USA-Irak


vom:
14.11.2002


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 Hintergrund-Informationen

Quelle: antimilitarismus information (ami), Heft 10/02

Irakkrieg: NATO-Generalprobe CMXO2 gescheitert

Gerhard Piper

Am 31. Januar 2002 begann die NATO-Übung CMXO2. Obwohl das Planspiel ohnehin nur eine Woche dauern sollte, musste es vorzeitig abgebrochen werden, weil sich die NATO-Staaten nicht über ein gemeinsames Vorgehen einigen konnten: Im Verlauf einer Krise kommt es zu einem Bio-Waffen-Unfall in "Amberland" bzw. dem Irak, der auch türkisches NATO-Gebiet in Mitleidenschaft zieht. Die US-Regierung will gleich atomar drauf hauen, dagegen verwehren sich europäische NATO-Staaten. Hintergrund für das Scheitern der Übung ist ein seit Jahren andauernder Konflikt zwischen den USA und mehreren europäischen Allianz-Partnern über Fragen der Strategie, die bei der letzten Reform der NATO-Strategie 1999 nicht gelöst, sondern nur unter den Teppich gekehrt werden konnten.

1. Die Stabsrahmen-Übung. CMXO2

Übungsszenario

Die NATO begann am 31. Januar 2002 ihre diesjährige Stabsrahmen-Übung zum Krisenmanagement: "Crisis Management Exercise 2002" (CMXO2). (1) Die CMX-Übungsserie ist der Nachfolger für die bekannten Wintex/Cimex-Manöver aus den Tagen des Kalten Krieges. Beteiligt waren alle 19 Mitgliedsstaaten der Allianz, die politischen Leitungsgremien und beide obersten militärischen Kommandobehörden SACEUR und SAGLANT. Eigentlich sollte das Planspiel eine Woche dauern. Das Drehbuch war schon lange vor dem 11. September und der gegenwärtigen Irakkrise entwickelt worden, kam -zufälligerweise - nun der Realität aber gefährlich nahe. Es sah folgendes Szenario vor: Die Türkei und "Amberland" stehen kurz vor einem Krieg. Streitobjekt ist ein kleines Stück Land im Südosten der Türkei, das "Midyat Batman" bzw. "Oilia" genannt wird, wo ergiebige Erdölvorkommnisse vermutet werden. Die Namensgebung "Midyat Batman" dürfte nicht ganz zufällig gewählt sein, so heißt tatsächlich eine ölreiche Region an der türkisch-irakischen Grenze. In "Amberland", im Süden der Türkei, ist unschwer der Irak wiederzuerkennen. Das Land besitzt mehrere Scud-Raketen, chemische sowie biologische Waffen und unterstützt den internationalen Terrorismus.

Noch vor dem erwarteten Kriegsbeginn kam es in "Amberland" zu einer Freisetzung biologischer Waffen. Wahrscheinlich handelte es sich um einen Unfall, aber die gefährliche Kampfstoffwolke trieb über die Grenze zur Türkei und gefährdete das Leben der dort aufmarschierten NATO-Soldaten. Außerdem gab es einen Terroranschlag mit biologischen Waffen in den Niederlanden. Im Brüsseler NATO-Hauptquartier und in den Hauptstädten der Mitgliedsstaaten kamen die militärpolitischen Entscheidungsgremien zusammen, um über die Lage zu beraten. Man hatte geheimdienstliche Erkenntnisse, dass die Gegenseite Vorbereitungen für einen Angriff mit Massenvernichtungswaffen traf. Nachdem die Krisenreaktionskräfte der NATO zur Verstärkung in die Türkei verlegt worden waren, lautete nun die Frage an die NATO-Entscheidungsgremien, wie das "Bündnis" reagieren sollte.

