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13.04.1999


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zu: Kosov@: Erklärungen gegen den Krieg

Katastrophe im Kosovo

Tobias Debiel

10 Anmerkungen zu Massakern, Krieg und Eskalation - Persönliches Diskussionspapier

Bonn, den 4. April 1999

Im Kosovo scheint der vielleicht schlimmstmögliche Fall eingetreten zu sein. Die kosovo-albanische Bevölkerung ist schutzlos systematischen Massakern und Vertreibungen seitens serbischer Spezialeinheiten ausgesetzt. Diese Verbrechen waren offensichtlich seit längerem vorbereitet. Zugleich sind die NATO-Luftangriffe nicht in der Lage, dem Morden und Vertreiben Einhalt zu gebieten. Sie haben vielmehr nicht gewollte (wohl aber absehbare) Wirkungen gehabt: Der jugoslawische Präsident Milosevic ist zwar militärisch geschwächt, steht aber politisch stärker denn je da. Dies befähigt ihn, im Kosovo mit einer Brutalität und Konsequenz Verhältnisse zu schaffen, wie es sich viele Beobachter offensichtlich nicht vorstellen konnten. Zudem steht durch die Flüchtlinge und mögliche vereinzelte Übergriffe der Kriegführenden jene Destabilisierung der Nachbarstaaten bevor, die verhindert werden sollte.

Der Westen ist beim Entstehen dieser Situation gravierenden politischen und militärischen Fehleinschätzungen erlegen. Dieser nüchterne Sachverhalt wird in der Bundesrepublik Deutschland erst seit kurzem und nur vereinzelt benannt und erkannt. Sowohl die Politik als auch die Öffentlichkeit befanden sich zur Zeit der Verhandlungen von Rambouillet in einer weitgehenden Paralyse, was die ernsthafte Diskussion realistischer Strategien und Eskalationsszenarien anging. In einer solchen Atmosphäre verfestigten sich - wie kundige Beobachter berichten - in den eng verflochtenen Milieus von Regierung/Diplomatie, Medien und Parlament spekulative Einschätzungen mitunter zu scheinbar sicheren Axiomen. Eine derartige Annahme war, Milosevic würde dem militärischen Druck schnell nachgeben. Die angespannte und verzweifelte Lage hat die Fixierung auf eine militärische Eskalationslogik begünstigt, die die Situation definitiv nicht verbessert und andere - ebenfalls schlechte - Handlungsalternativen verstellt hat. Bei diesen Handlungsalternativen gilt es nun anzusetzen. Die innenpolitische Debatte sollte diese Frage vorrangig behandeln. Sie sollte sich dabei nicht auf den Irrweg der gesinnungsethischen Auseinandersetzung begeben: Viele Befürworter wie auch Gegner der Militäreinsätze reagieren mit Allgemeinplätzen und Schlagworten. Das grundsätzliche Für und Wider militärischer Gewalt verstellt den Blick dafür, wie angesichts begrenzter Handlungsoptionen das Schlimmste vermieden und eine Ausweitung des Konflikts verhindert werden kann. Und sie vernachlässigt die bislang unterschätzten Folgewirkungen, die der Kosovo-Konflikt nicht nur in Südosteuropa (einschließlich des türkisch-griechischen Verhältnisses), sondern auch auf Konflikte im Kaukasus und einen möglichen neuen "Kalten Krieg" im Verhältnis zu Rußland haben kann.

 zum Anfang


Kosov@: Erklärungen gegen den Krieg
Mit den folgenden zehn Anmerkungen möchte ich Punkte benennen, bei denen nach meinem Dafürhalten die bisherige Debatte zu kurz gegriffen hat.

