Naher Osten, Israel/Palästina

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01.08.2006


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 Archiv: Libanonkrieg 2006

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Israel verstößt gegen das Völkerrecht, und die Hisbollah achtet es erst gar nicht

Prof. Dr. Knut Ipsen

Was bestimmt das Völkerrecht in Bezug auf den neu entflammten Nahostkonflikt? Zu allererst gilt das Recht der UN-Charta. Israel und der Libanon sind als UN-Mitgliedstaaten an die UN-Charta gebunden. Diese verbietet gemäß ihren Grundsatzregelungen jede Gewaltanwendung zwischen ihren 191 Mitgliedstaaten, insbesondere die Anwendung von Waffengewalt gegen die Unversehrtheit des Staatsgebiets und allem, was sich auf ihm befindet.

Wenden nichtstaatliche Verbandseinheiten - gleich, ob Befreiungsorganisationen oder Terrorgruppen - Waffengewalt vom Hoheitsgebiet des einen Staates aus gegen einen anderen Staat an, so ist der Herbergsstaat völkerrechtlich dafür verantwortlich, diese Gewaltanwendung zu unterbinden. Will oder kann er dies nicht, dann wird jene Gewaltanwendung dem Herbergsstaat als Angriffshandlung gegen den angegriffenen Staat zugerechnet. Dies ist das Rechtsverständnis, das die UN-Mitgliedstaaten durchgehend in derartigen Situationen deutlich gemacht haben. Es zeigt sich in der Angriffsdefinition der UN von 1974 wie auch in den nach dem 11. September 2001 gefassten Sicherheitsratsbeschlüssen.

Eindeutige Angriffshandlungen

Die Entführung zweier Soldaten und der fortwährende Raketenbeschuss Israels durch die Hisbollah-Milizen sind also völkerrechtlich eindeutig Angriffshandlungen, die - da sie vom Hoheitsgebiet des Libanon ausgehen und von diesem Staat nicht verhindert werden bzw. nicht verhindert werden können - Israel das Recht geben, auf libanesischem Hoheitsgebiet mit Waffengewalt gegen die Hisbollah im Wege der individuellen Selbstverteidigung vorzugehen.

Israel darf jedoch nur solche Selbstverteidigungsmaßnahmen ergreifen, die erforderlich sind, um die Angriffshandlungen der Hisbollah zu unterbinden. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der UN-Charta, die selbst dem in erster Linie zuständigen Sicherheitsrat äußerstenfalls nur die "erforderlichen" Zwangsmaßnahmen zugesteht. Der Internationale Gerichtshof hat in klarer Übereinstimmung mit diesem Charta-Recht 1996 die Bindung der Selbstverteidigung an die Erforderlichkeit, das heißt an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ausdrücklich bestätigt.

Verhältnismäßigkeit nicht gewahrt

Mit der Zerstörung ziviler Infrastruktur (Flugplatz Beirut, Verkehrswege, Versorgungseinrichtungen, Energiezentralen, etc.) hat Israel den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei der Ausübung seines Selbstverteidigungsrechts verletzt. Ebenso hat Israel seine Pflicht nach der UN-Charta verletzt, Friedenssicherungsmaßnahmen der UN nach besten Kräften zu fördern, indem es einen Stützpunkt der UN-Friedenssicherungstruppen unter Beschuss genommen und dabei vier UN-Blauhelmsoldaten getötet hat.

Völlig unabhängig von diesem Befund liegt aufgrund der Anwendung von Waffengewalt eines Staates gegen das Gebiet eines anderen ein internationaler bewaffneter Konflikt im Sinne des Völkerrechts zwischen Israel und dem Libanon vor, auf den das zwischen diesen beiden Staaten geltende Kriegsvölkerrecht anzuwenden ist.

Beide Staaten sind Vertragsparteien der Haager Landkriegsordnung (HLKO) und damit unzweifelhaft an deren Vorschriften gebunden. Schon nach der Grundvorschrift der HLKO für militärische Aktionen haben die Staaten "kein unbeschränktes Recht in der Wahl der Mittel zur Schädigung des Feindes". In Konkretisierung dieses Grundsatzes ergibt sich - völlig unbestritten - aus der HLKO das Verbot, Angriffshandlungen gegen die Zivilbevölkerung als solche zu richten. Angesichts der bislang berichteten Verlustzahlen unter der libanesischen Zivilbevölkerung ergeben sich zumindest Zweifel, ob sich die israelische Kampfführung, wie von der HLKO geboten, allein gegen militärische Ziele richtet, die mit der Hisbollah in Zusammenhang stehen.

