Logo Friedenskooperative


Erstellt:
13.05.1998


 nächster
 Artikel

zu: Aktion Jericho - Inhalt

Jericho, Jesus und die Justiz

Hans Peter Hauschild und Klaus Mertes SJ

Die Analogie der biblischen Geschichte von "Jerichos Mauer" samt ihrem "wunderbaren Einsturz" mit der Festung EUropa und unseren Wünschen für deren nahe Zukunft ist wie ein Cartoon zum Einstieg ins Thema. Was die "Aktion Jericho" zum Wan-ken bringen will, wird jedoch erst in zweiter Instanz von Bundesgrenzschutz und Europol gesichert. Zunächst ist diese "Mauer" unsichtbar, hat scharfe Glassplitter obenauf und schafft es immer exakter, "Freund" contra "Feind" säuberlich zu trennen. Über diese Klinge werden Leben und Würde der Nicht-EUro-Bürger heute gesprungen, StraftäterInnen vorweg.

Auch die biblische Jericho-Geschichte erzählt mehr über eine unsichtbare Freund-Feind-Klinge als über historische Mauerfälle. Sie wurde etwa im 8. Jh. v. Chr. erdichtet, als der Staat Israel von der assyrischen Militärmaschinerie existenziell bedroht war. Die assyrische Hegemonie tötete und entwurzelte. Flüchtlinge und Migranten brachten mit ihren Kult(ur)en gesellschaftliche Ordnungen durcheinander. Mit dem Rücken zur Wand versuchten die biblischen Autoren den assyrischen Aggressoren wenigstens per Text etwas entgegenzustellen. Israel fürchtete um seinen Fortbestand, und tatsächlich kam es 587 zur Zerstörung Jerusalems und zum Babylonischen Exil. Zur vermeintlichen Eroberungszeit Jerichos um 1300 v.Chr. jedoch fanden zwar vielleicht kleine Scharmützel zwischen Einheimischen und den Rückkehrern aus Ägypten statt (Exodus), nicht aber Belagerungen hochgerüsteter Städte, von einstürzenden Stadtbefestigungen und anschließenden Blutbädern zu schweigen. Damals lebten Kanaaniter und Hebräer noch kaum unterscheidbar und prinzipiell friedlich im selben Land, teils als nomadisierende Hirten, teils als seßhafte StädterInnen. Die Erfindung eines Mauerfalles und die Rückdatierung einer Eroberung von Jericho sollte der Nation einen Halt in vergangenen Epochen verleihen und eine historische Berechtigung, ihre Identität zu verteidigen. Diese Konstruktion bildet gerade keinen Mauerfall, sondern gleichfalls die Errichtung jener unsichtbaren "Mauer" mit Glassplittern, die "Freund" und "Feind" auseinanderschneidet, scheinbar legitimiert durch Götter oder Parlamentsbeschlüsse. Die Markenzeichen Israels aber sind Exodus und Exil, nicht Eroberungskriege und imperiale Blutbäder à la "Jericho". Die wüstenwandernden Rückkehrer aus Ägypten, die ins babylonische Exil Verschleppten, die Opfer der Judenpogrome zur Konstituierung des "christlichen Abendlandes" und die Opfer des Holocaust in diesem Jahrhundert fordern, daß es nun endlich genug sei mit dem Opfern von Menschen auf dem Altar des Götzen "Nation".

 zum Anfang


Aktion Jericho - Inhalt
Niemand ist heute so zum Menschenopfer für diesen zur EU mutierten Popanz freigegeben, gleichsam zum "Abschuß", d.h. zur bedenkenlosen Abschiebung, wie nicht-westeuropäische StraftäterInnen. Nach verbüßter Haft ist es ohnehin schwer, wieder zurechtzukommen. Folgt jedoch die Trennung von Familie und Freunden oder ein anderer Akt der Zerstörung von Lebensperspektiven, müssen die Betroffenen verzweifeln. Das rechtsstaatliche Urteil, das die Straftat betraf, vervielfacht sich in solchen Biographien und zerstört oft jeden Ansatzpunkt für einen Neuanfang. So wird "Strafe" zu Rache. Einziges Kriterium ist die Staatszugehörigkeit. Nichtdeutsche bzw. Nicht-EU-Straftäter werden zu Vogelfreien, deren Würde mehr als angetastet ist.

Wenn diese Nationalstaatslogik eine Logik der Moderne ist, muß Kirche altmodisch oder nachmodern urteilen, indem sie an der Seite der ausgewiesenen Straftäter steht. Eine akzeptable "Globalisierung" könnte daher nur die Aufweichung der Macht des Götzen "Nation" bedeuten und dürfte nicht als weltweites Alibi-Mäntelchen zur moralischen Tarnung neoliberaler Egoismen der Regionen dienen, wie sie als Abschiebewut zum Ausdruck kommen. Kirche ist immer international und fordert von Jesus Christus her eine geschwisterliche Welt, unabhängig von Bekenntnissen und anderen Zugehörigkeiten, zugleich semper reformanda, d.h. stets kritisch gegen ihre eigene Geschichte. Die Internationalität ist für den Glauben ebenso unverzichtbar, wie der versöhnende Umgang mit schuldig Gewordenen. Für die Ungleichbehandlung von Straftätern wegen ihrer Staatsangehörigkeit hat das Evangelium kein Verständnis.

