Syrien u. Arabellion

update:
06.02.2012


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Arabellion / Syrien

 Hintergrund-Informationen

Quelle Infoblatt BSV: http://www.soziale-verteidigung.de/news/meldungen/infoblatt-sy
rien-zwischen-buergerkrieg-und-gewaltfreiem-aufstand/


Syrien zwischen Bürgerkrieg und gewaltfreiem Aufstand

Christine Schweitzer

Syrien befindet sich am Rande des Bürgerkrieges - wenn allein die Zahl der weit über 5.000 Opfer seit dem März 2011 zugrunde gelegt wird, dann herrscht dort nach den gängigen Kriegsdefinitionen bereits Krieg.(1) Während in Tunesien und Ägypten die zivilen Aufstände 2011 zu einem schnellen Sturz der Regierungen führten und in Libyen der Konflikt schnell zu einem rein militärischen wurde, trägt der Aufstand in Syrien, der im März 2011 begann, ein doppeltes Gesicht. Auf der einen Seite gibt es die zivilen Proteste, die - vor allem durch eine große Zahl von Bürgerkomitees und zumeist freitags nach dem Moscheebesuch organisiert - viele Tausende Menschen unter einem jeweils wöchentlich neu festgelegten Motto auf die Straße bringen. Auf der anderen Seite hat sich eine bewaffnete Untergrundarmee, die Freie Syrische Armee, gebildet, die sich vor allem aus Deserteuren der syrischen Armee rekrutiert und die den bewaffneten Kampf gegen das Assad-Regime aufgenommen hat. Die syrische Regierung geht mit äußerster Härte gegen beide vor. Aktuelle Zahlen sind schwer zu prüfen, aber schon im letzten September war von mehr als 70.000 Festgenommenen die Rede und mindestens 15.000 Menschen sind ins Ausland, vor allem nach Jordanien, in den Libanon und in die Türkei, geflohen.(2)



Syrien - ein paar Grunddaten

Eines der Merkmale der Presseberichterstattung ist, dass stets nur das aktuelle Geschehen reflektiert wird, man darüber aber leicht die eigentlich ja bekannten Hintergründe vergisst. Deshalb zur Erinnerung und Einordnung hier ein paar Stichworte:
(3)

Syrien ist ein Land mit ca. 22,5 Millionen EinwohnerIinnen. Drei Viertel der Bevölkerung sind SunnitInnen; die Regierung wird aber vorwiegend von der ungefähr 10 % der Bevölkerung umfassenden schiitischen Gruppe der AlawitInnen gestellt.

ChristInnen machen ebenfalls 10 % der Bevölkerung aus. Ethnisch sind rund 90 % der Bevölkerung AraberIinnen und 9 % KurdInnen. Dem gegenwärtigen Regime ist es gelungen, durch seinen säkularen und panarabischen Ansatz, aber notfalls auch mit Gewalt (1982 Angriff auf die von der Muslimbruderschaft kontrollierte Stadt Hama, der nach unterschiedlichen Quellen zwischen 10.000 und 20.000 Menschen das Leben kostete) Konflikte zwischen den verschiedenen Gruppen, wie sie in den Nachbarländern typisch sind, weitgehend auszuräumen. Syriens Armee umfasst rund 200.000 Mann.

Historisch gehörte Syrien zum Osmanischen Reich; nach dem Ersten Weltkrieg wurde Frankreich die Verwaltung der Region übertragen. 1946 wurde Syrien unabhängig. 1958 bis 1961 schloss es sich mit dem von Nasser regierten Ägypten zusammen; ein Militärputsch beendete dieses panarabische Experiment. Seit 1963 regiert in Syrien die Baath-Partei; wirkliche Oppositionsparteien wurden nie zugelassen. Die Verfassung von 1973 bezeichnet Syrien als sozialistische Volksrepublik mit Präsidialsystem. Der gegenwärtige Präsident Baschar al-Assad ist der Sohn von Hafiz al-Assad, der von 1971 bis zu seinem Tod im Jahr 2000 Präsident Syriens war. Der Alawit Baschar al-Assad wurde in einem Referendum ohne Gegenkandidaten zum Präsidenten gekürt und in diesem Amt 2007 für eine zweite siebenjährige Amtsperiode bestätigt. Ähnlich wie bei Saddam Hussein und Muammar al-Gaddafi stützt sich seine Macht auf seinen aus einem Dorf (Qardaha) stammenden Familienverband.
(4)

