Erstellt: 13.04.1999 nächster Artikel siehe auch: Termine: Aktionen gegen den Krieg | zu: Kosov@: Erklärungen gegen den Krieg Katastrophe im Kosovo Tobias Debiel 10 Anmerkungen zu Massakern, Krieg und Eskalation - Persönliches Diskussionspapier Bonn, den 4. April 1999 Im Kosovo scheint der vielleicht schlimmstmögliche Fall eingetreten zu sein. Die kosovo-albanische Bevölkerung ist schutzlos systematischen Massakern und Vertreibungen seitens serbischer Spezialeinheiten ausgesetzt. Diese Verbrechen waren offensichtlich seit längerem vorbereitet. Zugleich sind die NATO-Luftangriffe nicht in der Lage, dem Morden und Vertreiben Einhalt zu gebieten. Sie haben vielmehr nicht gewollte (wohl aber absehbare) Wirkungen gehabt: Der jugoslawische Präsident Milosevic ist zwar militärisch geschwächt, steht aber politisch stärker denn je da. Dies befähigt ihn, im Kosovo mit einer Brutalität und Konsequenz Verhältnisse zu schaffen, wie es sich viele Beobachter offensichtlich nicht vorstellen konnten. Zudem steht durch die Flüchtlinge und mögliche vereinzelte Übergriffe der Kriegführenden jene Destabilisierung der Nachbarstaaten bevor, die verhindert werden sollte. Der Westen ist beim Entstehen dieser Situation gravierenden politischen und militärischen Fehleinschätzungen erlegen. Dieser nüchterne Sachverhalt wird in der Bundesrepublik Deutschland erst seit kurzem und nur vereinzelt benannt und erkannt. Sowohl die Politik als auch die Öffentlichkeit befanden sich zur Zeit der Verhandlungen von Rambouillet in einer weitgehenden Paralyse, was die ernsthafte Diskussion realistischer Strategien und Eskalationsszenarien anging. In einer solchen Atmosphäre verfestigten sich - wie kundige Beobachter berichten - in den eng verflochtenen Milieus von Regierung/Diplomatie, Medien und Parlament spekulative Einschätzungen mitunter zu scheinbar sicheren Axiomen. Eine derartige Annahme war, Milosevic würde dem militärischen Druck schnell nachgeben. Die angespannte und verzweifelte Lage hat die Fixierung auf eine militärische Eskalationslogik begünstigt, die die Situation definitiv nicht verbessert und andere - ebenfalls schlechte - Handlungsalternativen verstellt hat. Bei diesen Handlungsalternativen gilt es nun anzusetzen. Die innenpolitische Debatte sollte diese Frage vorrangig behandeln. Sie sollte sich dabei nicht auf den Irrweg der gesinnungsethischen Auseinandersetzung begeben: Viele Befürworter wie auch Gegner der Militäreinsätze reagieren mit Allgemeinplätzen und Schlagworten. Das grundsätzliche Für und Wider militärischer Gewalt verstellt den Blick dafür, wie angesichts begrenzter Handlungsoptionen das Schlimmste vermieden und eine Ausweitung des Konflikts verhindert werden kann. Und sie vernachlässigt die bislang unterschätzten Folgewirkungen, die der Kosovo-Konflikt nicht nur in Südosteuropa (einschließlich des türkisch-griechischen Verhältnisses), sondern auch auf Konflikte im Kaukasus und einen möglichen neuen "Kalten Krieg" im Verhältnis zu Rußland haben kann. | |
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Kosov@: Erklärungen gegen den Krieg | Mit den folgenden zehn Anmerkungen möchte ich Punkte benennen, bei denen nach meinem Dafürhalten die bisherige Debatte zu kurz gegriffen hat.