Ehekrach in der NATO

Zur Beantwortung dieser Frage gerieten die NATO-Mitgliedsstaaten so sehr in Streit, dass der NATO-Generalsekretär die Übung vorzeitig abbrechen mußte: Die US-Regierung und die Türkei hatten sich für einen Präventivschlag ausgesprochen, um das feindliche ABC-Arsenal zu vernichten. Unklar blieb, ob die US-Regierung nur an einen Angriff mit konventionellen Waffen dachte oder auch einen atomaren Ersteinsatz erwog. Auf dem türkischen Fliegerhorst Incirlik lagern vermutlich 50 US-Wasserstoffbomben B-61, in Balikesir und Murted jeweils 12 weitere Atombomben; hier sind auch die beiden nuklearen Trägergeschwader der türkischen Luftwaffe mit F-16C/D Falcon stationiert. (2) Die Bundesregierung in Berlin war gegen einen Präventivschlag und reklamierte, dass Krisenreaktionseinsätze der NATO gemäß Paragraph 31 der gegenwärtigen NATO-Strategie an das Völkerrecht gebunden sind. Schließlich lag hier kein militärischer Angriff im eigentliche Sinne vor, und es galt zu verhindern, daß ein Unfall außerhalb des NATO-Gebietes den Bündnisfall auslöste. (3) Die französische Regierung wollte die Konfliktregelung an den UN-Sicherheitsrat delegieren, um ein UN-Mandat zu bekommen. Auch die spanische Regierung brachte ihre Kritik gegen eine vorzeitige militärische Eskalation vor. Obwohl alle NATO-Mitgliedsstaaten im Prinzip darin übereinstimmten, daß Artikel 5 des Washingtoner Vertrages zur Anwendung kommen könnte, wurde der Bündnisfall vor Ende der Übung nicht mehr erklärt. Dies hätte auch kaum praktische Relevanz gehabt, da der Artikel 5 die anderen Allianzpartner nicht automatisch zum militärischem Beistand verpflichtet, sondern nur dazu, daß "jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten. (4) Demgegenüber machten die USA und die Türkei klar, dass sie notfalls auch ohne den Beistand der Alliierten militärisch vorgehen würden. (5)

Einen solchen Eklat hatte es bislang bei keiner NATOStabsrahmen-Übung gegeben; nur einmal, bei der Atomkriegsübung Fallex 66, hatten sich die Franzosen von vornherein schlicht geweigert, an dem Planspiel überhaupt teilzunehmen. Im Nachhinein erklärte ein Vertreter der NATO das dramatische Scheitern der CMXO2-Übung wie folgt: "Dieses Spiel war einfach viel zu nahe dran an der Realität. Die dort getroffenen Entscheidungen hätten zum Präzedenzfall für die Wirklichkeit werden können. Aber so tief wollte sich kein Land in die Karten schauen lassen. Nicht bei einer Übung." (6) Außerdem war die Übung zum Kulminationspunkt für den schwelenden Strategiekonflikt im Bündnis geworden.

2. Der Hintergrund: alliierte Strategiediskrepanzen

Transatlantische Dissonanzen

"Das Scheitern der Übung (..) gehört zu den bestgehüteten Geheimnissen der NATO", kommentierte die Berliner Journalistin Bettina Vestring das Manöver, nachdem ihr entsprechende Informationen zugespielt worden waren. Das offizielle Schweigen ist nicht verwunderlich, schließlich traten durch die Übung erneut drei Grundprobleme der NATO offen zu Tage, über die schon 1998/99 bei der Ausarbeitung der neuen NATO-Strategie kein Einvernehmen erzielt werden konnte: (7)



1.Bleibt die NATO im Kern ein europäisches Verteidigungsbündnis oder wird aus ihr eine offensive Militärallianz mit weltweitem Aktionsradius?



2.Darf die NATO nach eigenem Gutdünken Krieg führen, oder ist sie an die Bestimmungen der UN-Charta bzw. ein Mandat des UN-Sicherheitsrates gebunden?



3.Darf die NATO als erste Nuklearwaffen einsetzen, insbesondere gegen einen Staat, der selbst über keine Atomwaffen verfügt?


