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25.04.2011


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Redebeitrag für den Ostermarsch 2011 in Gronaul am 25. April

Liebe Atomkraftgegnerninnen und Atomkraftgegner,

Raschid Alimow (in Gronau)



- Es gilt das gesprochene Wort -

- Sperrfrist: 25. April, Redebeginn: ca 13 Uhr -



ich begrüße hier alle, vor allem die Aktivisten, die mit uns Umweltschützern in Russland gemeinsam gegen den Export von Atommüll aus Deutschland nach Russland gekämpft haben.

Tschernobyl war eine große Tragödie für mein Land, für die ganze Welt. Wie hoch die genauen Opferzahlen sind, darüber wird immer noch gestritten. Doch eins ist klar: die radioaktiven Stoffe, die bei der Katastrophe von Tschernobyl in die Umwelt gelangten, sind auch heute noch in der Umwelt. Tausende, Zehntausende, Hundertausende wurden zu Opfern in verschieden schwerwiegender Form. Alleine 600 Tausend Liquidatoren kämpften in Tschernobyl gegen die Atomkatastrophe. Heute dürfen landwirtschaftliche Produkte aus bestimmten Gebieten Russlands, der Ukraine, Belarus Gegenden nicht ausgeführt werden.

Die Katastrophe von Fukushima hat erneut gezeigt: die Atomenergie hat ein nicht akzeptables Risiko. Gerne wird versucht, zu sagen, das sei eben eine Naturkatastrophe. Doch Natur ist heute eng verknüpft mit der Einwirkung des Menschen auf diese Natur. Und es sind Menschen, die Atomkraftwerke und die dazugehörigen Atommülllager gebaut haben. Die Verantwortung für diese Atommülllager, die noch hunderttausende von Jahren strahlen werden, tragen wir Menschen, die wir heute diese Erde bewohnen.

Die Atomenergie ist sicherlich nur ein Fragment unseres aktuellen sozio-ökonomischen Systems. Doch sie steht für alle unsere Krisen.

Die Atomenergie ist nur ein Kopf einer zweiköpfigen Hydra, der Name des anderen Kopfes heißt: Atombombe. Diese Hydra hat bei den Regierungen Sonderstatuts. Die Atombombe zementiert die Ungleichheit auf der Welt. Doch auch der andere Kopf dieser Hydra, die Atomenergie, zementiert die Ungleichheit auf der Welt. Sind es doch die Schwächsten, diejenigen, die nicht das Geld haben, um ein verstrahltes Gebiet zu verlassen, die besonders unter den Schrecken der Atomenergie leiden. Und wenn unsere heutige Ungleichheit die Welt auch in Zukunft im Griff haben wird, dann werden es wieder die Ärmsten sein, die sich als Wächter dieser Atommülllager ihre Brötchen verdienen müssen.

Zum Atomsektor in Russland: bei uns werden die Gewinne, die die Atomwirtschaft macht, privatisiert. Die Risiken der Atomwirtschaft müssen jedoch alle tragen. Mehrfach hat der Chef des russischen Atomkonzerns Rosatom, Herr Kirienko, gesagt, dass man nicht mit den derzeitigen Gewinnen der russischen Atomkraftwerke die Ausgaben bezahlen wird, die erforderlich sein werden, wenn diese Kraftwerke eines Tages vom Netz genommen werden. So einfach macht man sich es also: solange die Atomkraftwerke laufen, steckt man sich die Gewinne in die Tasche. Wenn man sie aber vom Netz nehmen muss, dann sagt man, man habe da ein schweres Erbe der Sowjetunion übernommen, da müsse der Steuerzahler zur Kasse gebeten werden. Bei der Planung für die modernen Atomkraftwerke habe man jedoch die Kosten für die Entsorgung bereits einkalkuliert, sagt er uns. Doch sollen wir ihm das glauben? Kann er wirklich sagen, die Atomindustrie hat die Kosten der Entsorgung im Griff? Wird nicht vielmehr in einem halben Jahrhundert der nächste Kirienko sagen, die Atomwirtschaft könne doch nicht die Verantwortung übernehmen für die Fehler der Putin-Zeit.

Die Atomenergie ist vielleicht das deutlichste Symptom unserer Expertokratie. Diese Expertokratie weigert sich, die Gesellschaft an den Entscheidungen mit einzubeziehen. Gleichzeitig sehen wir doch, wie sehr unsere Experten vom Großkapital abhängig sind. Deren Gutachten und Expertisen sind doch vielfach der Versuch, Informationen von der Gesellschaft fernzuhalten, diese mit Halbwahrheiten zu füttern.