Im Nahostkonflikt ist Syrien als einer der Gegner Israels positioniert. Im Sechstagekrieg 1967 besetzte Israel die zu Syrien gehörenden Golanhöhen, von denen aus es immer wieder zu Beschuss israelischen Territoriums gekommen war. Eine 1976 begonnene, langjährige Militärpräsenz im Libanon musste Syrien 2005 nach der bis heute offiziell ungeklärten Ermordung des ehemaligen libanesischen Premierministers Rafiq al-Hariri beenden. Syrien hat Israel bis heute nicht anerkannt. Friedensgespräche scheiterten 2008 am Gaza-Konflikt. Damaskus ist der Sitz der Exilregierung der Hamas und Israel hat zweimal Militärschläge auf Einrichtungen in Syrien durchgeführt: 2003 auf ein Ausbildungslager für Terroristen und 2007 auf eine angebliche Atomanlage.
(5)

International ist Syrien mit Russland und China befreundet, die sich schon in früheren internationalen Auseinandersetzungen (etwa nach der Ermordung von Hariri) auf die Seite Syriens stellten. Russlands Handelsinteressen betreffen sowohl Rüstung wie Erdöl - zusammen machen die Verträge einen Wert von 700 Millionen USD pro Jahr aus. Außerdem ist Tartus die einzige russische Marinebasis am Mittelmeer.
(6)

Russland blockierte nicht nur Anfang Februar eine von arabischen und europäischen Staaten gemeinsam eingebrachte Resolution zu Syrien im Weltsicherheitsrat, sondern hat auch das Waffenembargo gegen Syrien abgelehnt und 2011 weiter Waffen an die Regierung geliefert. Ende Januar 2012 ging sogar ein Bericht über die geplante Lieferung von 36 Kampfflugzeugen an Syrien durch die Medien.
(7)

Auch der Iran unterstützt das Regime. Die USA ordneten Syrien zusammen mit Kuba und Libyen 2002 der "Achse des Bösen" zu und beschuldigten die Länder, Massenvernichtungswaffen herzustellen.
(8) Dies gibt heute angesichts des internationalen Konfliktes um den Iran und seine mutmaßlichen Pläne, zu einer Nuklearmacht "aufzusteigen", der Lage in Syrien eine besondere Brisanz.



Der Aufstand

Kurz nach Beginn der Aufstände in Tunesien und Ägypten kam es auch in Syrien zu einzelnen Protesten, die aber zunächst wenig Widerhall fanden. Der März 2011 gilt vielen BeobachterInnen als der eigentliche Beginn der Unruhen, als in Dar`a, einer im Süden Syriens gelegenen Stadt, eine Demonstration nach dem Freitagsgebet am 18. März von der Polizei unter Beschuss genommen wurde. Der Protest war durch die Verhaftung und mutmaßliche Folterung von 15 Schülern ausgelöst worden, die einen Slogan der arabischen Aufstände in den anderen Ländern an eine Häuserwand gemalt hatten. Während der Bestattung von vier Opfern am nächsten Tag kam es zu neuer Gewalt von Regierungsseite. Ab dem Zeitpunkt begannen Hunderttausende regelmäßig auf die Straße zu gehen. Schwerpunkte der Proteste waren und sind Baniyas, Homs, Hama und Vororte von Damaskus, aber es gibt keine Region Syriens, wo keine Proteste stattfinden. Die Regierung verfolgte anfänglich die Strategie, durch hartes Durchgreifen gekoppelt mit politischen Konzessionen der Lage Herr zu werden. So trat am 29. März 2011 die Regierung unter Ministerpräsident Muhammad Nadschi al-Utri zurück und am 21. April hob Assad den seit 1963 in Kraft befindlichen Ausnahmezustand auf. Im Mai und Juni wurde zwei Amnestien für politische Gefangene erlassen; im Januar 2012 folgte eine dritte. Im Juni/Juli 2011 kündigte die Regierung einen "Nationalen Dialog" an, der von der Opposition jedoch als "Showveranstaltung` abgelehnt wurde. Außerdem billigte die Regierung Ende Juli einen Gesetzesentwurf, der die Gründung von politischen Parteien erlaubt.

Unterdessen ging die Gewalt gegen die Demonstrationen aber ungebremst weiter; schon im Mai wurde von 1.000 Todesopfern gesprochen. Im Juli 2011 beteiligen sich an einem Tag bis zu 3 Millionen Menschen an Protesten gegen das Regime. Auch später im Juli zählen Demonstrationen in einzelnen Städten mehrere hunderttausend TeilnehmerInnen. Derzeit, Anfang Februar 2012, scheint die Situation nach der an Russland und China gescheiterten Resolution gegen Syrien im Weltsicherheitsrat weiter zu eskalieren. Besonders die Stadt Homs, von Anfang an eine der Hochburgen des Widerstands, ist zum Ziel des Versuches der Regierung geworden, den Widerstand mit militärischen Mitteln zu brechen; die Opposition antwortete mit einem landesweiten Streikaufruf.