1. Vereinzelte Vorwürfe, die derzeitige
   Bundesregierung oder auch die NATO als ganzes
   handelten als Kriegstreiber, sind nicht
   akzeptabel. Kriegstreiber ist Milosevic. Doch
   greift auch diese Aussage zu kurz. Sie verkennt
   Strukturen und Befindlichkeiten der serbischen
   Politik, die weit über die Person des bisherigen
   Präsidenten hinausgehen. Und sie vernachlässigt,
   daß sich die Lage im Kosovo auch durch eine
   Machtverschiebung unter den Kosovo-Albanern
   zugespitzt hat. Nicht zuletzt aber verhindert die
   Rede von der Kriegstreiberei in der
   bundesdeutschen Diskussion, sich eingehender der
   Frage zu stellen, ob das Krisenmanagement mit der
   notwendigen Umsicht betrieben wurde oder aber mehr
   und mehr einer eigenen Eskalationslogik folgte,
   die von erheblichen Fehlkalkulationen geprägt war.
   Es gibt ernstzunehmende Zweifel, daß die
   Entscheidungsträger sich in dem dominierenden
   Gefühl, mit den diplomatischen Mitteln am Ende der
   Fahnenstange angelangt zu sein, einer
   differenzierten Auseinandersetzung mit der
   Tragweite militärischer Drohungen und Handlungen
   in genügendem Maße gestellt haben. Die Rede von
   der Kriegstreiberei blendet auch die Frage aus, ob
   Parlament und veröffentlichte Meinung ihrer
   Korrektiv- und Kontrollfunktion hinreichend
   gerecht wurden.

2. Ob die jetzige Situation hätte verhindert werden
   können, läßt sich kaum mit überzeugender
   Gewißheit beantworten. Das heißt jedoch nicht, dem
   persönlich sicher aufrichtig gemeinten Bekenntnis,
   man habe alles getan, unbesehen Glauben zu
   schenken. In struktureller Sicht gibt es viele
   Anhaltspunkte, daß mit dem Abschluß des
   Dayton-Abkommens die Stärkung von Milosevic und
   die Ausklammerung des Kosovo inkauf genommen
   wurde, um zu einem schnellen Frieden zu kommen. Ob
   dieser Konstruktionsfehler zwangsläufig war, müßte
   nachgewiesen werden. Wichtiger aber noch: Es
   wurde nur unzureichend daran gearbeitet, ihn zu
   beseitigen. Auch wurde nicht mit der notwendigen
   Entschlossenheit daran gearbeitet, allen Staaten
   der Region eine gemeinsame sozio-ökonomische
   Entwicklungsperspektive zu eröffnen. Doch sollten
   diese grundsätzlichen Erwägungen nicht davon
   ablenken, daß auch im unmittelbaren
   Eskalationsprozeß der letzten Monate ein
   fragwürdiger Weg gewählt wurde. So stellt sich die
   Frage, ob der Westen konsequent die moderaten
   Kräfte im Kosovo und in Serbien unterstützt und
   einbezogen hat. Die Stärkung der UCK - sei es
   durch Waffen aus Albanien, sei es durch
   Geldsammlungen in Westeuropa und insbesondere
   Deutschland - hat neben der serbischen
   Repressionspolitik zweifelsohne zur Demontierung
   von Rugova beigetragen. Schließlich waren
   Ausrichtung und Aktionen der UCK ein
   konfliktverschärfendes Element. Unklar bleibt,
   warum diese Entwicklung vom Westen hingenommen
   wurde. Ging man stillschweigend von einem
   legitimen Selbstverteidigungsrecht der
   Kosovo-Albaner aus und hielt insofern auch die
   zwangsläufige Radikalisierung des politischen
   Klimas für unausweichlich? Oder sah man keine
   Möglichkeiten der Einflußnahme? Die Frage ist
   erstaunlicherweise nicht eingehend diskutiert
   worden. Gleiches gilt für die politischen
   Vorstellungen der UCK, die für die
   nicht-albanischen Bevölkerungsgruppen auf dem
   Balkan wohl kaum annehmbar sind.