So waren es keine geringeren als strategische Gründe, die zum Scheitern der NATO-Übung führten. Beim NATO-Gipfel in Washington am 23. April 1999 konnten diese militärpolitischen Diskrepanzen anlässlich der Verabschiedung der NATO-Strategie, die später als MC 400/1 bekannt wurde, noch einmal unter den Teppich gekehrt werden, aber die internen Spannungen haben seitdem noch zugenommen. Auslöser dafür war bereits der Kosovokrieg im März 1999, als die europäischen Mitgliedsländer keinen nennenswerten militärischen Beitrag leisten konnten oder wollten, dies wiederholte sich im Falle des Afghanistan-Krieges im Oktober des vergangenen Jahres und bestätigt sich jetzt erneut beim bevorstehenden Irakkrieg. Dies ist auch die Lehre aus der NATO-Übung zum Krisenmanagement: "CMX 2002 muss bei einigen Bündnismitgliedern die Überzeugung verstärkt haben, dass die NATO nicht das geeignete Instrument ist, um größere, komplexe Militäraktionen durchzuführen," fasste Annalisa Monaco vom Centre for European Security and Disarmament (CESD) in Brüssel die Erfahrung der US-Regierung zusammen.(8) Da zur NATO aber keine Alternative sichtbar ist, bleibt der US-Regierung nur die Möglichkeit zum unilateralen Handeln mit symbolischer Beteiligung ambitionierter Verbündeter wie z.B. den Engländern. Mit dieser Position knüpft die amtierende US-Regierung an längst vergangen geglaubte Positionen der Reagan-Ära an: Im November 1980 hatten die damaligen Regierungsberater William Schneider und General Richard Stilwell eine Studie mit dem Titel "Strategische Führung" veröffentlicht, wonach es auf der Welt kein Gebiet mehr außerhalb des Interessensbereiches der USA gibt, die überall zum unilateralen Eingreifen entschlossen sein müssen. (9)

Für die zunehmende Spaltung zwischen Europäern und Amerikanern gibt es wechselseitige Schuldzuweisungen. Letztere werfen den Europäern vor, sie würden zu wenig Geld für ihre Verteidigung aufwenden. Dieses Argument kann aber für die vertrackte Lage der NATO nicht ausschlaggebend sein, da angesichts einer fehlenden Bedrohungslage die Aufwendungen immer noch mehr als ausreichend sind. Vielmehr sind es die Amerikaner, die angesichts ihres Selbstverständnisses als einzig verbliebener Weltmacht ihren nationalen Interessen und gemäß ihrem überlegenen Militärpotential sich militärpolitisch zunehmend von den Europäern isoliert haben. Denn die US-Regierung spielte die Vorreiterrolle als es darum ging, die NATO in eine Interventionsstreitmacht mit weltweitem Operationsgebiet zu verwandeln. Sie war es, die vorschlug, auf eine Mandatierung durch die UN zu verzichten; und schließlich war sie es, die sich nicht mit der herkömmlichen Nonproliferationpolitik der Europäer zur Eindämmung der Weiterverbreitung von ABC-Waffen begnügen wollte, sondern stattdessen militärische Counterproliferation-Einsätze forderte. Während der deutsche Außenminister Joschka Fischer 1998/99 seinem Vorschlag eines Verzicht auf den atomaren Ersteinsatz nicht durchsetzen konnte (10), wurde im Gegenteil die Funktion der Atomwaffen in der Militärpolitik der NATO noch ausgeweitet. Angesichts dieser militärpolitischen Diskrepanzen diagnostizierte der Kommentator des Springerblattes "Die Welt" schon den "Tod der NATO" und hat als deren Mörder die USA ausgemacht. (11) Auf der anderen Seite des Atlantiks rechnet man auch mit dem Ableben der NATO, macht aber dafür die Europäer verantwortlich. So erklärte der republikanische Senator Richard G. Lugar im Februar 2002: "Falls die NATO nicht dabei hilft, die drängendste Sicherheitsbedrohung für unsere Länder anzugehen (..) wird sie aufhören die wichtigste Allianz zu sein, die sie immer war und zunehmend marginalisiert werden." (12)

