OM 2014

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21.04.2014


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Ostermärsche und -aktionen 2014

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Redebeitrag für den Ostermarsch 2014 in Frankfurt am 21. April

Liebe Freundinnen und Freunde,

Ulrich Schaffert (in Frankfurt)



- Sperrfrist: 21.04.14, Redebeginn: ca. 13 Uhr -

- Es gilt das gesprochene Wort -



ich stehe hier, um über das Schicksal von Flüchtlingen und entwurzelten Menschen zu sprechen, und ich bin sehr froh, dass der diesjährige Ostermarsch hier in Frankfurt dieses Anliegen mit aufgenommen hat. Denn woher und aus welchen Beweggründen auch immer diese Menschen zu uns kommen - sie sind für mich Botschafterinnen und Botschafter des Elends, das in vielen Teilen der Welt herrscht, in Form von Krieg und Gewalt, von Armut und Ungerechtigkeit. Und an dem Umgang mit ihnen entscheidet sich, wie menschlich und auch wie friedensfähig und solidarisch eine Gesellschaft ist. Schauen wir hin oder schauen wir weg? Heißen wir sie willkommen oder fühlen wir uns bedroht, weil sie unsere Lebensweise in Frage stellen? Interessieren wir uns für die Geschichten, die sie zu erzählen haben, oder überlassen wir sie ihrem Schicksal?

Wir haben im zurückliegenden halben Jahr intensive Erfahrungen mit einer Gruppe von afrikanischen Flüchtlingen gemacht, die bis dahin in dieser Stadt bis dahin kaum sichtbar war - aber seitdem stärker ins Bewusstsein gerückt ist. Über 20 Männern aus mehreren westafrikanischen Ländern, die auf unterschiedlichen Wegen hierher gekommen sind, haben wir - evangelische Kirchengemeinden im Frankfurter Nordwesten - im November letzten Jahres in einer spontanen Aktion von der Untermainbrücke, wo sie seit Wochen geschlafen hatten, in die Kirche geholt. Sie fanden Zuflucht zunächst in der Kirche Cantate Domino, dann in der Gutleutkirche im Bahnhofsviertel, wo sie jedoch nur noch wenige Wochen bleiben können.

Die Tatsache, dass viele von ihnen über Lampedusa kamen, hat dieser Gruppe viel Aufmerksamkeit eingebracht. Dies wohl auch deshalb, weil wenige Wochen zuvor die Nachricht von hunderten ertrunkenen Bootflüchtlingen diese kleine italienischen Insel wieder in den Fokus gerückt hatte. Lampedusa - dieser Name ist längst zum Symbol einer menschenverachtenden europäischen Flüchtlingspolitik geworden, die den massenweisen Tod von Menschen in Kauf nimmt, um sich Flüchtlinge möglichst vom Leib zu halten. Nicht der Schutz, sondern die Abwehr von Flüchtlingen ist schändlicherweise das oberste Gebot dieser Politik. Exemplarisch dafür stand und steht die Gruppe der von uns aufgenommenen 22, stellvertretend für tausende andere davon Betroffene. Lampedusa hat durch sie ein konkretes Gesicht in dieser Stadt bekommen.