3. Den entscheidenden Einschnitt im aktuellen
   Krisenmanagement bilden die Verhandlungen von
   Rambouillet und Paris. Die Eskalation der
   Situation wie auch die Unnachgiebigkeit von
   Milosevic legte es verständlicherweise nahe,
   Mediation mit Macht zu betreiben. Doch enthielt
   das Verhandlungsdesign offenkundig grobe Fehler.
   Das mögliche politische Ergebnis wurde quasi als
   Diktat präsentiert; der militärische Part hätte
   wohl auch von einer moderateren Führung in Belgrad
   nicht akzeptiert werden können. Vor allem aber
   wurde nicht berücksichtigt, daß die Um- und
   Durchsetzung nur zusammen mit Rußland möglich
   gewesen wäre. Rußland war zwar formell mit im
   Boot, doch befand es sich nicht mit am Ruder. Der
   ultimativen Drohung mit Luftschlägen hat es nie
   zugestimmt. Die Entwürfe für die Vertragstexte
   wurden offenkundig vornehmlich von einem US-Team
   ausgearbeitet. Es gibt verschiedene Thesen, hierzu
   habe es keine ernstzunehmende Alternative gegeben.
   Angesichts der Ergebnisse von Rambouillet scheint
   man damit geradezu einer Kapitulation der Politik
   das Wort reden zu wollen. Auch wenn Zusagen von
   Milosevic nur wenig Vertrauen erwecken, so hätte
   doch eine andere Form der Absicherung unter
   starker Einbindung Rußlands zumindest eine
   Eskalation erschwert und "Zeit gekauft". Mir
   erscheint bislang nicht bewiesen, daß dieser
   Ansatz hinreichend verfolgt wurde.

4. Die Drohung mit Luftschlägen bleibt ohne den
   massiven Kampfeinsatz von Bodentruppen hohl. Dies
   wußte Milosevic. Er wird die Schwächung seines
   Potentials verkraften können. Denn der politische
   Gewinn ist groß: Die Opposition ist ausgeschaltet,
   die Bevölkerung steht geeint gegen die
   NATO-Luftangriffe. Ein Putsch in Montenegro ist
   durch den Kriegszustand leichter geworden. Und für
   Massaker, Mord und Vertreibung im Kosovo reicht
   ihm die Zeit. Die Kosovo-Albaner hingegen setzten
   Hoffnungen auf die NATO. Diese werden mehr und
   mehr enttäuscht werden. So wie die Hoffnungen der
   Kurden im Nordirak am Ende des 2. Golfkrieges
   enttäuscht wurden. Denn es steht nicht zu
   erwarten, daß die NATO mit Bodentruppen die
   Sezession des Kosovo erkämpft. Oder vielleicht
   doch? Ich vermute: Nein. Die westliche
   Öffentlichkeit ist dazu wohl nicht bereit. Und die
   NATO stünde vor einer Zerreißprobe. Italien und
   Griechenland könnten einen derartigen Schritt
   innenpolitisch kaum durchhalten. Zudem: Ein
   großangelegter Kampfeinsatz von Bodentruppen würde
   - je nach Zielsetzung - schätzungsweise 100.000
   bis 200.000 Soldaten erfordern. Eine derartige
   Mobilisierung wurde nicht vorbereitet. Auch dies
   wußte Milosevic, der nicht der von vielen
   Boulevardblättern so betitelte Irre, sondern ein
   kalter, menschenverachtender Taktiker der Macht
   ist. Bis ein derartiger Einsatz möglich wäre,
   könnten die meisten Kosovo-Albaner vertrieben und
   ermordet sein. Vielleicht aber würde eine massive
   Intervention nicht einmal auf allzu großen
   Widerstand stoßen, so wird argumentiert, und
   könnte zu einer Spaltung des Kosovo und der
   Unabhängigkeit des Südens ohne den Norden führen.
   Spekulation sind solche Erwägungen, Spiel mit dem
   Feuer in einer Region, die einem Pulverfaß
   gleicht. Denn es gibt auch noch Rußland...