Des weiteren verbietet die HLKO in Begrenzung der Wahl militärischer Schädigungsmittel den Gebrauch von Geschossen, die geeignet sind, unnötig Leiden zu verursachen. Zu solchen Geschossen gehören nach verbreiteter Ansicht auch die von Israel eingesetzten Streubomben, die jedenfalls keineswegs unbestritten völkerrechtlich legale Kampfmittel sind, als die sie von der israelischen Führung gekennzeichnet worden sind. Ausdrücklich verboten ist die Zerstörung nichtmilitärischer Liegenschaften außer in Fällen, wo dies "durch die Erfordernisse des Krieges" geboten ist.

Unverteidigte Städte, Dörfer, Wohnstätten oder Gebäude dürfen überhaupt nicht bombardiert oder beschossen werden, wie die HLKO ausdrücklich festlegt. Nach alledem gibt es bereits in den ersten zwei Wochen der Kampfhandlungen im Libanon konkrete Anzeichen dafür, dass Israel das unzweifelhaft anzuwendende Kriegsvölkerrecht nicht durchgehend in der gebotenen Weise beachtet.

Wer Israels Völkerrechtsverstöße gegen den Libanon feststellt, muss allerdings auch zugleich festhalten, dass der Libanon mit der Hisbollah eine Organisation beherbergt, die sich ausdrücklich außerhalb des Völkerrechts stellt. Die Forderung nach Vernichtung eines anderen Staates mitsamt seiner Bevölkerung, Geiselnahmen mit Erpressung, flächenwirkende Raketenüberfälle auf zivile Wohnstätten: Dies alles sind Aktionen, die, würde ein Staat sie vornehmen, zu schwersten Völkerrechtsverletzungen zählen würden.

Die Hisbollah als nichtstaatliche Organisation führt gegen Israel einen asymmetrischen Krieg, für den das zwischen Staaten geltende Völkerrecht nicht geschaffen worden ist und das hier auch nur über den Umweg zur Anwendung gelangt, der in der Konfrontation zwischen Israel und dem Libanon, dem Herbergsstaat der Hisbollah besteht.



Nahost-Krieg und Völkerrecht

In den Debatten zum Nahost-Konflikt reklamieren alle Seiten das Völkerrecht für sich, benutzen es in ihren Argumenten für und wider die Gegenangriffe Israels nach den Raketenangriffen der Hisbollah auf israelische Städte als moralische Kategorie. Und das, obwohl das Völkerrecht fern moralischer Bewertungen und Parteinahmen als einziges Instrumentarium die Frage von Legitimation und Verhältnismäßigkeit bei Waffenkonflikten klar beantwortet.

Trotzdem musste etwa Entwicklungsministerin Heidi Wieczorek-Zeul Kritik einstecken, nachdem sie als erstes Kabinettsmitglied der Bundesregierung nicht nur das Vorgehen der Hisbollah, sondern auch das Israels als völkerrechtswidrig bezeichnet hatte. Der Zentralrat der Juden in Deutschland forderte sogar ihren Rücktritt.

Fraglos ist für Laien allein schon der nach wie vor verwendete Begriff "Humanitäres Völkerrecht" irreführend. Zum Schutze von Zivilisten, Verwundeten und Gefangenen verpflichtet es zwar Kriegsparteien auf entsprechende Kriegsregeln, akzeptiert dadurch aber Krieg als Konstante.



Quelle: Frankfurter Rundschau, 01.08.06, S. 15



Knut Ipsen, Jahrgang 1935, ist Völkerrechtler. Er war von 1994-2003 Präsident des Deutschen Roten Kreuzes und lehrte an der Universität Bochum. Ipsen ist Mitglied des Ständigen Schiedsgerichtshofes in Den Haag.

Website: www.fr-aktuell.de
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