Erst nach und nach haben wir ihre Geschichten kennengelernt. So unterschiedlich sie sind, sie haben eines gemeinsam: sie erzählen eine langen Odissée, zu der sie einst aufgebrochen sind, um dem Elend in ihrer Heimat zu entfliehen. Manche sind über Libyen nach Europa gekommen, wo sie mehrere Jahre gelebt und gearbeitet haben. Sie mussten dort flüchten infolge des Bürgerkrieges, bei dem sie zwischen die Fronten gerieten. Einer wurde z. B. dort mit 17 zum Militärdienst gezwungen und war später anderthalb Jahre in einem Camp von Rebellen eingesperrt. Auf seiner Flucht hat er zwei Monate die Wüste durchquert und später mit einem Schlauchboot das Mittelmeer. Andere sind direkt aus ihren Heimatländern aufgebrochen, angetrieben von der Hoffnung, anderswo ein bisschen Wohlstand zu erarbeiten und damit ihre Familien zuhause zu unterstützen. Bereits mehrere Jahre lang haben sie versucht, sich in Italien oder Spanien durchzuschlagen. Dort hatten sie zwar einen sogenannten "gesicherten Status" - aber mussten entweder in katastrophalen Notunterkünften oder auf der Straße leben. Und spätestens seit der Wirtschaftskrise in diesen Ländern sind auch die letzten, sowieso schon prekären Jobs weggebrochen, mit denen sie sich eine Weile halbwegs über Wasser halten konnten. Sie haben die Perspekivlosigkeit dort irgendwann nicht mehr ausgehalten und sind weiter gezogen, um hier in Deutschland Arbeit zu finden. Gelandet sind sie nach und nach alle unter der Brücke am Main.

Wie ging die Geschichte weiter, nachdem sie Schutz in unseren Kirchen gefunden hatten?

Zunächst das Positive, Erfreuliche: wir haben eine unglaubliche Welle von Hilfsbereitschaft und Unterstützung in dieser Stadt erlebt. Aus allen Bereichen der Gesellschaft haben sich Menschen spontan gemeldet und Hilfe angeboten: haben freiwillig gekocht und Essen vorbei gebracht, Kleider und Geld gespendet, Deutschunterricht organisiert, es gab kulturelle Aktionen und ein Theaterprojekt, Solidaritätsparties von Studenten, und Freizeitaktivitäten wie das regelmäßige Fußballtraining, das der DGB gemeinsam mit der Initiative "Respect" und der SG Bornheim organisiert hat. Für mich war es wirklich überwältigend zu erleben, wie viele Frankfurterinnen und Frankfurter sich eingebracht haben, um unsere 22 hier aufzunehmen und willkommen zu heißen. Sie alle haben das Wort "Willkommenskultur" mit Leben gefüllt und geholfen, ein Zeichen zu setzen für internationale Solidarität und Mitmenschlichkeit.

Doch nun das Frustrierende, das mich zornig macht: all diesen Bemühungen, all der eindrucksvollen Bereitschaft Flüchtlinge aufzunehmen steht eine kalte europäische Gesetzgebung entgegen, die Flüchtlinge als Bedrohung ansieht. Sie schiebt den Ländern im Süden Europas, die es nicht schaffen, sie fernzuhalten, die Verantwortung für die Gestrandeten zu. Und es kümmert unsere Regierungen nicht, dass dabei häufig die Mindeststandarts einer menschlichen Behandlung und Unterbringung auf der Strecke bleiben. So erwartet die Meisten, die es schaffen, sich bis nach Deutschland durchzuschlagen, auch hier entweder wieder die in Gesetz gegossene Perspektivlosigkeit oder im schlimmeren Fall die Abschiebung.

Für die von uns betreute Gruppe trifft Ersteres zu. Im Laufe der Monate mussten wir ernüchtert feststellen, dass die meisten der Arbeit suchenden Flüchtlinge - bis auf wenige Ausnahmen - hier keine Chance auf eine dauerhafte Perspektive haben. Trotz der bereits geleisteten Integration (kostenlos wohlgemerkt für Stadt und Land!) gibt es kein Durchkommen in dem entscheidenden Punkt. Das, weswegen diese Menschen hierher gekommen sind: nämlich Arbeit und das Recht auf Bleiben, wird ihnen durch die absurden Regelungen des europäischen Flüchtlingsrechtes verwehrt. Obwohl sie einen europäischen Aufenthaltstitel haben, dürfen sie sich nicht wie andere Europäer auf dem europäischen Arbeitsmarkt bewegen. Sie dürfen hier einfach nicht arbeiten, obwohl es durchaus Arbeit für sie gäbe - in manchen Branchen werden händeringend Arbeitskräfte gesucht. Stattdessen zwingt man sie zurück nach Italien oder Spanien, wo sie zwar arbeiten dürften, aber wo es de facto keine Arbeit für sie gibt und wo die Bedingungen für Flüchtlinge nach allem, was wir wissen, vielerorts menschenunwürdig sind.