5. ... das unterschätzte Rußland, das im Westen nur
   noch für eine bestenfalls zweit-, vielleicht sogar
   nur drittklassige Macht gehalten wird. Der Hochmut
   gegenüber der wirtschaftlich am Tropf des Westens
   hängenden, früheren Imperialmacht ist bis in
   kleinste Gesten spürbar. Einwände, Proteste und
   Drohungen der russischen Regierung werden als
   innenpolitisch motiviertes Theater abgetan. Doch
   daß die Innenpolitik der entscheidende Faktor für
   das außenpolitische Verhalten sein kann, daß die
   jetzige Machtkonstellation in Rußland nur ein
   fragiles Übergangsgebilde darstellt, welches
   schnell umkippen kann, wird unzureichend in
   Erwägung gezogen. Ein Angriff von
   NATO-Bodentruppen auf die Bundesrepublik
   Jugoslawien wäre eine neue Qualität - eine
   Qualität, die berechtigte Vorbehalte gegenüber
   einer übermächtigten NATO, vor allem aber
   irrationale Ängste vor einer direkten Gefährdung
   Rußlands wachrufen würden. Historische Vergleiche
   sind immer nur begrenzt hilfreich. Aber das
   Szenario des 1. Weltkrieges sollte Mahnung vor
   unbedachten Schritten sein. Rußland hat Atomwaffen
   und ein veritables Militärpotential. Man sollte es
   nicht in eine Situation drängen, in der es glaubt,
   sich für Serbiens Sicherheit unmittelbar
   verantwortlich fühlen zu müssen. Die NATO hat
   sich in eine Eskalationsspirale begeben und erlebt
   zur Zeit, wie schwer ist, aus ihr herauszukommen.
   Der Westen sollte nicht vergesen, daß Rußland mit
   einer Waffenhilfe an Serbien in eine ähnliche
   Spirale geraten würde. Politische Klugheit heißt,
   sich nicht auf solche Spiralen einzulassen. Denn
   sobald man sich in ihnen bewegt, folgt man einer
   autistischen Entscheidungslogik, bei der die
   Zwänge sich hochschaukeln und wenig Raum für
   umsichtiges Handeln lassen.