Obwohl die Atomenergie ein Wirtschaftszweig mit besonders hohen Risiken ist, werden in diesem Wirtschaftszweig die Vorschriften nicht weniger häufig verletzt als in anderen Bereichen. Sergej Charitonow arbeitete lange im Atomkraftwerk "Leningradskaja" in der Nähe von St. Petersburg. Doch er wurde entlassen, weil er auf Einhaltung der Vorschriften bestanden hatte. Und so wurde er zum Whistleblower. Charitonow, der im Zwischenlager des Atomkraftwerkes gearbeitet hatte, haben wir die Information zu verdanken, dass vorschriftswidrig dort, wo nur eine Brennstabkassette gelagert werden darf, tatsächlich zwei derartige Kassetten gelagert werden. Zur Erinnerung: nach einem Brand in einem Zwischenlager vor dem Kraftwerk Fukushima ist eine große Menge Radioaktivität in die Umwelt abgegeben worden.

In der Nähe von St. Petersburg wird derzeit ein zweites Atomkraftwerk gebaut, "Lenindgradskaja Nr. 2". Die Arbeiter dort leben unter menschenunwürdigen Bedingungen, haben oftmals keine Arbeitsverträge, sind deswegen völlig rechtlos.

Unsere Gruppe "Öko-Perestroika" lehnt den Export von abgereichertem Uran, Uranhexafluorid, nach Russland und andere Länder ab. Dieses abgereicherte Uran ist ein Abfallprodukt der Urananreicherung für neuen Brennstoff für Atomkraftwerke. Mehrere Millionen Tonnen abgereicherten Urans lagern derzeit in Russland und anderswo. Es gibt keine Überlegungen, was man eigentlich mit diesem Müll in nächster Zukunft machen will.

Diesen Müll hat Europa nach Russland geschickt, und damit an die Peripherie des sozio-ökonomischen Systems. "Aus den Augen - aus den Sinnen". Dadurch, dass wir technisch vielfach noch nicht so weit sind, ist Russland nicht nur Rohstoffexporteur geworden. Es spielt auch mit seinem Haus, dem Leben seiner Kinder.

In Russland, das für Europa doch nur Peripherie ist, herrscht ein sehr patriarchales Klima. In diesem Klima wird gesellschaftlicher Aktivismus nicht geschätzt, gilt ein derartiger Aktivismus als Imitation des westlichen Lebensstils. Wenn man überhaupt über Ökologie spricht, meint man mit "Ökologie" qualitativ hochwertige landwirtschaftliche Lebensmittel.

Unter diesen beschriebenen Voraussetzungen hat die Umweltbewegung in Russland vor allem zwei Aufgaben: Wir müssen enger mit den Protestbewegungen zusammenarbeiten, die gegen den Sozialabbau kämpfen, wir müssen mehr mit Whistleblowern zusammenarbeiten. Wir müssen an Programmen einer ökologischen Produktion arbeiten, die Achtung vor dem menschlichen Leben stärken. Zweitens müssen wir unsere Kontakte mit den sozial-ökologischen Bewegungen im Westen ausbauen.

Dank einer gemeinsamen Kampagne von Umweltschützern in Russland, einer Kampagne, an der sich in Russland unsere Gruppe Öko-Perestroika und die Gruppe Eco-Defense beteiligt haben, und die in enger Zusammenarbeit mit Umweltschützern in Gronau, Ahaus und Münster lief, hatte Urenco erklärt, es werde keinen Atommüll mehr nach Russland exportieren. Der letzte derartige Transport ging unseren Informationen zufolge 2009 nach Russland. Im Sommer 2010 hatten wir den letzten Transport von französischem Atommüll. Es ist durchaus möglich, dass die Atommülllieferverträge inzwischen nicht mehr rechtsgültig sind. Wir haben jedoch den Verdacht, dass es möglicherweise derzeit Atommülltransporte von Großbritannien nach Russland gibt. Wir werden dies prüfen. Doch der bereits gelieferte Müll lagert in Fässern unter offenem Himmel auf riesigen Flächen. Insgesamt ist offensichtlich, dass die Verlagerung von Müll vom Zentrum an die Peripherie, sollte nicht etwas geschehen, wie der vollständige Ausstieg aus dieser Produktion, unausweichlich ist. Und wenn nicht etwas geschieht, das eine wirksame demokratische Kontrolle der Gesellschaft über Produktion und Technologien garantiert, wird sich die weitere Missachtung menschlichen Lebens nicht stoppen lassen.



Raschid Alimow ist in St. Petersburg bei Öko-Perestroika aktiv.
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