Unilaterale Strategieentwicklungen in den USA

Die bereits seit November 1997 in den USA gemäß der Presidential Decision Directive 60 (PDD 60) geltende Position, wonach Nuklearwaffen auch gegen Staaten der sogenannten Dritten Welt eingesetzt werden können, die nur mit biologischen oder chemischen Waffen ausgestattet sind oder zumindest diese anstreben, (13) wurde von der NATO erst im Mai 2000 mit ihrem modifizierten Strategiepapier MC 400/2 übernommen. (14) Im neuen amerikanischen Nudear Policy Review (NPR) vom 8. Januar 2002 stehen neben Rußland und China jetzt auch die "Schurkenstaaten" Libyen, Syrien, der Irak, Iran und Nordkorea auf der US-Zielliste für einen nuklearen Ersteinsatz. (15) Am 29. Januar 2002 folgte Bushs Kongressrede zur Lage der Nation, in der er drei dieser Länder (Irak, Iran und Nordkorea) als "Achse des Bösen" titulierte. (16) Zwei Tage später begann die NATO-Übung CMXO2, und sofort wollte die amerikanische Seite ihre aggressive Militär-politik im "Bündnisrahmen" durchsetzen. Damit war ein Scheitern der Übung vorprogrammiert.

Erstaunlicherweise schien die US-Seite am wenigsten darüber irritiert zu sein, vielmehr setzte sie ihr militärpolitisches Ansinnen zunächst unbeirrt fort. Bereits im März 2002 führte der Vereinigte Generalstab aller US-Streitkräfte in Fort Belvoir eine eigene Stabsrahmen-Übung durch. Beim Planspiel PROMINENT HAMMER II sollte die Kriegsführungs-Fähigkeit der US-Streitkräfte getestet werden. Das Szenario sah vor, dass die USA bei einem Krieg gegen den Irak nicht auf die Unterstützung der arabischen Nachbarstaaten, wohl aber auf die Hilfe der Türkei setzen konnten. Aber auch diese Übung endete für die US-Seite dramatisch. Trotz erheblicher Defizite bei den Munitionsbeständen, den Transportkapazitäten etc. werde man zwar am Ende siegen, aber nur unter großen eigenen Verlusten. Auf Grund der Übungsergebnisse drängten die US-Militärs ihre Regierung, den tatsächlichen Krieg zu verschieben, um Zeit für neue Optionsplanungen zu haben. (17)

Am 1. Juni 2002 erteilte der US-Präsident in seiner Rede an der Offiziersschule in West Pomt den alten Doktrinen der Abschreckung und der Eindämmung eine Absage und verkündete statt dessen seine Bush-Doktrin: "Unsere Sicherheit wird erfordern, dass alle Amerikaner vorwärts schauen und entschlossen sind, um nötigenfalls bereit zu sein für eine präventive Aktion, um unsere Freiheit und unser Leben zu verteidigen." (18) Georg Bush verstieß mit dieser Erklärung klar gegen das geltende Völkerrecht, da die UN-Charta einen Kampfeinsatz nur zur Selbstverteidigung erlaubt. Den Gipfel der gegenwärtigen US-Strategieentwicklung markierte die Verkündigung der neuen National Security Strategy of the USA (NSS) am 20. September 2002: "Die Vereinigten Staaten werden sich kontinuierlich um die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft bemühen, aber wir werden nicht zögern, notfalls allein zu handeln und unser Recht auf Selbstverteidigung wahrzunehmen, indem wir präventiv gegen die Terroristen vorgehen und sie davon abhalten, unserem Volk und unserem Land Schaden zuzufügen. (..) Die Vereinigten Staaten haben sich seit langem die Option präventiver Handlungen offen gehalten, um einer hinreichend großen Bedrohung der nationalen Sicherheit begegnen zu können. Je größer die Bedrohung, desto größer das Risiko, das aus Tatenlosigkeit erwächst - und desto zwingender das Argument für antizipierende Aktionen zur Selbstverteidigung, selbst wenn Unsicherheit darüber besteht, wann und wo der Feind angreifen wird. Die Vereinigten Staaten werden nicht in allen Fällen Gewalt anwenden, um aufkommenden Bedrohungen zuvorzukommen, und Staaten sollten Prävention auch nicht als Vorwand für Aggression benutzen." (19) Schon früher bestand auf Seiten der US-Regierung die prinzipielle Neigung, gegebenfalls als erste zuzuschlagen, aber mit dem gegenwärtigen Strategiewandel wuchs die Bereitschaft, diese Absicht auch in die Praxis umzusetzen, rapide.