Die politische Landschaft der Aufständischen ist vielfältig, aber es gibt keinen Zweifel, dass er von praktisch allen religiösen und ethnischen Gruppen im Land mitgetragen wird. Auch Angehörige der Minderheit der Alawiten, der Assad entstammt, sind unter den WiderständlerInnen zu finden.
(9)



Die lokalen Bürgerkomitees

Seit Beginn des syrischen Frühlings im März 2011 haben sich in nahezu jeder syrischen Stadt lokale Bürgerkomitees gegründet.
(10) Sie sind die Hauptträger der zivilen Demonstrationen. Die Zusammensetzung der Komitees ist dabei regional sehr unterschiedlich. So sind alle gesellschaftlichen Schichten, alle Religionsgemeinschaften und Ethnien, Männer wie Frauen vertreten. Es gibt eher religiöse und säkulare Komitees, solche, in denen vor allem junge Menschen vertreten sind, und solche, in denen sich bestimmte Berufsgruppen zusammen gefunden haben (etwa AnwältInnen).

Ungefähr die Hälfte der rund 300 lokalen Komitees hat sich - bei vielen Doppelmitgliedschaften - in zwei großen Netzwerken zusammengeschlossen, den Local Coordination Commitees of Syria (LCC)
(11) und der Syrian Revolution General Commission (SRGC)(12). Die Netzwerke geben den Protesten eine Stimme nach außen und sorgen durch ihre intensive Pressearbeit dafür, dass die Welt von dem Geschehen in Syrien erfährt. Beide Netzwerke bekennen sich zum gewaltlosen Widerstand gegen die Diktatur und legen ihre Aktionen entsprechend an. So schrieben die Local Coordination Commitees in einer Erklärung letztes Jahr:

"Eine Militarisierung der Revolution würde die Unterstützung und Beteiligung an der Revolution durch das Volk minimieren. ... Militarisierung würde die Revolution in eine Arena tragen, wo das Regime einen deutlichen Vorteil hat und die moralische Überlegenheit erodieren, die die Revolution seit ihren Anfängen charakterisiert hat."
(13)

Neben den Protesten auf der Straße organisieren die Netzwerke Streiks, koordinieren dringende humanitäre Hilfe und stellen die politische Vertretung der jungen Demokratiebewegung im neu gegründeten syrischen Nationalrat. Auch wenn die beiden Netzwerke basisdemokratisch organisiert sind, so sind es insbesondere zwei Frauen, die beide Netzwerke antreiben: Razan Zeitouhne, Anwältin aus Damaskus und ausgezeichnet mit dem Menschenrechtspreis des Europäischen Parlaments, lebt seit Beginn des Aufstandes im Untergrund und hat die LCC maßgeblich mit aufgebaut. Suhair Atassi, die die treibende Kraft in der SRGC ist, musste im Dezember 2011 Syrien aus Sicherheitsgründen verlassen.



Nationale Zusammenschlüsse der Opposition

Auf nationaler Ebene gibt es zwei Zusammenschlüsse, die einen Führungsanspruch anmelden: Den Syrian National Council und das National Co-ordination Committee.

Der
Syrian National Council (SNC)(14) wurde Anfang Oktober 2011 in der Türkei gegründet und besteht ungefähr zur Hälfte aus Mitgliedern, die in Syrien leben und zur Hälfte aus solchen im Exil. Er hat sich eine Grundsatzerklärung gegeben. Ihm ordnen sich auch die beiden oben genannten Netzwerke der lokalen Komitees zu und stellen dort rund ein Drittel der Abgeordneten. Außerdem sind im SNC die Muslimbruderschaft und kurdische Gruppen vertreten. Sein Sprecher ist der 67-jährige Burhan Ghalioun, ein in Paris an der Sorbonne lehrender Sozialwissenschafter. Der SNC wird vom Assad-feindlichen Ausland zunehmend als der legitime Repräsentant der syrischen Opposition und als Exilregierung angesehen. Das politische Programm des SNC, wie es in seiner Grundsatzerklärung festgelegt wurde, umfasst Menschenrechte, Unabhängigkeit der Justiz, Pressefreiheit, Demokratie und politischen Pluralismus. Die Charta betont das Festhalten an der "Friedlichkeit der Revolution"(15), aber Mitglieder des SNC haben sich in jüngerer Zeit für eine Flugverbotszone ausgesprochen, und es gibt Koordinierungsbemühungen mit der Freien Syrischen Armee (s. unten).(16)