1. Vereinzelte Vorwürfe, die derzeitige Bundesregierung oder auch die NATO als ganzes handelten als Kriegstreiber, sind nicht akzeptabel. Kriegstreiber ist Milosevic. Doch greift auch diese Aussage zu kurz. Sie verkennt Strukturen und Befindlichkeiten der serbischen Politik, die weit über die Person des bisherigen Präsidenten hinausgehen. Und sie vernachlässigt, daß sich die Lage im Kosovo auch durch eine Machtverschiebung unter den Kosovo-Albanern zugespitzt hat. Nicht zuletzt aber verhindert die Rede von der Kriegstreiberei in der bundesdeutschen Diskussion, sich eingehender der Frage zu stellen, ob das Krisenmanagement mit der notwendigen Umsicht betrieben wurde oder aber mehr und mehr einer eigenen Eskalationslogik folgte, die von erheblichen Fehlkalkulationen geprägt war. Es gibt ernstzunehmende Zweifel, daß die Entscheidungsträger sich in dem dominierenden Gefühl, mit den diplomatischen Mitteln am Ende der Fahnenstange angelangt zu sein, einer differenzierten Auseinandersetzung mit der Tragweite militärischer Drohungen und Handlungen in genügendem Maße gestellt haben. Die Rede von der Kriegstreiberei blendet auch die Frage aus, ob Parlament und veröffentlichte Meinung ihrer Korrektiv- und Kontrollfunktion hinreichend gerecht wurden. 2. Ob die jetzige Situation hätte verhindert werden können, läßt sich kaum mit überzeugender Gewißheit beantworten. Das heißt jedoch nicht, dem persönlich sicher aufrichtig gemeinten Bekenntnis, man habe alles getan, unbesehen Glauben zu schenken. In struktureller Sicht gibt es viele Anhaltspunkte, daß mit dem Abschluß des Dayton-Abkommens die Stärkung von Milosevic und die Ausklammerung des Kosovo inkauf genommen wurde, um zu einem schnellen Frieden zu kommen. Ob dieser Konstruktionsfehler zwangsläufig war, müßte nachgewiesen werden. Wichtiger aber noch: Es wurde nur unzureichend daran gearbeitet, ihn zu beseitigen. Auch wurde nicht mit der notwendigen Entschlossenheit daran gearbeitet, allen Staaten der Region eine gemeinsame sozio-ökonomische Entwicklungsperspektive zu eröffnen. Doch sollten diese grundsätzlichen Erwägungen nicht davon ablenken, daß auch im unmittelbaren Eskalationsprozeß der letzten Monate ein fragwürdiger Weg gewählt wurde. So stellt sich die Frage, ob der Westen konsequent die moderaten Kräfte im Kosovo und in Serbien unterstützt und einbezogen hat. Die Stärkung der UCK - sei es durch Waffen aus Albanien, sei es durch Geldsammlungen in Westeuropa und insbesondere Deutschland - hat neben der serbischen Repressionspolitik zweifelsohne zur Demontierung von Rugova beigetragen. Schließlich waren Ausrichtung und Aktionen der UCK ein konfliktverschärfendes Element. Unklar bleibt, warum diese Entwicklung vom Westen hingenommen wurde. Ging man stillschweigend von einem legitimen Selbstverteidigungsrecht der Kosovo-Albaner aus und hielt insofern auch die zwangsläufige Radikalisierung des politischen Klimas für unausweichlich? Oder sah man keine Möglichkeiten der Einflußnahme? Die Frage ist erstaunlicherweise nicht eingehend diskutiert worden. Gleiches gilt für die politischen Vorstellungen der UCK, die für die nicht-albanischen Bevölkerungsgruppen auf dem Balkan wohl kaum annehmbar sind. 3. Den entscheidenden Einschnitt im aktuellen Krisenmanagement bilden die Verhandlungen von Rambouillet und Paris. Die Eskalation der Situation wie auch die Unnachgiebigkeit von Milosevic legte es verständlicherweise nahe, Mediation mit Macht zu betreiben. Doch enthielt das Verhandlungsdesign offenkundig grobe Fehler. Das mögliche politische Ergebnis wurde quasi als Diktat präsentiert; der militärische Part hätte wohl auch von einer moderateren Führung in Belgrad nicht akzeptiert werden können. Vor allem aber wurde nicht berücksichtigt, daß die Um- und Durchsetzung nur zusammen mit Rußland möglich gewesen wäre. Rußland war zwar formell mit im Boot, doch befand es sich nicht mit am Ruder. Der ultimativen Drohung mit Luftschlägen hat es nie zugestimmt. Die Entwürfe für die Vertragstexte wurden offenkundig vornehmlich von einem US-Team ausgearbeitet. Es gibt verschiedene Thesen, hierzu habe es keine ernstzunehmende Alternative gegeben. Angesichts der Ergebnisse von Rambouillet scheint man damit geradezu einer Kapitulation der Politik das Wort reden zu wollen. Auch wenn Zusagen von Milosevic nur wenig Vertrauen erwecken, so hätte doch eine andere Form der Absicherung unter starker Einbindung Rußlands zumindest eine Eskalation erschwert und "Zeit gekauft". Mir erscheint bislang nicht bewiesen, daß dieser Ansatz hinreichend verfolgt wurde. 