 zum Anfang


Kosov@: Erklärungen gegen den Krieg
6. Die Greueltaten gegen die Kosovo-Albaner geschehen
                                                                                                                                                                                                                                                         mit unvorstellbarer Brutalität. Das extreme Leid
                                                                                                                                                                                                                                                         und Elend läßt sich benennen, ohne den Begriff des
                                                                                                                                                                                                                                                         Völkermords heranzuziehen. Brutalste,
                                                                                                                                                                                                                                                         machtpolitisch motivierte Kriegshandlungen sind
                                                                                                                                                                                                                                                         nicht unbedingt mit dem Tatbestand des Genozids
                                                                                                                                                                                                                                                         gleichzusetzen. Genozid bezeichnet nach der
                                                                                                                                                                                                                                                         Konvention über die Verhütung und Bestrafung des
                                                                                                                                                                                                                                                         Völkermordes vom 9. Dezember 1948 Handlungen, die
                                                                                                                                                                                                                                                         in der Absicht begangen werden, eine nationale,
                                                                                                                                                                                                                                                         ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als
                                                                                                                                                                                                                                                         solche ganz oder oder teilweise zu zerstören. Vor
                                                                                                                                                                                                                                                         den Luftangriffen war der Tatbestand des
                                                                                                                                                                                                                                                         Völkermords angesichts von vermutlich 2.000 Toten
                                                                                                                                                                                                                                                         und der Art der Auseinandersetzungen nicht
                                                                                                                                                                                                                                                         erfüllt. Heute dürfte man sich in einem
                                                                                                                                                                                                                                                         Grenzbereich bewegen; mir scheint nach wie vor
                                                                                                                                                                                                                                                         aber die Vertreibung das primäre Ziel der
                                                                                                                                                                                                                                                         Greueltaten zu sein. In keinem Fall sollte man den
                                                                                                                                                                                                                                                         Begriff der politischen Instrumentalisierung
                                                                                                                                                                                                                                                         preisgeben. In Ruanda wurde der Begriff des
                                                                                                                                                                                                                                                         Völkermordes von den USA selbst im Angesicht
                                                                                                                                                                                                                                                         überwältigender Hinweise und Hunderttausender von
                                                                                                                                                                                                                                                         Toten vermieden, um nicht zu einem Eingreifen
                                                                                                                                                                                                                                                         gezwungen zu sein. Die oftmals nur unzureichend
                                                                                                                                                                                                                                                         begründete, öffentliche Verwendung des
                                                                                                                                                                                                                                                         Genozidbegriffs im Falle des Kosovo scheint dem
                                                                                                                                                                                                                                                         umgekehrten Kalkül - der Legitimation von
                                                                                                                                                                                                                                                         Militäreinsätzen - geschuldet. Im Völkerrecht sind
                                                                                                                                                                                                                                                         derart willkürliche Begriffsverwendungen nicht
                                                                                                                                                                                                                                                         akzeptabel. Doch erscheint der Verweis auf das
                                                                                                                                                                                                                                                         Völkerrecht in der gegenwärtigen Debatte
                                                                                                                                                                                                                                                         angesichts des enormen menschlichen Leids und der
                                                                                                                                                                                                                                                         Brutalität eines Slobodan Milosevic vielen
                                                                                                                                                                                                                                                         Beobachtern als unpassendes Beharren auf
                                                                                                                                                                                                                                                         Prinzipien. Eine Denkrichtung, die nur schweren
                                                                                                                                                                                                                                                         Herzens vom Völkerrecht absieht, betont deshalb
                                                                                                                                                                                                                                                         den Ausnahmecharakter des Kosovo-Falls. Dies ist
                                                                                                                                                                                                                                                         offenkundig nicht haltbar. Es gibt, wie wir alle
                                                                                                                                                                                                                                                         wissen, mehrere Orte der Welt, wo eine
                                                                                                                                                                                                                                                         kosovo-ähnliche Situation herrscht oder droht. Und
                                                                                                                                                                                                                                                         im Völkerrecht wird ein Ausnahmefall schnell zum
                                                                                                                                                                                                                                                         Präzedenzfall. Eine andere Denkrichtung ist schon
                                                                                                                                                                                                                                                         viel weiter. Sie entwickelt verwickelte
                                                                                                                                                                                                                                                         Gedankengänge, wie regionale Sicherheitssysteme
                                                                                                                                                                                                                                                         und Militärbündnisse bei Uneinigkeit unter den
                                                                                                                                                                                                                                                         ständigen Mitgliedern im Sicherheitsrat sich
                                                                                                                                                                                                                                                         selbst für den Einsatz von Gewalt mandatieren
                                                                                                                                                                                                                                                         könnten. Was als "Fortentwicklung des
                                                                                                                                                                                                                                                         Völkerrechts" etikettiert wird, läuft im Kern aber
                                                                                                                                                                                                                                                         auf dessen Abwicklung hinaus. Dies ist nicht nur
                                                                                                                                                                                                                                                         für die Befürworter eines rechtlich fundierten
                                                                                                                                                                                                                                                         Weltgefüges problematisch. Dem Völkerrecht mit
                                                                                                                                                                                                                                                         seinem in Art. 2 Ziffer 4 verankerten Gewaltverbot
                                                                                                                                                                                                                                                         liegt auch die sehr realistische Erkenntnis
                                                                                                                                                                                                                                                         zugrunde, daß zwischenstaatliche
                                                                                                                                                                                                                                                         Ordnungsstrukturen nicht leichtfertig dem
                                                                                                                                                                                                                                                         Einzelfall geopfert werden dürfen. Denn dann
                                                                                                                                                                                                                                                         droht ein Zerfall internationaler Kooperation und
                                                                                                                                                                                                                                                         eine mögliche Anarchie der Staatenwelt.

7. Womit wir wieder bei Rußland sind. Frieden auf dem
   Balkan wird nur in Kooperation mit diesem
   wichtigen Staat zu haben sein. Diese Erkenntnis
   gilt noch stärker für den Kaukasus, in dem zur
   Zeit verschiedenste Konflikte sich nur
   vorübergehend in einem brüchigen Waffenstillstand
   befinden. Das derzeitige Verhalten der NATO kann
   von russischer Seite mit fragwürdigen, aber nicht
   ganz zu widerlegenden Gründen als Testfall für
   künftige Interventionen gerade in dieser Region
   interpretiert werden. Und der Kaukasus ist
   angesichts der Nachbarstaaten Türkei und Iran wohl
   noch explosiver als der Balkan. Wenn es Optionen
   konstruktiver Konfliktbearbeitung gibt, dann
   müssen diese kooperativ angelegt sein. Die
   derzeitige Katastrophe im Kosovo kann nicht
   isoliert gesehen werden. Das Krisenmanagement in
   einem konkreten Fall darf nicht strategische
   Rahmenbedingungen gefährden, die die
   Krisenprävention in anderen Weltregionen unmöglich
   machen. Völkerrechtliche Grundsätze wie auch die
   Kooperation mit Rußland gehören zu diesen
   Grundbedingungen kooperativer Friedenssicherung.