Die ersten Christen bestanden darauf, daß der Prozeß und das Urteil gegen Jesus ungerecht waren. Hier sei ein Unschuldiger eines Verbrechens angeklagt und zum Tode verurteilt worden. Aber die Empörung gegen Jesus erhob sich in der Logik der Römer und der jüdischen Schriftgelehrten zu Recht (u.a.Mt 5,20). Es gab mehrere Gründe dafür, daß die Menschen bei seinem Anblick vor Wut förmlich platzten (vgl. Lk 4,28), und seine Familie dachte, er habe durchgedreht (vgl. Mk 3,21). Ein Grund für diese Wut - vielleicht der entscheidende - war sein Umgang mit den "Sündern", das heißt sein Umgang mit denen, die sich in den Augen der Öffentlichkeit eines Vergehens gegen Gesetz und Recht schuldig gemacht hatten. Und dieser Umgang machte ihn selbst in den Augen der Gerechten schuldig: Zwei konkurrierende Gerechtigkeitskonzepte.

 zum Anfang


Aktion Jericho - Inhalt
Nun kann es verschiedene Gründe geben, sich mit "Sündern" zu solidarisieren. Einmal kann man sie für unschuldig halten. Man kann auch der Auffassung sein, daß das Recht und das Gesetz, gegen das sie verstoßen haben, eigentlich selbst ein Unrecht und ein Unrechts-Gesetz sind. Aber das alles macht noch nicht die Brisanz dessen aus, was Jesus zum Fallstrick wurde. Jesus anerkannte die Tora, das Gesetz seiner Zeit, als Äußerung des göttlichen Willens an (vgl. Mt 5,17-20); sie war auch für ihn Grundlage des Rechts. Trotzdem oder gerade deswegen interessierte ihn der Fall des "Sünders", der wirklich Sünder war, insofern er gegen eben dieses Recht verstoßen hatte. Auf ihn oder sie konzentrierte er seine Tätigkeit und seine Verkündigung. "Ich bin gekommen, um die Sünder zu berufen, nicht die Gerechten." (Mt 9,13). "Er gibt sich mit Sündern ab und ißt sogar mit ihnen", reagierte die Umwelt voll Empörung (vgl. Lk 15,2). Jesus bestreitet den Gerechten nicht ihre "Gerechtigkeit" im Sinne ihres Zeitgeistes. Aber er stellt der ihren eine größere Gerechtigkeit entgegen.

Zwei Prinzipien hinder(te)n die "Gerechten" daran, sich auf die größere Gerechtigkeit Gottes gegenüber den Sündern einzulassen, die Jesus verkündete und lebte: 1. die Angst vor dem Zusammenbruch des Rechtssystems und 2. die Entmachtung des Leistungsprinzips, denn in dessen Logik haben Sünder eben keine Ansprüche mehr gegenüber der Gesellschaft (vgl. Mt 20,1-6). Wenn es wirklich wahr ist, daß Jesus dafür plädiert, dem Schuldigen nicht (nur) mit Strafe, sondern (vor allem) mit Barmherzigkeit zu begegnen; wenn es wirklich wahr ist, daß Jesus Gott als den Allerbarmer verkündet, dessen Barmherzigkeit bis in die tiefsten Kerker der zu Recht Verurteilten hineinreicht, dann bricht mit ihm das System zusammen, das auf der Unterscheidung zwischen schuldig und unschuldig, Täter und Opfer beruht - denn diese Unterscheidung hätte dann, selbst wenn sie "theoretisch" noch richtig wäre, keine handlungsrelevante Bedeutung mehr, schlimmer noch: sie machte die Täter, die Schuldigen, die Verbrecher, die Bösen zu den auserwählten Adressaten der Liebe Gottes.

Barmherzigkeit gegenüber den Sündern ist daher nicht ein Luxus, den Gott sich leistet, während die Menschen in der Welt die harten Mechanismen der "Gerechtigkeit" exekutieren müssen. Vielmehr wird Gott den Menschen gerade als SünderInnen gerecht. Nur Gott ist gut. Diese Gerechtigkeit hat Vorrang. Das muß auch für die Politik und für das Rechtssystem gelten. Der Sünder steht nicht außerhalb des Rechts - wenn Strafe sein muß, dann nicht so, daß sie den Täter in Verzweiflung stürzt; nicht so, daß sie seine Würde verletzt; nicht so, daß er oder sie als Einzelfall nicht mehr gewürdigt wird; nicht so, daß sie seinen oder ihren Anspruch auf Gerechtigkeit aussetzt; nicht so, daß die Perspektive der Versöhnung von vorneherein verschüttet wird.





 nächster
 Artikel

Einige weitere Texte (per Zufallsauswahl) zum Thema

Bürgerrechte/Innenpolitik:
Innere (Un-) Sicherheit
Der Ruf nach Ordnung
Amnestie 2000
Broschüre zur Wagenburg Ostfildern
Großer Lauschangriff
Wagenburgen: Die Würde des Platzes

Bereich

 Themen 

Die anderen Bereiche dieser Website

              
 Netzwerk FriedensForum   Termine   Ex-Jugo-Hilfe  Aktuelles