4. Die Drohung mit Luftschlägen bleibt ohne den massiven Kampfeinsatz von Bodentruppen hohl. Dies wußte Milosevic. Er wird die Schwächung seines Potentials verkraften können. Denn der politische Gewinn ist groß: Die Opposition ist ausgeschaltet, die Bevölkerung steht geeint gegen die NATO-Luftangriffe. Ein Putsch in Montenegro ist durch den Kriegszustand leichter geworden. Und für Massaker, Mord und Vertreibung im Kosovo reicht ihm die Zeit. Die Kosovo-Albaner hingegen setzten Hoffnungen auf die NATO. Diese werden mehr und mehr enttäuscht werden. So wie die Hoffnungen der Kurden im Nordirak am Ende des 2. Golfkrieges enttäuscht wurden. Denn es steht nicht zu erwarten, daß die NATO mit Bodentruppen die Sezession des Kosovo erkämpft. Oder vielleicht doch? Ich vermute: Nein. Die westliche Öffentlichkeit ist dazu wohl nicht bereit. Und die NATO stünde vor einer Zerreißprobe. Italien und Griechenland könnten einen derartigen Schritt innenpolitisch kaum durchhalten. Zudem: Ein großangelegter Kampfeinsatz von Bodentruppen würde - je nach Zielsetzung - schätzungsweise 100.000 bis 200.000 Soldaten erfordern. Eine derartige Mobilisierung wurde nicht vorbereitet. Auch dies wußte Milosevic, der nicht der von vielen Boulevardblättern so betitelte Irre, sondern ein kalter, menschenverachtender Taktiker der Macht ist. Bis ein derartiger Einsatz möglich wäre, könnten die meisten Kosovo-Albaner vertrieben und ermordet sein. Vielleicht aber würde eine massive Intervention nicht einmal auf allzu großen Widerstand stoßen, so wird argumentiert, und könnte zu einer Spaltung des Kosovo und der Unabhängigkeit des Südens ohne den Norden führen. Spekulation sind solche Erwägungen, Spiel mit dem Feuer in einer Region, die einem Pulverfaß gleicht. Denn es gibt auch noch Rußland... 5. ... das unterschätzte Rußland, das im Westen nur noch für eine bestenfalls zweit-, vielleicht sogar nur drittklassige Macht gehalten wird. Der Hochmut gegenüber der wirtschaftlich am Tropf des Westens hängenden, früheren Imperialmacht ist bis in kleinste Gesten spürbar. Einwände, Proteste und Drohungen der russischen Regierung werden als innenpolitisch motiviertes Theater abgetan. Doch daß die Innenpolitik der entscheidende Faktor für das außenpolitische Verhalten sein kann, daß die jetzige Machtkonstellation in Rußland nur ein fragiles Übergangsgebilde darstellt, welches schnell umkippen kann, wird unzureichend in Erwägung gezogen. Ein Angriff von NATO-Bodentruppen auf die Bundesrepublik Jugoslawien wäre eine neue Qualität - eine Qualität, die berechtigte Vorbehalte gegenüber einer übermächtigten NATO, vor allem aber irrationale Ängste vor einer direkten Gefährdung Rußlands wachrufen würden. Historische Vergleiche sind immer nur begrenzt hilfreich. Aber das Szenario des 1. Weltkrieges sollte Mahnung vor unbedachten Schritten sein. Rußland hat Atomwaffen und ein veritables Militärpotential. Man sollte es nicht in eine Situation drängen, in der es glaubt, sich für Serbiens Sicherheit unmittelbar verantwortlich fühlen zu müssen. Die NATO hat sich in eine Eskalationsspirale begeben und erlebt zur Zeit, wie schwer ist, aus ihr herauszukommen. Der Westen sollte nicht vergesen, daß Rußland mit einer Waffenhilfe an Serbien in eine ähnliche Spirale geraten würde. Politische Klugheit heißt, sich nicht auf solche Spiralen einzulassen. Denn sobald man sich in ihnen bewegt, folgt man einer autistischen Entscheidungslogik, bei der die Zwänge sich hochschaukeln und wenig Raum für umsichtiges Handeln lassen. | |