Hätte US-Präsident John F. Kennedy während der Kuba-Krise im Oktober 1962 die gleiche Position vertreten, wären die USA schon seit vierzig Jahren nicht mehr existent.

Unter den Europäern ist bisher nur die britische Regierung bereit, die Bush-Position zu übernehmen. Außenminister Jack Straw und Verteidigungsminister Geoff Hoon votierten im Dezember 2001 für Präventivschläge gegen Staaten, die den Terrorismus unterstützen. (20) Den "Schurkenstaaten" drohte Hoon: "Sie können auf alle Fälle davon ausgehen, das wir unter den richtigen Umständen dazu bereit sein werden unsere Nuklearwaffen zu benützen." (21) Die US-Regierung glaubt, sie könne die anderen Europäer irgendwann doch noch auf ihre Seite ziehen. Am 3. Oktober 2002 forderte NATO-Oberbefehlshaber US-General Joseph Ralston erneut, die NATO müsse zu konventionellen oder nuklearen Präventivschlägen bereit sein. (22) Daß mit einer aktiven Beteiligung an der amerikanischen Kriegspolitik die Probleme keinesfalls gelöst sind, machten die Auseinandersetzungen zwischen Briten und Amerikanern über das "richtige" Vorgehen im Afghanistankrieg deutlich. (23)

Unterschiedliche Sprache

Im deutschen Sprachgebrauch unterscheiden die Militärs zwischen "Präventivangriffen" und "Präemptivangriffen".



a)Wenn eine gegnerische Attacke kurz bevorsteht, kann man durch einen "Präventivangriff" militärische Vorteile erringen, indem man den Ort und den Zeitpunkt des Kriegsbeginns selbst bestimmt und das Moment der Überraschung ausnutzt.



b)Wenn der Gegner ein Aufrüstungprogramm betreibt, durch das er langfristig einen militärischen Vorteil gewinnt, könnte man dagegen mittelfristig einen "Präemptivangriff" starten, bevor die eigenen Gewinnaussichten zu einem späteren Zeitpunkt noch kleiner geworden sind. Rein militärisch betrachtet macht es Sinn, zuerst zuzuschlagen, obwohl der Gegner erst in x-Jahren möglicherweise eine ernste Bedrohung darstellt, auch wenn dadurch die Zeitfolge von Ursache und Wirkung verdreht wird. Im amerikanischen Sprachgebrauch wird diese Unterscheidung zwischen präventiv und präemptiv nicht gemacht, hier wird Beides unter dem Begriff "preemptive strikes" subsummiert. Während also im Deutschen unterschieden wird, ob dem Gegner aggressive Absichten unterstellt werden können oder nicht, und ob kurz-, mittel- oder langfristig von einer Bedrohung auszugehen ist, haben solche Differenzierungen für die US-Militärs keinerlei Bedeutung. (24) Wichtig ist nur: Angriff ist die beste Verteidigung! Ausgehend vom Gedanken der "Führbarkeit" eines Krieges, wird das Primat der Politik gegenüber dem Militärischen aufgegeben und statt dessen verdrängt der Kriegswillen jede auf Verständigung bedachte Politik, die von vornherein als aussichtslos denunziert wird. Eine Begründung für einen "preemptive strike" ergibt sich allein schon deshalb, weil jeder Staat nahezu ständig ein Aufrüstungs- oder Modernisierungsprogramm seiner Streitkräfte betreibt. Demgemäß kann jeder Krieg als präventive Invasion ausgelegt werden. Schon 1939 hieß es, von nun an wird "zurück geschossen"! Wenn aber der Eine gegen den Anderen einen Präemptivkrieg beginnen will, und Letzterer Ersterem durch einen Präventivschlag zuvorkommt, dann ...


