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22.04.2011


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Redebeitrag für den Ostermarsch 2011 in Hamburg am 23. April

Freiheit statt Frontex

Conni Gunßer (in Hamburg)



- Es gilt das gesprochene Wort -

- Sperrfrist: 23. April, Redebeginn: ca 12 Uhr -



Fluchtwege nach Europa öffnen - Keine Demokratie ohne globale Bewegungsfreiheit



Liebe Freundinnen und Freunde,

Die Aufstandsbewegungen in Nordafrika und in anderen arabischen Ländern kamen für viele, auch westliche Regierungen, überraschend und haben Menschen in aller Welt Mut und Hoffnung gemacht. Despotische Regime, lange Zeit vom Westen gestützt, wurden verjagt oder sind am Wanken. So offen die weiteren Entwicklungen bleiben, im Dominoeffekt der tunesischen Jasminrevolution meldet sich in atemberaubender Schnelligkeit die alte Erkenntnis zurück, dass Geschichte von unten gemacht wird. Die Kämpfe richten sich gegen die tägliche Armut wie auch gegen die allgemeine Unterdrückung, es geht gleichermaßen um bessere Lebensbedingungen wie um Würde, kurz: um "Brot und Rosen".

Der Wunsch nach gleichen Rechten, nach Autonomie und Teilhabe am wirtschaftlichen Reichtum, spiegelt sich aber auch in den Booten Richtung Europa wider: "Exit" - sich die Bewegungsfreiheit zu nehmen und zu migrieren, um ein anderes, besseres Leben zu finden, und "Voice" - die Stimme zu erheben und den Kampf vor Ort zu führen, sind keine Gegensätze, sie stehen vielmehr in einem lebendigen Wechselverhältnis.

Das hatten - noch offenkundiger - bereits die Umbrüche 1989 gezeigt. Die Abstimmung mit den Füßen katalysierte damals die Protestbewegungen gegen das realsozialistische Unterdrückungsregime. Die Mauer ist auch deshalb gefallen, weil die Menschen ihre Bewegungsfreiheit durchgesetzt haben. Umso verlogener erscheint heute die Freiheitsrhetorik westlicher PolitikerInnen, die angesichts der Migrationsbewegungen aus und über Nordafrika einmal mehr das Bedrohungsszenario der Überflutung bemühen, gegen die nun die europäische Grenzschutzagentur Frontex in Stellung gebracht wird.

Die EU-Regierungen haben die nordafrikanischen Machthaber hofiert und gestützt und sich in den ersten Wochen zögerlich bis bremsend gegenüber den Aufstandsbewegungen verhalten. Dahinter stecken starke ökonomische Interessen, aber auch die gewachsene Kollaboration in der Migrationskontrolle. Despoten wurden umso wichtigere "Partner", je

effektiver sie als Wachhunde für ein vorverlagertes EU-Grenzregime fungierten. Migrationsbewegungen aus Afrika sollten um jeden Preis eingedämmt werden.

Tausendfacher Tod und Leid nicht mehr nur auf See, sondern auch in den Wüsten und Internierungslagern waren und sind die Folgen dieser schändlichen Komplizenschaft. Die MigrantInnen aus Subsahara-Afrika, die aktuell in Libyen Opfer pogromartiger Hetzjagden werden, sahen sich unter dem Gaddafi-Regime seit Jahren einer systematischen Entrechtung, Willkür und Misshandlungen ausgeliefert.

Die EU hat dem libyschen Diktator Millionen gezahlt, Überwachungstechnik und Waffen geliefert. Und jetzt empören sich dieselben EU-Regierungen darüber, dass Gaddafi diese Waffen gegen sein eigenes Volk einsetzt. Seine einst besten Freunde - Berlusconi und Sarkozy - haben am vehementesten für militärische Angriffe gegen Gaddafis Truppen votiert und wundern sich jetzt, dass eine Flugverbotszone und Luftangriffe dem Krieg kein Ende setzen, sondern im Gegenteil ihn auf brutale Weise verlängern. Dass die libysche Opposition, die zunächst jegliche Einmischung des Westens ablehnte, inzwischen sogar Bodentruppen von der NATO fordert, mag aus deren Lage verständlich sein. Klar ist, dass die westlichen Regierungen mit ihrer Intervention ganz andere Ziele verfolgen als die Unterstützung des Kampfs für eine autonome, freie und soziale Gesellschaft in Libyen und anderen arabischen Ländern.