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Kosov@: Erklärungen gegen den Krieg | 6. Die Greueltaten gegen die Kosovo-Albaner geschehen mit unvorstellbarer Brutalität. Das extreme Leid und Elend läßt sich benennen, ohne den Begriff des Völkermords heranzuziehen. Brutalste, machtpolitisch motivierte Kriegshandlungen sind nicht unbedingt mit dem Tatbestand des Genozids gleichzusetzen. Genozid bezeichnet nach der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes vom 9. Dezember 1948 Handlungen, die in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder oder teilweise zu zerstören. Vor den Luftangriffen war der Tatbestand des Völkermords angesichts von vermutlich 2.000 Toten und der Art der Auseinandersetzungen nicht erfüllt. Heute dürfte man sich in einem Grenzbereich bewegen; mir scheint nach wie vor aber die Vertreibung das primäre Ziel der Greueltaten zu sein. In keinem Fall sollte man den Begriff der politischen Instrumentalisierung preisgeben. In Ruanda wurde der Begriff des Völkermordes von den USA selbst im Angesicht überwältigender Hinweise und Hunderttausender von Toten vermieden, um nicht zu einem Eingreifen gezwungen zu sein. Die oftmals nur unzureichend begründete, öffentliche Verwendung des Genozidbegriffs im Falle des Kosovo scheint dem umgekehrten Kalkül - der Legitimation von Militäreinsätzen - geschuldet. Im Völkerrecht sind derart willkürliche Begriffsverwendungen nicht akzeptabel. Doch erscheint der Verweis auf das Völkerrecht in der gegenwärtigen Debatte angesichts des enormen menschlichen Leids und der Brutalität eines Slobodan Milosevic vielen Beobachtern als unpassendes Beharren auf Prinzipien. Eine Denkrichtung, die nur schweren Herzens vom Völkerrecht absieht, betont deshalb den Ausnahmecharakter des Kosovo-Falls. Dies ist offenkundig nicht haltbar. Es gibt, wie wir alle wissen, mehrere Orte der Welt, wo eine kosovo-ähnliche Situation herrscht oder droht. Und im Völkerrecht wird ein Ausnahmefall schnell zum Präzedenzfall. Eine andere Denkrichtung ist schon viel weiter. Sie entwickelt verwickelte Gedankengänge, wie regionale Sicherheitssysteme und Militärbündnisse bei Uneinigkeit unter den ständigen Mitgliedern im Sicherheitsrat sich selbst für den Einsatz von Gewalt mandatieren könnten. Was als "Fortentwicklung des Völkerrechts" etikettiert wird, läuft im Kern aber auf dessen Abwicklung hinaus. Dies ist nicht nur für die Befürworter eines rechtlich fundierten Weltgefüges problematisch. Dem Völkerrecht mit seinem in Art. 2 Ziffer 4 verankerten Gewaltverbot liegt auch die sehr realistische Erkenntnis zugrunde, daß zwischenstaatliche Ordnungsstrukturen nicht leichtfertig dem Einzelfall geopfert werden dürfen. Denn dann droht ein Zerfall internationaler Kooperation und eine mögliche Anarchie der Staatenwelt. 