Kommunikationsstörungen

Für den Spannungsfall haben die NATO-Mitglieder in Artikel 4 des Washingtoner Vertrages vom 4.4.1949 vereinbart: "Die Parteien werden einander konsultieren, wenn nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht sind." (25) Der Nordatlantikrat hatte zwar 1967 bestimmt, dass die Konsultationspflicht nicht für Ereignisse außerhalb des "Bündnisgebietes" bestehe, aber diese Regelung war 1974 durch Wiedereinführung der generellen Konsultationspflicht ersetzt worden. (26) Durch eine Politik der "Verteidigung" mittels unilateraler Präventivschläge wird die geltende Bestimmung ad absurdum geführt. Wenn die europäischen Staaten zukünftig erst im Nachhinein - also quasi ohne Vorwarnzeit - von einer Kriegsentscheidung in Kenntnis gesetzt werden, sind sie militärpolitisch entmündigt. Bundeskanzler Gerhard Schröder äußerte am 5. September 2002 deutlich seinen Missmut über diese Beschneidung der eigenen Souveränität: "Konsultation kann nicht heißen, dass ich zwei Stunden vorher einen Anruf bekomme und gesagt kriege: ,Wir gehen rein!"` (27) Das Problem ist keineswegs neu; schon 1969 musste sich der damalige US-Präsident Richard Nixon beim Besuch des NATO-Hauptquartieres entschuldigen und Besserung geloben: "Ich weiß, es gab Zeichen der Unzufriedenheit in Europa - ein Gefühl, dass die Vereinigten Staaten zu oft auf ihre Partner eingeredet haben, statt mit ihnen zu reden, oder dass sie sie lediglich über Entscheidungen unterrichtet haben, nachdem diese gefallen waren, statt sie vor solchen Entscheidungen zu konsultieren. (..) Was wir brauchen sind echte Konsultationen." (28)

Konsultationspflichten bestehen nicht nur für die Kriegführung im Allgemeinen, sie gelten insbesondere für den Einsatz von Atomwaffen. Bereits am 11.November 1969 vereinbarte die Nuclear Planning Group (NPG) zwei entsprechende Dokumente: die "Vorläufigen Politischen Richtlinien für den möglichen taktischen Einsatz nuklearer Waffen" und die "Allgemeinen Richtlinien für das nukleare Konsultationsverfahren beim Einsatz von nuklearen Waffen zur Verteidigung der NATO". (29) Danach bespricht sich der US-Präsident mit den betroffenen europäischen Alliierten nur dann, wenn - so die amtliche Formel - die Zeit und die Umstände dies erlauben. Die europäischen NATO-Staaten haben nur ein Anhörungs- aber kein Vetorecht, die atomare Befehlsgewalt verbleibt gemäß den amerikanischen Nudear Weapons Release Procedures (NWRP) allein in den Händen des US-Präsidenten. Es würde die NATO einer Zerreißprobe aussetzen, wenn die US-Regierung sich über diese minimalistischen Regeln hinwegsetzen würde. Eine Einzelaktion der USA betrifft schließlich nicht nur diese allein, sondern kann Konsequenzen für die Sicherheit sämtlicher NATO-Staaten nach sich ziehen. Dies gilt nicht zuletzt beim Einsatz von in Europa gelagerten US-Atomwaffen gegen Ziele außerhalb des NATO-Gebietes. Erst allmählich dämmert es den Europäern, dass die USA von einer Schutzmacht zum Risikofaktor werden.