Das
National Co-ordination Committee (NCC)(17) wird von Hassan Abdul Azim und anderen bekannten Dissidenten des Regimes geleitet. Zwischen NCC und SNC gibt es Spannungen und Vorbehalte, u.a. wegen der Mitgliedschaft der Muslimbruderschaft im SNC. Auch das NCC setzt sich für einen friedlichen Wandel ein und hat sich gegen militärische Intervention von außen ausgesprochen.



Freie Syrische Armee

Die Freie Syrische Armee entstand im August 2011 und wird von Riad al-Asad, einem früheren Colonel in der Air Force, angeführt. Sie rekrutiert sich in erster Linie aus desertierten Soldaten der regulären syrischen Armee. Über ihre Stärke gibt es sehr widersprüchliche Angaben; Medien sprechen von zwischen 1.000 und 25.000 Männern in 22 Einheiten. Sie ist vor allem in der nordwestlichen Provinz Idlib, um die zentralen Städte Homs und Hama und um Damaskus herum aktiv. Anscheinend stammt die Mehrzahl ihrer Ausrüstung von der Armee - dadurch, dass die Deserteure ihre Waffen mitbringen oder gerüchteweise auch, dass sie der Armee abgekauft werden.
(18) Es gibt auch Informationen über Waffenhilfe aus der Türkei und dem Irak(19); gesichert scheint zumindest, dass diese Nachbarländer (Türkei, Libanon, Jordanien) als Rückzugsgebiete genutzt werden. Sie verfügt (bislang) über keine schweren Waffen bzw. setzt diese nicht ein. Die Freie Syrische Armee sieht ihre Aufgaben in der Bekämpfung des Assad-Regimes und in dem bewaffneten "Schutz" der zivilen Demonstrationen.



Internationale Interventionen

Syrien hat 2011 im Vergleich zu den nordarabischen Aufständen wenig Aufmerksamkeit durch die internationale Gemeinschaft verzeichnen können. Diese war über Monate vorrangig mit Libyen und der Militärintervention in den dortigen Konflikt befasst. Die Intervention in die syrische Situation beschränkte sich auf Appelle, Verurteilungen und Sanktionen.

Hier eine kurze Zeitleiste
(20):

9.5.2011 Der
Rat der Europäischen Union verurteilt das Vorgehen der syrischen Regierung gegen die Demonstrant_ innen und beschließt Sanktionen - Einreiseverbote gegen bestimmte Personen und Sperrung von Geldern und Finanzeinlagen - sowie ein Waffenexportverbot. Die USA erlassen kurz darauf ähnliche Sanktionen.

3.8.2011 Der
UN-Sicherheitsrat verurteilt die Gewalt in Syrien und ruft alle Seiten zur Gewaltlosigkeit und Einhaltung der Menschenrechte auf.

7.8.2011 Erstmals verurteilt auch die
Arabische Liga die Gewalt gegen DemonstrantInnen.

18.8.2011 Die USA, Deutschland, Frankreich und Großbritannien distanzieren sich in deutlicher Form von Assad und fordern seinen Rücktritt. In einer gemeinsamen Erklärung von Angela Merkel, Nicolas Sarkozy und David Cameron heißt es, Assad habe "jede Legitimität verloren". "Wir rufen ihn auf, sich der Realität der vollständigen Ablehnung seines Regimes durch das syrische Volk zu stellen und im Interesse Syriens und der Einheit seines Volkes den Weg frei zu machen."

3.9.2011 Die
EU verhängt ein Ölembargo gegen Syrien. (Verbot der Einfuhr von Öl aus Syrien.)

2.11.2011 Die
Arabische Liga stellt einen Friedensplan auf, der vorsah, nicht auf unbewaffnete Demonstrant_ innen zu schießen, das Militär aus den Städten abzuziehen und politische Gefangene freizulassen. Die syrische Regierung stimmt dem Plan zu, am Tag darauf kommt es aber wieder zu Toten, als auf Demonstrant_ innen geschossen wird.