7. Womit wir wieder bei Rußland sind. Frieden auf dem Balkan wird nur in Kooperation mit diesem wichtigen Staat zu haben sein. Diese Erkenntnis gilt noch stärker für den Kaukasus, in dem zur Zeit verschiedenste Konflikte sich nur vorübergehend in einem brüchigen Waffenstillstand befinden. Das derzeitige Verhalten der NATO kann von russischer Seite mit fragwürdigen, aber nicht ganz zu widerlegenden Gründen als Testfall für künftige Interventionen gerade in dieser Region interpretiert werden. Und der Kaukasus ist angesichts der Nachbarstaaten Türkei und Iran wohl noch explosiver als der Balkan. Wenn es Optionen konstruktiver Konfliktbearbeitung gibt, dann müssen diese kooperativ angelegt sein. Die derzeitige Katastrophe im Kosovo kann nicht isoliert gesehen werden. Das Krisenmanagement in einem konkreten Fall darf nicht strategische Rahmenbedingungen gefährden, die die Krisenprävention in anderen Weltregionen unmöglich machen. Völkerrechtliche Grundsätze wie auch die Kooperation mit Rußland gehören zu diesen Grundbedingungen kooperativer Friedenssicherung. 8. Die Frage der Selektivität militärischer Interventionen gewinnt vor dem skizzierten Hintergrund eine Bedeutung, die in der öffentlich geführten Debatte oftmals polemisch verzerrt wird. Kritiker von Militärinterventionen verweisen darauf, daß beispielsweise in Kurdistan und im Sudan vergleichbares oder größeres Unrecht geschehe, ohne daß es auch nur ein ernstzunehmendes diplomatisches Engagement gebe. Die Befürworter von Selektivität militärischer Interventionen werfen Skeptikern dagegen üblicherweise vor, sie ließen konkretes Unrecht mit Verweis auf andere Konfliktherde leichtfertig geschehen. Die beiden Denkrichtungen benennen ein zentrales Spannungsverhältnis: moralische Glaubwürdigkeit einerseits, Fähigkeit zu entschlossenem Handeln andererseits. Die Gefahr ist aber groß, daß Vertreter beider Denkrichtungen in moralische Posen verfallen. Beide Positionen greifen in dieser Form zu kurz. Selektives Eingreifen kann dann angebracht sein, wenn es völkerrechtlich legitimiert ist, hohe Erfolgschancen hat, menschliches Leid nennenswert zu mindern, und die regionale und internationale Stabilität mit guten Gründen nicht zu gefährden droht. Eben diese Faktoren waren bei der ultimativen Drohung mit NATO-Luftschlägen nicht gegeben. Dies ist das entscheidende Moment. 9. Welche weitere Entwicklung steht zu erwarten? Die Lage ist verfahren und schwer abschätzbar. Und eine bereits angedeutete Gefahr in einer derartigen Situation wäre es, zunächst überzeugend klingende Spekulationen vorschnell zur Grundlage des eigenen Handelns zu machen. Zu dem Zeitpunkt, da dieser Text geschrieben wird (4. April 1999), steht zu befürchten, daß Mord und Vertreibung im Kosovo mit enormer Geschwindigkeit voranschreiten werden. Bereits anderthalb Wochen nach Beginn der systematischen Kriegshandlungen ist ein Drittel der Bevölkerung auf der Flucht, namhafte Intellektuelle und politische Führer sind ermordet worden; die Politik in Serbien wird gänzlich gleichgeschaltet; die Nachbarstaaten stehen vor ökonomischen und polititischen Zerreißproben. Diese dramatische Entwicklung wird sich vermutlich zunächst fortsetzen. Die NATO wird mit ihren Luftangriffen das militärische Potential Serbiens weiter schwächen, ohne aber die Lage im Kosovo selbst zum Besseren ändern zu können. Vermutlich wird es einen Punkt geben, an dem Milosevic zu ernsthaften Gesprächen bereit sein wird. Zu Gesprächen, die aus seiner Sicht unter weitaus besseren Bedingungen als die Verhandlungen in Rambouillet stattfinden würden. Deshalb könnte er ein Angebot machen, das vom Westen schwer abzulehnen wäre. Es dürfte weitgehende Autonomierechte enthalten und die Rückkehr von Flüchtlingen ermöglichen. Die Garantien werden fragwürdig sein. Von daher wird eine internationale Absicherung notwendig sein. Ob diese nach dem Krieg in Form eines reinen NATO-Protektorats ausgestaltet sein kann, erscheint zweifelhaft. Eher dürfte eine komplementäre russische Beteiligung und ein multilateraler