Der bei der Übung ausgefallene Irakkrieg soll nun in der Praxis nachgeholt werden, allein schon wegen dem vermuteten Nuklearwaffenprogramm. Analog zur Übung erfolgt der reale Krieg wahrscheinlich mit Unterstützung der Türkei, aber voraussichtlich ohne die Deutschen, Franzosen oder Spanier. Schon am 28.11.2001 hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder vor den Eskalationsrisiken gewarnt: "Wir sollten sehr zurückhaltend sein bei der Diskussion neuer Ziele im Nahen Osten. Uns könnte mehr um die Ohren fliegen, alsje der von uns zu träumen in der Lage ist." (30) Während sich die Europäer wie üblich mit gegenseitigen Vorhaltungen eines "Anti-Amerikanismus" selbst zerfleischen, sind die europäischen NATO-Partner aus amerikanischer Sicht weltpolitisch und militärisch so überflüssig geworden, dass sich für sie im amerikanischen Sprachgebrauch noch nicht einmal das Wort "Anti-Europism" findet. Immerhin hat der amerikanische Präsident deutlich gemacht, wer nicht für ihn ist, ist gegen ihn. Vielleicht ist das rot-grüne Deutschland ja längst ein "Schurkenstaat", und keiner hat es gemerkt.

Anmerkungen:



(1)Diese Übung darf nicht verwechselt werden mit der gleichnamigen Krisenmanagement-Übung der EU - Crisis Management Exercise (CMEO2) -die vom 22.-28.Mai 2002 im Atlantik stattfand. Siehe: Katja Ridderbusch, Nur am Schreibtisch würde die EU ihre Kriege gewinnen, Welt, 5.6.2002, http://www.welt.de/daten/2002/06/05/0605eu336187.htx?print=1



(2)Martin Butcher u.a., Questians afcammand and Cantral-NATO, NuclearSharing and the NPT, Project an Eurapean NudearNan-Proliferotian (PENN), Research Report 2000.1, i 43f In Murted ist das 4. Geschwader und in Balikesir ist das 9. Geschwader disloziert.



(3)In Artikel 6 des Washingtoner Vertrages wird der Begriff des "Angriffes" nur geografisch definiert: "Im Sinne des Artikels 5 gilt als bewaffneter Angriff auf eine oder mehrere Parteien jeder bewaffnete Angriff auf das Gebiet eines dieser Staaten in Europa oder Nordamerika, auf die algerischen Departements Frankreichs, auf das Gebiet der Türkei oder auf die Gebietshoheit einer der Parteien unterliegenden Inseln im nordatlantischen Gebiet nördlich des Wendekreises des Krebses; auf die Streitkräfte. Schiffe oder Flugzeuge einer der Parteien, wenn sie sich in oder über diesen Gebieten (...) befinden." Siehe: NATO, Washingtoner Vertrag, Washington, 4.4.1949, http://www.uni-kassel.de/fb10/frieden/themen/NATO/NATO-Vertrag.h
tml




(4)NATO, Washingtoner Vertrag, Washington, 4.4.1949, http://www.uni-kassel.de/fb10/frieden/themen/NATO/NATO-Vertrag.h
tml




(5)Annalisa Monaco, NATO Squares off with Middle East Foe, Centre for European Security and Disarmament (CESD), Brüssel, Volume 4, Nr.2, S.1.



(6)Bettina Vestring, Der simulierte Krieg, Berliner Zeitung, 13.9.2002.



(7)Johannes Warwick/ Wichard Woyke, Die Zukunft der NATO - Transatlantische Sicherheit im Wandel, Opladen, 2000, S. 94-96.



(8)Annalisa Monaco, NATO Squares off with Middle East Foe, Centre for European Security and Disarmament, Brüssel, Volume 4, Nr. 2, S. 2.