8. Die Frage der Selektivität militärischer
   Interventionen gewinnt vor dem skizzierten
   Hintergrund eine Bedeutung, die in der öffentlich
   geführten Debatte oftmals polemisch verzerrt wird.
   Kritiker von Militärinterventionen verweisen
   darauf, daß beispielsweise in Kurdistan und im
   Sudan vergleichbares oder größeres Unrecht
   geschehe, ohne daß es auch nur ein
   ernstzunehmendes diplomatisches Engagement gebe.
   Die Befürworter von Selektivität militärischer
   Interventionen werfen Skeptikern dagegen
   üblicherweise vor, sie ließen konkretes Unrecht
   mit Verweis auf andere Konfliktherde leichtfertig
   geschehen. Die beiden Denkrichtungen benennen ein
   zentrales Spannungsverhältnis: moralische
   Glaubwürdigkeit einerseits, Fähigkeit zu
   entschlossenem Handeln andererseits. Die Gefahr
   ist aber groß, daß Vertreter beider Denkrichtungen
   in moralische Posen verfallen. Beide Positionen
   greifen in dieser Form zu kurz. Selektives
   Eingreifen kann dann angebracht sein, wenn es
   völkerrechtlich legitimiert ist, hohe
   Erfolgschancen hat, menschliches Leid nennenswert
   zu mindern, und die regionale und internationale
   Stabilität mit guten Gründen nicht zu gefährden
   droht. Eben diese Faktoren waren bei der
   ultimativen Drohung mit NATO-Luftschlägen nicht
   gegeben. Dies ist das entscheidende Moment.

9. Welche weitere Entwicklung steht zu erwarten? Die
   Lage ist verfahren und schwer abschätzbar. Und
   eine bereits angedeutete Gefahr in einer
   derartigen Situation wäre es, zunächst
   überzeugend klingende Spekulationen vorschnell zur
   Grundlage des eigenen Handelns zu machen. Zu dem
   Zeitpunkt, da dieser Text geschrieben wird (4.
   April 1999), steht zu befürchten, daß Mord und
   Vertreibung im Kosovo mit enormer Geschwindigkeit
   voranschreiten werden. Bereits anderthalb Wochen
   nach Beginn der systematischen Kriegshandlungen
   ist ein Drittel der Bevölkerung auf der Flucht,
   namhafte Intellektuelle und politische Führer sind
   ermordet worden; die Politik in Serbien wird
   gänzlich gleichgeschaltet; die Nachbarstaaten
   stehen vor ökonomischen und polititischen
   Zerreißproben. Diese dramatische Entwicklung wird
   sich vermutlich zunächst fortsetzen. Die NATO wird
   mit ihren Luftangriffen das militärische
   Potential Serbiens weiter schwächen, ohne aber die
   Lage im Kosovo selbst zum Besseren ändern zu
   können. Vermutlich wird es einen Punkt geben, an
   dem Milosevic zu ernsthaften Gesprächen bereit
   sein wird. Zu Gesprächen, die aus seiner Sicht
   unter weitaus besseren Bedingungen als die
   Verhandlungen in Rambouillet stattfinden würden.
   Deshalb könnte er ein Angebot machen, das vom
   Westen schwer abzulehnen wäre. Es dürfte
   weitgehende Autonomierechte enthalten und die
   Rückkehr von Flüchtlingen ermöglichen. Die
   Garantien werden fragwürdig sein. Von daher wird
   eine internationale Absicherung notwendig sein. Ob
   diese nach dem Krieg in Form eines reinen
   NATO-Protektorats ausgestaltet sein kann,
   erscheint zweifelhaft. Eher dürfte eine
   komplementäre russische Beteiligung und ein
   multilateraler Rahmen denkbar und wünschenswert
   sein. Vorstellbar wären vorübergehend eventuell
   auch militärisch abgesicherte, humanitäre
   Schutzzonen in den Grenzgebieten zu Mazedonien
   und Albanien. Sinnvoll wären derartige Schutzzonen
   aber nur, wenn sie in Abstimmung mit Rußland sowie
   unter Duldung der serbischen Führung errichtet
   würden; Voraussetzung müßte ebenfalls sein, daß
   die Schutzzonen nicht zu den Basislagern der UCK
   würden - Bedingungen, die nicht leicht zu erfüllen
   sein dürften. Ein Teil des Kosovo könnte durch
   derartige Maßnahmen de facto in einen Zustand der
   Sezession geraten. Daß dieser de jure hergestellt
   würde, steht hingegen zunächst wohl nicht zu
   erwarten. In jedem Fall würde es ein äußerst
   brüchiger Frieden werden. Dieser aber sollte so
   rasch wie möglich erreicht werden. Denn ansonsten
   könnte man nur noch über das verhandeln, was
   bereits mit dem zynischen Begriff des
   "Waffenstillstands auf dem Friedhof" belegt wurde.