12.11.2011 Die
Arabische Liga suspendiert Syrien auf Antrag von Katar und Saudi-Arabien und kündigt Wirtschaftssanktionen an, die Ende November in Kraft treten: Sie umfassen neben einem Stopp des Handels mit der syrischen Regierung und Zentralbank ein Reiseverbot für die Mitglieder der syrischen Regierung sowie das Einfrieren von Konten.

26.12.2011 Die ersten fünfzig Mitglieder der Beobachtermission der
Arabischen Liga treffen in Damaskus ein. Sie umfasst schließlich 163 Mitglieder und wird von dem sudanesischen General Mustafa al-Dabi geleitet, der mehrere Jahre Befehlshaber im Kampf gegen Südsudan gewesen war.

22.1.2012 Die
Arabische Liga beschließt die Verlängerung der Beobachtermission um einen weiteren Monat trotz der Kritik an der Mission.

28.1.2012 Die
Arabische Liga setzt aus Protest gegen die Gewalt des Assad-Regimes ihre Beobachtermission mit sofortiger Wirkung aus.

31.1./4.2.2012 Der
UN-Sicherheitsrat berät über eine Resolution, die von den USA und der Arabischen Liga eingebracht wurde. Die Resolution enthält drei Hauptpunkte: den Appell, notwendige Schritte zu unternehmen, um den Fluss von Waffen nach Syrien zu stoppen; die Forderung an alle Seiten, die Gewalt sofort einzustellen und Verletzer von Menschenrechten zur Verantwortung zu ziehen; den Appell an Präsident Assad, seine Macht an einen Stellvertreter zu übergeben und freie Wahlen zuzulassen.(21) Die Resolution scheitert schließlich am Veto von Russland und China.



Perspektiven

Die Aussichten, den Konflikt ohne ein noch viel größeres Blutvergießen in friedliche Bahnen zu lenken, verringern sich im Moment mit jeder Woche. Im Land scheint die Regierung von Präsident Assad weiter überzeugt, den Aufstand mit Gewalt in die Knie zwingen zu können. Und international ist der Konflikt in Syrien inzwischen längst zum Spielball der Groß- und Regionalmächte geworden. Weder die Arabische Liga noch die Vereinten Nationen scheinen in der Lage, die syrische Regierung zu einem Einlenken bewegen zu können, zumal das Regime weiterhin mit Russland, China und dem Iran einige alte Verbündete aus der Zeit des Ost-West-Konfliktes treu an seiner Seite hat. Dabei ist der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, dass es keinem dieser Länder wirklich um Syrien und die Sicherheit und Selbstbestimmung der syrischen Bevölkerung geht. Vielmehr geht es wohl vorrangig um Einfluss in der Region und natürlich um den sich immer weiter zuspitzenden Konflikt mit dem Iran.

In der deutschen Friedensbewegung hat die Möglichkeit einer Militärintervention von außen nach dem Vorbild von Libyen oder dem Kosovo zu Besorgnis geführt. Auf den ersten Blick sind die Perspektiven zur NATO-Intervention in den Kosovo-Konflikt augenfällig - auch dort hatte Russland eine UN-Resolution verhindert, aber die NATO entschied sich - völkerrechtswidrig - trotzdem für einen Angriff.

Aber glücklicherweise scheint die sogenannte internationale Gemeinschaft im Moment nicht bereit zu sein, diese Option ernstlich in Betracht zu ziehen. Die Diskussion um eine internationale Intervention konzentriert sich in erster Linie auf die Verhängung und Durchsetzung eines Flugverbots - also eher "Modell Libyen" als "Modell Kosovo". Dies ist eine Forderung, die auch aus Kreisen der syrischen Opposition zu hören ist, trotz früherer Erklärungen, dass man eine internationale Einmischung auf keinen Fall wolle und trotz des Bekenntnisses zur Gewaltlosigkeit der Proteste.

Das Kalkül hinter einem solchen Flugverbot ist in erster Linie, dass dies der Freien Syrischen Armee ermöglichen würde, ihre Aktivitäten auszuweiten, schwerere Waffen einzusetzen und nach dem Vorbild Libyens befreite Zonen zu schaffen und erfolgreich zu verteidigen, von denen aus dann der Bürgerkrieg nach Damaskus getragen werden könnte.
(22)

Innerhalb arabischer Länder wurde gelegentlich laut über die Entsendung von Truppen nachgedacht
(23), aber eine Realisierung solcher Vorschläge dürfte als extrem unwahrscheinlich angesehen werden. Am wahrscheinlichsten scheint derzeit, dass die internationalen Gegner des Assad-Regimes darauf setzen werden, dass es der Freien Syrischen Armee zusammen mit den zivilen Oppositionsgruppen gelingt, die Regierung zu stürzen. Eine Perspektive, die trotz der ungeheuren zahlenmäßigen militärischen Überlegenheit des Regimes nicht als unrealistisch einzustufen ist, da die Unterstützung der Regierung, wie die wachsende Zahl von Deserteuren zeigt, erodiert.