Mit der zunehmenden Zahl an Kriegsflüchtlingen aus Libyen und MigrantInnen aus Tunesien wird nun die weitere Verschärfung und Militarisierung des EU-Grenzregimes legitimiert, verkörpert durch Frontex und seine "Operation Hermes". Die Folgen sind unzählige unrechtmäßige Rückschiebungen und Todesfälle im Mittelmeer. Am 6. April kenterte z.B. vor Lampedusa ein Boot mit etwa 300 Flüchtlingen aus Afrika, und ungefähr 250 von ihnen ertranken. Und nicht zufällig wird kriminalisiert, wer das Leben der Boatpeople rettet. Das zeigen die Fälle der Cap Anamur oder der tunesischen Fischer, deren Prozesse in Italien noch immer andauern.

Während in die Nachbarländer Libyens in den letzten Wochen etwa eine halbe Million Menschen flüchteten, von denen viele bereits in ihre Herkunftsländer zurückkehrten oder zurück geführt wurden, sind bisher erst etwas mehr als 25.000 Boatpeople in Europa angekommen. Allein in das mit über 10.000 Menschen überfüllte Lager Choucha an der tunesisch-libyschen Grenze kommen täglich 2500 bis 3500 neue Flüchtlinge. Aber statt ihnen wie die TunesierInnen Solidarität zu zeigen, streiten sich die EU-Regierungen über ihre Aufnahme. Weil Italien tunesischen MigrantInnen, die in Europa Familienangehörige aufsuchen und Arbeit finden wollen, um die Entwicklung in ihrem Land zu unterstützen, sechsmonatige Aufenthaltserlaubnisse erteilt, sperrt Frankreich entgegen dem Schengen-Abkommen seine Grenzen, und auch Deutschland will wieder Grenzkontrollen einführen. Und Italien schiebt neu Ankommende gnadenlos nach Tunesien zurück. "Erst klatscht ihr Beifall für unsere Revolution, dann jagt ihr uns über den halben Kontinent. Soll das eure Demokratie sein?" fragt Amir, ein Tunesier, der es zu seinem Bruder nach Frankreich geschafft hat (,Spiegel" 16/2011, S.91).

Deutschland ist so "großzügig", 100 afrikanische Flüchtlinge aus Malta aufzunehmen, darüber hinaus erklärte Innenminister Friedrich: "Italien muss seiner Verantwortung gerecht werden". Ansonsten sollen eritreische und sudanesische Flüchtlinge jetzt in von EU-Geldern errichteten Lagern in den bettelarmen Ländern Rumänien und Bulgarien vorübergehend aufgenommen werden. In eben jene Länder sowie in die Nachfolgestaaten Jugoslawiens werden trotz Verfolgung z.B. Roma aus Deutschland und demnächst wohl auch aus Hamburg abgeschoben. Diese EU-Flüchtlingspolitik ist beschämend und es liegt an uns allen, ob sie so weitergeht!

MigrantInnen suchen Schutz oder ein besseres Leben in Europa. Sie wandern gegen ein Reichtumsgefälle, das ganz wesentlich in den neokolonialen Dominanz- und Ausbeutungsverhältnissen zwischen Europa und Afrika begründet liegt. In Europa muss sich der universelle Anspruch auf Freiheit und Demokratie deshalb am Umgang mit denjenigen messen lassen, die auf dem Weg der Migration gleiche Rechte einfordern. Frontex steht für den

Ausbau eines tödlichen Grenzregimes, für das in einer freien Welt kein Platz ist. Der Tod an den Außengrenzen könnte schon morgen Geschichte sein. Aber das ist politisch nicht gewollt. Stattdessen führen die EU-Verantwortlichen einen regelrechten Krieg gegen Flüchtlinge und MigrantInnen.

Der Aufbruch in Nordafrika zeigt, was alles möglich ist. Es geht um nicht weniger als um ein neues Europa, ein neues Afrika, eine neue arabische Welt. Es geht um neue Räume der Freiheit und Gleichheit, die es in transnationalen Kämpfen zu entwickeln gilt: in Tunis, Kairo oder Bengazi genauso wie in Europa und den Bewegungen der Migration, die die beiden Kontinente durchziehen.



Conni Gunßer ist aktiv beim Hamburger Flüchtlingsrat. Vita siehe hier

E-Mail: conni (Punkt) gunsser (at) sh-home (Punkt) de
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