10. Damit es möglichst umgehend zu einer politischen
    Regelung kommt, muß es eine erneute
    Vermittlungsinitiative geben. Die Gefahr besteht,
    daß die NATO aus Furcht, einen Gesichtsverlust zu
    erleiden und Milosevics Politik nachträglich zu
    bestätigen, zu einer Kurskorrektur nicht in der
    Lage ist. Indizien sprechen zudem dafür, daß - in
    Anlehnung an die Golfkriegsstrategie - die
    Schwächung des militärisch-strategischen
    Potentials Jugoslawiens mehr und mehr zu einem
    eigenständigen Ziel der NATO wird. Eine kritische
    Öffentlichkeit im Westen müßte sich dem verstärkt
    widersetzen und eine Kurskorrektur einfordern. Sie
    befindet sich in dem Zwiespalt, die
    perspektivlose und eskalationsträchtige Politik
    der NATO-Bombardierungen ändern zu wollen, ohne
    sich dem Vorwurf auszusetzen, Milosevic in die
    Hände zu spielen. Doch der erwähnte Vorwurf ist
    nicht nur anmaßend und undurchdacht, sondern schon
    längst überholt. Es geht ja gerade darum, den
    Durchmarsch von Milosevic zu verhindern. Dies klar
    zu benennen, erfordert politischen Mut statt
    falsch verstandener Loyalität. Griechenland könnte
    innerhalb der westlichen Allianz einen wichtigen
    Part übernehmen. Außerdem wären westliche Politik
    und Öffentlichkeit gut beraten, die - bislang
    unzureichenden - russischen Initiativen nicht
    vorschnell abzutun. Die Bundesregierung sollte
    sich gemeinsam mit anderen europäischen
    Regierungen nachdrücklich für eine
    partnerschaftliche Einbeziehung Rußlands in das
    Krisenmanagement einsetzen. Rußland muß eine
    konstruktive Rolle einnehmen können und darf nicht
    durch das Gefühl der Demütigung in eine
    gegnerische Position gedrängt werden. Schließlich
    wäre zu begrüßen, wenn sich externe Dritte mit
    hoher moralischer Autorität zu Wort melden und
    mögliche Auswege aus der verfahrenen Situation
    eröffnen würden. Die Bitten des Vatikan und der
    orthodoxen Kirche, zur Osterzeit einen
    Waffenstillstand zu vereinbaren, sind vor diesem
    Hintergrund ein wichtiger Schritt. Die Bemühungen
    könnten den Keim für eine umfassendere Initiative
    religiöser Instanzen und hochrangiger
    Persönlichkeiten bilden. Diese würden sicher keine
    politischen Verhandlungen führen. Aber sie
    könnten aufgrund ihrer moralischen Autorität zu
    einer Atmosphäre beitragen, in der das Schweigen
    der Waffen und die Wiederaufnahme von Gesprächen
    möglich würden.

Tobias Debiel, M.A., geb. 1963, ist Experte für Krisenprävention und zivile Konfliktbearbeitung. Der Text gibt die persönlichen Ansichten des Autors wieder.

Adresse: Tobias Debiel, Dohmstr. 2, 53121 Bonn, Tel. (0228) 616013




E-Mail:   sef.debiel@bicc.uni-bonn.de
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