Rahmen denkbar und wünschenswert sein. Vorstellbar wären vorübergehend eventuell auch militärisch abgesicherte, humanitäre Schutzzonen in den Grenzgebieten zu Mazedonien und Albanien. Sinnvoll wären derartige Schutzzonen aber nur, wenn sie in Abstimmung mit Rußland sowie unter Duldung der serbischen Führung errichtet würden; Voraussetzung müßte ebenfalls sein, daß die Schutzzonen nicht zu den Basislagern der UCK würden - Bedingungen, die nicht leicht zu erfüllen sein dürften. Ein Teil des Kosovo könnte durch derartige Maßnahmen de facto in einen Zustand der Sezession geraten. Daß dieser de jure hergestellt würde, steht hingegen zunächst wohl nicht zu erwarten. In jedem Fall würde es ein äußerst brüchiger Frieden werden. Dieser aber sollte so rasch wie möglich erreicht werden. Denn ansonsten könnte man nur noch über das verhandeln, was bereits mit dem zynischen Begriff des "Waffenstillstands auf dem Friedhof" belegt wurde. 10. Damit es möglichst umgehend zu einer politischen Regelung kommt, muß es eine erneute Vermittlungsinitiative geben. Die Gefahr besteht, daß die NATO aus Furcht, einen Gesichtsverlust zu erleiden und Milosevics Politik nachträglich zu bestätigen, zu einer Kurskorrektur nicht in der Lage ist. Indizien sprechen zudem dafür, daß - in Anlehnung an die Golfkriegsstrategie - die Schwächung des militärisch-strategischen Potentials Jugoslawiens mehr und mehr zu einem eigenständigen Ziel der NATO wird. Eine kritische Öffentlichkeit im Westen müßte sich dem verstärkt widersetzen und eine Kurskorrektur einfordern. Sie befindet sich in dem Zwiespalt, die perspektivlose und eskalationsträchtige Politik der NATO-Bombardierungen ändern zu wollen, ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, Milosevic in die Hände zu spielen. Doch der erwähnte Vorwurf ist nicht nur anmaßend und undurchdacht, sondern schon längst überholt. Es geht ja gerade darum, den Durchmarsch von Milosevic zu verhindern. Dies klar zu benennen, erfordert politischen Mut statt falsch verstandener Loyalität. Griechenland könnte innerhalb der westlichen Allianz einen wichtigen Part übernehmen. Außerdem wären westliche Politik und Öffentlichkeit gut beraten, die - bislang unzureichenden - russischen Initiativen nicht vorschnell abzutun. Die Bundesregierung sollte sich gemeinsam mit anderen europäischen Regierungen nachdrücklich für eine partnerschaftliche Einbeziehung Rußlands in das Krisenmanagement einsetzen. Rußland muß eine konstruktive Rolle einnehmen können und darf nicht durch das Gefühl der Demütigung in eine gegnerische Position gedrängt werden. Schließlich wäre zu begrüßen, wenn sich externe Dritte mit hoher moralischer Autorität zu Wort melden und mögliche Auswege aus der verfahrenen Situation eröffnen würden. Die Bitten des Vatikan und der orthodoxen Kirche, zur Osterzeit einen Waffenstillstand zu vereinbaren, sind vor diesem Hintergrund ein wichtiger Schritt. Die Bemühungen könnten den Keim für eine umfassendere Initiative religiöser Instanzen und hochrangiger Persönlichkeiten bilden. Diese würden sicher keine politischen Verhandlungen führen. Aber sie könnten aufgrund ihrer moralischen Autorität zu einer Atmosphäre beitragen, in der das Schweigen der Waffen und die Wiederaufnahme von Gesprächen möglich würden. Tobias Debiel, M.A., geb. 1963, ist Experte für Krisenprävention und zivile Konfliktbearbeitung. Der Text gibt die persönlichen Ansichten des Autors wieder. Adresse: Tobias Debiel, Dohmstr. 2, 53121 Bonn, Tel. (0228) 616013 E-Mail: sef.debiel@bicc.uni-bonn.de Internet: http://bicc.uni-bonn.de/sef/ | |
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