Aber der Preis würde sehr hoch sein - ein solcher voll entbrannter Bürgerkrieg dürfte zehntausende Menschenleben kosten.



Den zivilen Widerstand unterstützen

Vor einigen Wochen hat sich eine Initiative gebildet, die sich zum Ziel gesetzt hat, den zivilen Widerstand in Syrien zu unterstützen: Adopt a Revolution (
http://www.adoptrevolution.org). Trotz der beschriebenen zunehmenden Militarisierung des Aufstandes gibt es diesen zivilen Widerstand weiter und der Ansatz der Initiative ist, ihn zu stärken, damit seine Erfolgschancen zu erhöhen und dadurch die Chance zu vergrößern, dass ein voll entbrannter Bürgerkrieg doch noch vermieden werden kann. Adopt a Revolution hat sich vier Ziele gesetzt(24):

1. Finanzielle Unterstützung von lokalen Komitees: Vielen Komitees fehlt das Geld für AnwältInnen, um Gefangene zu betreuen, für Miete und Lebensmittel für AktivistInnen im Untergrund, für Banner, Flugblätter oder auch einen in Syrien sehr teuren Internetanschluss. Dabei werden derzeit rund zwanzig Komitees mit monatlichen Beträgen um die 800 Euro gefördert, die drei Netzwerken angehören: den Local Coordination Committees, der Syrian Revolution General Commission und Askya, einem kurdischen Netzwerk.

2. Solidarische Nähe aufbauen: Zwar wird der syrische Aufstand intensiv medial begleitet, aber anders als etwa bei den Jugoslawien-Konflikten ist der Bezug zu dem Land eher schwach ausgeprägt. Mit einem PatInnen-Modell zwischen deutschen FördererInnen und syrischen Komitees soll hier eine Annäherung geschaffen werden, die eine Voraussetzung für dauerhafte Solidarität ist.

3. Wissenstransfer: Zwischen hiesigen und syrischen Gruppen soll ein Erfahrungsaustausch entstehen, der den friedlichen Aufstand gegen das Assad-System stärkt - und darüber hinaus beim Aufbau einer Zivilgesellschaft in Syrien wirkt.

4. Zivilgesellschaftliche Intervention: Neben der praktischen Hilfe versteht sich das Projekt als Beitrag zur Ausgestaltung internationaler Solidaritätsarbeit. Mit diesem Projekt soll eine Form der "zivilgesellschaftlichen Intervention" geschaffen werden, die mit der Stärkung friedlicher politischer AktivistInnen eine militärische Eskalation unwahrscheinlicher macht.

Adopt a Revolution wird von deutschen Organisationen mitgetragen: Dazu gehören medico international, die Bewegungsstiftung, das Netzwerk Friedenskooperative und das Komitee für Grundrechte und Demokratie. Der Bund für Soziale Verteidigung hat mit Christine Schweitzer eine Vertreterin in den Beirat entsendet.



Warum diese Aufständischen unterstützen?

Wir wissen doch gar nichts über das Land, wir sprechen nicht Arabisch, die Gewalt eskaliert, es gibt keine Abgrenzung und Distanzierung zwischen bewaffnetem Kampf und zivilem Widerstand und die syrischen Websites sind durch eine manchmal martialisch anmutende Sprache charakterisiert, relevante SprecherInnen des Widerstandes fordern inzwischen ein internationales militärisches Eingreifen, es ist unklar, wie es nach einem Sturz von Assad weiterginge, ein Umsturz in Syrien nützt den USA, Israel und ihren Verbündeten. Dies sind in aller Kürze wohl die Haupteinwände, die wir als UnterstützerInnen von Adopt a Revolution immer wieder zu hören bekommen.



Ein paar Antworten auf die üblichen Einwände:

Sachkenntnis: In Adopt a Revolution arbeiten mehrere Menschen irakischer Herkunft mit. Außerdem ist es in Zeiten des Internets nicht mehr wirklich schwierig, sich zumindest eine Basis-Sachkenntnis anzueignen. Selbst Sprache ist kein absolutes Hindernis mehr, da computergestützte Übersetzungsprogramme einem - bei allen Schwächen, die diese Programme noch haben - doch einen Eindruck auch von einer Diskussion in einer fremden Sprache zu geben vermögen.