Diese unsinnige und diskriminierende Regelung gehört darum schleunigst abgeschafft! Darum müssen wir gemeinsam kämpfen, dafür müssen wir gemeinsam eintreten! - das ist unsere erste Forderung nach über fünf Monaten Flüchtlingsbetreuung. Es kann nicht sein, dass Schutz- und Arbeitssuchende von außerhalb Europas an eine Kugel angekettet sind, die sie auf ihr Aufnahmeland festlegt (so hat es ein Flüchtlingsanwalt kürzlich in einer Podiumsdiskussion treffend beschrieben). Sie müssen das gleiche Recht haben, wie jede andere Europäerin oder jeder andere Europäer, sich innerhalb Europas frei zu bewegen und Arbeit dort zu suchen, wo sie auch Chancen haben, eine zu finden!

Abgeschafft gehört aber auch und erst Recht die Dublin II-Verordnung, die denjenigen, die über die sogenannten Drittstaaten zu uns kommen, um hier Asyl zu beantragen, genau dieses Recht verweigert. Diese Regelung führt dazu, dass immer wieder Schutzsuchende in ihr ursprüngliches Aufnahmeland abgeschoben werde, ohne Rücksicht auf die oft katastrophalen Bedingungen dort. Auch hierfür haben wir gerade ein aktuelles Beispiel von einem jungen Eriträer, dem die evangelische Gemeinde am Bügel aus diesem Grund vor gut einer Woche Kirchenasyl gewährt hat. Kirchenasyl ist in solchen Fällen das letzte Mittel, um akute Abschiebungen zu verhindern, und ich bin froh, dass sich im ganzen Land immer wieder Gemeinden finden, die hierzu bereit sind, weil das Eintreten für Fremde und Flüchtlinge zu den zentralen Grundsätzen unseres christlichen Glaubens gehört.

Ich ziehe jedoch aus den beschriebenen Erfahrungen noch eine andere Lehre: Es reicht offensichtlich nicht aus, aus christlicher Nächstenliebe oder humanitärem Anspruch heraus Flüchtlinge aufzunehmen und willkommen zu heißen. Wir müssen politischer werden, und an einer Veränderung der lebensfeindlichen, auf die Abwehr von Flüchtlingen ausgerichteten Politik in unserem Land und in Europa arbeiten. Wir müssen Bündnisse schließen, wie es ansatzweise schon passiert ist bei unserer Aktion, und auch heute passiert - über alle Grenzen hinweg: Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft, Kirchen, Gewerkschaften, Parteien, Schüler und Studenten, und nicht zuletzt natürlich die Betroffenen selbst. Das Engagement so Vieler, die uns bei unserer Aktion unterstützt haben, aber auch die Osterbotschaft vom Sieg des Lebens über den Tod ermutigt mich dazu, daran zu glauben, dass wir gemeinsam etwas ändern können.

Darum mein Aufruf heute: Lasst uns gemeinsam für ein neues, humanes Flüchtlingsrecht eintreten und kämpfen, das unseren europäischen Werten angemessen ist. Lasst uns weiter an einem Europa bauen, in dem Flüchtlinge nicht mehr als Verschiebemasse behandelt werden, sondern das es ihnen erlaubt, ihr Leben selber in die Hand zu nehmen und sich eine Perspektive aufzubauen. Und lasst uns vor allem in der praktischen Begegnung mit Flüchtlingen zeigen und deutlich machen, dass sie keine Bedrohung, sondern eine Bereicherung für uns sind!



Ulrich Schaffert ist Pfarrer derEv. Dietrich-Bonhoeffer Gemeinde in Frankfurt.

E-Mail: uschaffert (at) gmx (Punkt) de
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