(9)Frankfurter Rundschau, 15.11.1980.



(10)Reuters, US warnen vor Verzicht auf Atomwaffen-Option, 7.2.1999



(11)Jacques Schuster, Der Tod der NATO, Welt, 2.2.2002, http://www.welt.de/daten/2002/02/0202au311631.htx?print=1



(12)Jürgen Wagner, NPR und US-Nuklearpolitik: Sprengstoff für die NATO? Informationsstelle Militarisierung (IMI), Tübingen, 28.3.2002, http://www.imi-online.de/2002.php3?id=72



(13)Vgl. ami4/1998, S. 34-37.



(14)Martin Butcher u.a., Questions ofcommand and Control - NATO, NuclearSharing and the NPT, Project on European Nuclear Non-Proliferation (PENN), Research Report 2000.1, S. 30ff, Vgl. ami 5/2000, S.22-30.



(15)William Arkin, Nuclear Warfare, Secret Plan Outlines the Unthinkable, Los Angeles Times, 10.3.2002.



(16)Das Dokument ist im Internet verfügbar: http://www.whitehouse.gov/news/releases/2002/0/2OO2012911.html



(17)N.N., Iraq: U.S. Militry Attempts to Sway White House From Invasion, NII, 24.5.2002. Vgl. ami 7-8/2002, S.46-67.



(18)Georg Bush, Text of Bushs Speech at West Point, New York Times, 1.6.2002, http://www.nytimes.com/2002/06/01/international/02PTEX-WEB.html?
tnte-mail0=&pagewanted-print&position=top




(19)The President of the United States, The National SecurityStrategy of the United States ofAmerica, Washington, 20.9.2002. Das Dokument ist im Internet verfügbar: http://www. whitehouse.gov/nsc/nss.pdf. Das Dokument wurde auszugsweise von der HSFK übersetzt. Siehe: http://www.uni-kassel.de/fb10/frieden/regionen/USA/doktrin-lang.
html




(20)Chris Marsden, Anglo-amerikanische Spannungen über Afghanistan und Irak, 19.12.2001, http://www.wsws.org/de/2001/dez2001/blai-d19.shtml



(21)Jürgen Wagner, NPR und US-Nuklearpolitik: Sprengstoff für die NATO? Informationsstelle Militarisierung (IMI), Tübingen, 28.3.2002, http://www.imi-online.de/2002.php3?id=72



(22)Brooks Tigner, NATO`s Ralston Backs Military Right to Strike Out Against Terrorism, Defense News, 3.10.2002.



(23)Chris Marsden, Anglo-amerikanische Spannungen über Afghanistan und Irak, 19.12.2001, http://www.wsws.org/de/2001/dez2001/blai-d19.shtml



(24)In diesem Zusammenhang sei nur am Rande vermerkt, dass das Grundgesetz in Artikel 26 die Vorbereitung eines Angriffskrieges ausdrücklich verbietet, es sei denn, das Bundesverfassungsgericht entscheidet wieder einmal anders.



(25)NATO, Washingtoner Vertrag, Washington, 4.4.1949, http://www.uni-kassel.de/fb10/frieden/themen/NATO/NATO-Vertrag.h
tml




(26)NATO, Erklärung über die Atlantischen Beziehungen, Ottawa, 19.6.1974



(27)N.N., Hände weg, SpiegelOnline, 9.9.2002, http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,213790,00.html



(28)Emil Obermann, Verteidigung, Stuttgart,1970, S. 493



(29)Keesings Archiv der Gegenwart, 5.12.1969, S. 15103



(30)Chris Marsden, Anglo-amerikanische Spannungen über Afghanistan und Irak, 19.12.2001, http://www.wsws.org/de/2001/dez2001/blai-d19.shtml




Gerhard Piper ist Mitglied des Redaktionskollektives der ami.

E-Mail: gerhard.piper@bits.de

Website: www.antimilitarismus-information.de
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