Gewalt und Gewaltlosigkeit: Die Gewalt eskaliert, das ist richtig. Und es mag der Zeitpunkt kommen, an dem ziviler Widerstand in Syrien unmöglich werden könnte, weil die Gefahr für Protestierende, zwischen die Fronten bewaffneter Auseinandersetzung zu geraten, zu groß wird oder jede Menschenansammlung mit militärischer Gewalt beantwortet wird. Aber noch gibt es ihn, und vielleicht mag unsere Hilfe dazu beitragen, dass dieser Zeitpunkt nie eintreten wird. Unsere Position ist, dass wir jede Form der Gewaltanwendung ablehnen, und uns mit denen solidarisch erklären, die mit zivilen Mitteln für ihre Rechte einstehen. Gerade in ansonsten von Gewalt geprägten Situationen ist eine solche Solidarität besonders wichtig, um dem Eindruck entgegenzutreten, dass "nur Gewalt hilft" bzw. Aufmerksamkeit von internationaler Seite erst dann geweckt wird, wenn es zum Krieg kommt.

Was die Frage einer
internationalen Intervention angeht, so kommt es für uns auch da auf die Mittel an. Waffenembargo und Sanktionen sind ebenfalls Formen internationalen Eingreifens, genau wie unsere vorwiegend finanzielle Unterstützung von lokalen Komitees. Die sich der deutschen Friedensbewegung zurechnenden UnterstützerInnen von Adopt a Revolution lehnen ein internationales militärisches Eingreifen gleich welcher Form, auch als Flugverbotszone, ab, weil wir fürchten, dass dies viel mehr Opfer kosten würde als ein Verzicht auf solche militärischen Mittel. Wir können und werden diese Position unseren syrischen PartnerInnen nicht aufzwingen, legen sie aber offen.

Uns geht es um die Menschen in Syrien, die für ihre Rechte kämpfen. Dabei ist es zweitrangig, ob ein Umsturz in Syrien auch den westlichen Alliierten gelegen kommt. Manche Konfliktlinien des Kalten Krieges haben in der Zeit nach 1989 überlebt, wie etwa das Bündnis zwischen Russland und Syrien. Aber der Feind meines Feindes muss nicht mein Freund sein - wir müssen aufhören, in einem quasi automatischen Reflex uns auf die Seite derjenigen zu stellen, die - aus ganz anderen Gründen als wir - die Kriege und das geostrategische Agieren der westlichen Großmächte ablehnen.

Dies ist dieselbe Position, die wir in den Kriegen gegen Afghanistan und gegen den Irak eingenommen haben - beide Regime lehnten wir genauso vehement ab wie den militärischen Angriff auf sie. Entscheidend für uns sind die Mittel: Gewalt ist keine Antwort, da sie die grundlegendsten Menschenrechte einschließlich des Rechtes auf Leben außer Kraft setzt und es viel schwieriger macht, nach dem Konflikt einen Neuanfang unter Beteiligung aller erfolgreich anzugehen.

Was kommt nach dem Sturz von Assad? Eines ist ganz gewiss: Auch das Regime von Assad wird stürzen. Die Frage ist allein, wann und wie viele Menschen noch ihr Leben lassen müssen, bis es dazu kommt. Wie es nach einem Sturz weitergeht, liegt in den Händen der syrischen Opposition. Unsere Überzeugung ist, dass die überwiegende Mehrheit in dieser Opposition sich einen pluralen Staat wünscht, in dem die Rechte aller geschützt sind. Insbesondere in Libyen und Ägypten zeigt sich inzwischen, dass sich viele der AktivistInnen inzwischen um die Früchte ihrer Revolution betrogen fühlen. Mächtige ökonomische Interessen des Auslands nehmen dort gewaltigen Einfluss wie auch die jeweiligen Eliten. Vielleicht kann unsere Unterstützung dazu beitragen, dass in Syrien diese Entwicklung nicht eintritt.



