem Jahr zum Drei-Sterne-General befördert werden sollte. Bastite schlug die Beförderung genauso aus wie den Posten eines stellvertretenden US-Kommandeurs im Irak - und verließ stattdessen die Armee.

Ein anderer hochdekorierter General, Anthony Zinni, ehemals Befehlshaber des US-Zentralkommandos, kündigte Rumsfeld seine Gefolgschaft auf und hält mittlerweile auch den Befehl zum Angriff auf den Irak für falsch.

Die "Meuterei der Generäle" - so titelte die Süddeutsche Zeitung gestern - deutet nach Ansicht von Insidern darauf hin, dass die Stimmung unter den noch aktiven Offizieren in den Militärstäben kaum anders aussieht. US-Präsident Bush sah sich jedenfalls genötigt, seinen in die Schusslinie gekommenen Verteidigungsminister in Schutz zu nehmen. (SZ, 15. April 2006)

Nun: Vielleicht sollte Bush selbst in Deckung gehen. Denn die Kritik der Militärs zielt über Rumsfeld hinaus auf ihn selbst. Die Mehrheit der US-Bevölkerung steht nicht mehr hinter ihrem Präsidenten und seinem Irakkrieg. Und laut einer vor kurzem veröffentlichten Umfrage wollen zwei Drittel der US-Soldaten den Rückzug aus dem Irak noch in diesem Jahr.

Das ist die richtige Antwort auf den Krieg: Beendet ihn! Dafür kann es nie zu spät sein.

Und all jenen, die dann den Bürgerkrieg im Irak und das Auseinanderfallen dieses Staates befürchten, sei gesagt: Der Bürgerkrieg und das Chaos sind bereits im Land, und jeder Tag, den das Besatzungsregime länger im Land bleibt, bedeutet noch mehr Chaos, noch mehr Tote, noch mehr Gewalt und noch mehr Destabilisierung der Region.

Was Krieg und Besatzung im Irak, was die fortdauernden und sich verschärfenden Kriegsdrohungen gegen Iran bereits heute für verheerende Folgen auf die ganze Nahostregion haben, sehen wir an der Entwicklung im israelisch-palästinensischen Konflikt. Die Palästinenser haben die Demokratisierungsphrasen der westlichen Welt wohl zu ernst genommen und bei der Parlamentswahl ein weitgehend korruptes Regime der Fatah abgewählt und eine in ihren Augen integre und konsequente Vertretung ihrer Interessen namens Hamas in die Regierung gewählt. So war das aber nicht gemeint mit der Demokratie. Wählen ja, aber ihr müsst die richtigen wählen, lautet nun die Botschaft aus dem Westen. Und unter maßgeblichem Einfluss Berlins sperrt die EU-Kommission der palästinensischen Autonomiebehörde die Hilfsgelder.

Wer glaubt damit ein Ende der Gewalt im Nahostkonflikt herbeizuführen, hat von dem Konflikt und seiner Dynamik nichts begriffen. Und wer lediglich den Terror von Hamas verurteilt und nicht das Gewaltregime und die seit Jahrzehnten völkerrechtswidrige Siedlungs- und Besatzungspolitik Israels anprangert, macht sich schuldig an der nicht endenden Gewaltspirale.

Gush Shalom, eine der wichtigsten Gruppierungen der israelischen Friedensbewegung, hat vor wenigen Tagen einen dramatischen Appell an die EU gerichtet, dem ich nur zustimmen kann. Es heißt dort:

"Gewiss müssen sie (die Hamas-Vertreter) das Existenzrecht Israels anerkennen - genau wie Israel das Existenzrecht eines Staates Palästina anerkennen muss. Aber solch eine Anerkennun wird mit den Verhandlungen kommen - und nicht umgekehrt.

Gewiss müssen sie mit der Gewalt aufhören - genau wie es Israel tun muss. Aber selbst in diesem Stadium kann ein verlängerter Waffenstillstand erreicht werden.

Gewiss müssen sie die Zwei-Staaten-Lösung akzeptieren - genau so auch Israel. Ihre Führer haben schon angedeutet, dass sie dafür bereit sind - und dies muss durch Verhandlungen auf die Probe gestellt werden."

Die EU wird aufgefordert, mit der Hamas-Regierung zu reden, sie nicht zu isolieren.

Desgleichen müssen wir unsere, die deutsche Regierung auffordern:



Beteiligen Sie sich nicht an der weiteren Isolierung und Dämonisierung der Palästinenserregierung!



Fordern Sie Israel auf, den Siedlungsbau zu beenden und sich aus den besetzten Gebieten zurückzuziehen.



Fordern Sie beide Seiten auf, sich gegenseitig anzuerkennen und in ernsthafte Verhandlungen über die Gründung eines palästinensischen Staates einzutreten.


Das wäre ein echter Beitrag zu einem Frieden im Nahen Osten.

Was wir brauchen, im Nahen Osten wie gegenüber dem Iran, im Kongo wie gegenüber Sudan, in Zentralasien wie gegenüber Weißrussland, in Lateinamerika wie gegenüber Kuba oder Venezuela, ist eine Politik, die nicht auf Drohungen und militärische Stärke setzt, sondern auf Diplomatie, wirtschaftliche und kulturelle Kooperation. Eine Politik, die zur eigenen Sicherheit auch die Sicherheit des anderen im Auge hat. Eine Politik, die nicht im Freund-Feind-Schema alter Zeiten versinkt und darin umkommen wird, sondern die von gleichberechtigten Partnern ausgeht.

So wollten es die Vereinten Nationen bei ihrer Gründung vor 61 Jahren. Und es gibt kein anderes Mittel, für den Frieden in der Welt zu arbeiten, als auf den Krieg als Mittel der Politik für alle Zeiten zu verzichten.



Peter Strutynski ist Mitarbeiter in der AG Friedensforschung an der Uni Kassel und Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag.

E-Mail: peter.strutynski@gmx.de

Website: www.uni-kassel.de/fb5/frieden/Welcome.html
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