Anmerkungen



1Die Vereinten Nationen sprachen im Januar 2012 von 5.400 Toten seit dem März 2011. Inzwischen verzichten sie auf die Angabe einer genauen Zahl, weil die Informationen zu widersprüchlich seien. Andere Quellen geben höhere oder niedrigere Zahlen an - die Regierung spricht von 2.000 toten Soldaten; aus Kreisen des Widerstands ist von mindestens 7.000 zivilen Opfern zu hören. Als Krieg gilt in der Friedensforschung ein bewaffneter Konflikt dann, wenn ein Konflikt pro Jahr mindestens 1.000 Opfer kostet (z.B. SIPRI). Siehe BBC vom 6. Februar 2011, http://www.bbc.co.uk/news/world-middle-east-16902819, und vom 1. Februar, "Impasse at UN Security Council debate on Syria violence`, http://www.bbc.co.uk/news/world-middle-east-16825761



2Zahlen vom September 2011. Quelle: Spiegel-Online vom 12. September 2011, "2600 Menschen starben beim Aufstand gegen Assad` Zu den Flüchtlingen: 5.500 in Jordanien laut http://www.irusa.org/press-releases/islamic-relief-usa-to-assi
st-5500-syrian-refugees-in-jordan/
; 4.000 im Libanon laut http://www.firstpost.com/topic/place/syria-syrian-refugees-str
uggle-in-lebanon-video-LOK7wPotnaM-15-1.html
; 7.500 in der Türkei laut http://www.zakat.org/news_and_multimedia/campaign_news/syria/4
0_foot_container_filled_with_relief_supplies_shipped_to_syrian_refuge/




3Wo nicht anders angegeben, sind Hauptquellen die BBC "Guide: Syria Crisis", http://www.bbc.co.uk/news/world-middle-east-13855203, und Wikipedia, http://de.wikipedia.org/wiki/AufstandIn_Syrien_2011/2012



4Quelle: Wikipedia unter Berufung auf Bassam Tibi: Die Verschwörung. Das Trauma arabischer Politik, Hoffmann und Campe, Hamburg 1993, S. 186-188



5Quelle: Wikipedia, s. oben



6http://www.globalresearch.ca/index.php?context=va&aid=28970



7http://www.focus.de/politik/weitere-meldungen/waffenimport-syr
ienbestellt-36-kampfflugzeuge-in-russland_aid_706057.html




8http://news.bbc.co.uk/2/hi/1971852.stm



9Quellen: Wikipedia, http://de.wikipedia.org/wiki/AufstandIn_Syrien_2011/2012; BBC, http://www.bbc.co.uk/news/world-middle-east-13855203; Erklärung von Alawiten aus Homs von Anfang Februar 2012, http://www.lccsyria.org/category/statements



10Quelle: Website von Adopt a Revolution, http://www.adoptrevolution.org



11http://www.lccsyria.org/, teilweise englischsprachige Website



12http://srgcommission.org/, keine englischsprachige Website



13Khalil Habash: Protecting Syria`s Revolt from Military Intervention http://english.al-akhbar.com/content/protecting-syria%E2%80%99
srevolt-military-intervention
. Der Artikel wurde im Oktober 2011 verfasst; ein genaues Datum der zitierten Erklärung ist nicht angegeben. Übersetzung: CS



14http://www.syriannc.org/. Die bei Google angezeigte englischsprachige Website http://nationalcouncilofsyria.com/ wird von den USA aus betrieben und ist meines Wissens keine Seite des SNC.



15http://mar15.info/2012/01/press-release-snc-political-program/




16Karin Leukefeld: Krieg als Planspiel. Katar will arabische Armeen in Syrien einmarschieren lassen, in: junge Welt, 16. Januar 2012, http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Katar/syrien.html




17http://www.ncsyria.com/ (arabisch)



18http://www.aljazeera.com/video/middleeast/2012/01/201219930125
20680.html.
Der Preis eines Gewehres soll bei 2.000 USD, der von Munition bei 2 USD liegen.



19BBC, s. oben



20Quellen: BBC, "Guide: Syria Crisis", http://www.bbc.co.uk/news/worldmiddle-east-13855203; Wikipedia, http://de.wikipedia.org/wiki/AufstandIn_Syrien_2011/2012



21BBC vom 1. Februar 2012, "Impasse at UN Security Council debate on Syria violence"



22Emile Hokayem: "Revolutionary Road: Dispatches from a changing Middle East", http://www.iiss.org/whats-new/iiss-voices/?blogpost=313



23Quelle: Karin Leukefeld: "Krieg als Planspiel. Katar will arabische Armeen in Syrien einmarschieren lassen`, in: junge Welt, 16. Januar 2012, http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Katar/syrien.html




24Quelle: https://www.adoptrevolution.org/uber-uns/idee/




Dr. Christine Schweitzer, Vorstandsmitglied des Bunds für Soziale Verteidigung und Mitarbeiterin des Instituts für Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung (Stand: 6. Februar 2012)

E-Mail: cschweitzerff (at) aol (Punkt) com
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