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Ostermär-
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vom:
28.03.2002


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Rede für den Ostermarsch 2002 in Frankfurt, 1. April 2002

Horst-Eberhard Richter

- Es gilt das gesprochene Wort -

- Sperrfrist: 1. April, Redebeginn (ca. 14 Uhr) -



Liebe Freundinnen und Freunde,

wer sind wir, die wir uns hier zu den Ostermärschen 2002 getroffen haben? Weil wir dagegen protestieren, dass deutsche Soldaten in diesem Krieg mitschießen, heißt es, es fehle uns an Verantwortungsbewusstsein. Außerdem seine wir unsolidarisch, weil wir unserer westlichen Führungsmacht die schuldige Solidarität verweigern wollten. Verantwortungslos und unsolidarisch, gibt es noch etwas Schlimmeres?

Jawohl, sage ich, es gibt noch etwas Schlimmeres! Nämlich sich auf diese moralischen Wertbegriffe zu berufen, aber das Gegenteil davon zu tun. Solidarität und Verantwortung bedeuten für uns in der Friedensbewegung wichtige Verpflichtungen, aber in unverfälschtem Sinn. Und darüber lassen Sie mich einige Worte sagen.

Solidarität heißt Zusammenhalt, heißt Verhinderung oder Aufhebung von Ausgrenzungen. Heißt Unterstützung der Schwächeren. Heißt Abbau von sozialen Ungerechtigkeiten. Solidarität war das Leitthema der Friedenspolitik Willy Brandts und seines Engagements für die armen Länder in der Nord-Süd-Kommission. Lernziel Solidarität hieß ein vielfach raubgedrucktes Buch von mir, vor 30 Jahren, das beschrieb das Engagement einer sozialen Bewegung der jungen Generation, die sich für Menschen in sozialen Brennpunkten, für Flüchtlinge, psychisch Kranke und für die Völker in der Dritten Welt einsetzte.

Das ist der wahre, der umfassende Sinn von Solidarität, der für uns in der Friedensbewegung obenan steht. Aber was uns im Augenblick als Solidarität zur Pflicht erklärt wird, verkehrt den ursprünglichen Wortsinn ins Gegenteil. Wir sollen wieder schon vor Jahrzehnten auf ein gespaltenes Weltbild eingeschworen werden, also nicht etwa nur mithelfen, die Schuldigen an dem Massenverbrechen des 11. September zu verfolgen und zu bestrafen. Sondern wir sollen willfährig in einer Front gegen das Böse mit marschieren, wo immer unsere Führungsmacht dieses ermittelt. Das Rezept lautet, überall in der Welt lauernde gefährliche Bedrohungen mit Gewalt zu ersticken. Aber was sind das für Regionen? Woher droht neuer Terrorismus? Außenminister Powell hat dazu persönlich auf dem kürzlichen Wirtschaftsforum in New York einen maßgeblichen Hinweis gegeben, als er sagte: Armut und Hoffnungslosigkeit seien dem Terrorismus förderlich. Das heißt doch nichts anderes, als dass den entsprechenden kritischen Regionen zuerst Hilfe gegen ihre Armut und Hoffnungslosigkeit gebühre. Im Irak, dem anvisierten nächsten Kriegsgegner, sterben laut UNESCO und Weltgesundheitsorganisation in jedem Monat 4-5.000 Kinder an den Folgen der Sanktionen, was dem Diktator Saddam Hussein dabei hilft, mit Hasspropaganda sein Regime zu stabilisieren. In Nahost war der Terrorkrieg drei Jahre lang fast erloschen, als die Palästinenser aufgrund der Osloer Vereinbarungen auf Rückgabe der besetzten Gebiete und auf baldige Anerkennung als selbständiger Staat hoffen konnten.

Jedenfalls sollten wir uns unseren Leitbegriff Solidarität ebenso wenig stehlen lassen wie unsere Interpretation von Verantwortung. Wenige Meter von hier entfernt in der Paulskirche hat der Philosoph Hans Jonas den Friedenspreis für seine bedeutenden Schriften über Verantwortung in der modernen Welt erhalten. Verantwortung, so sagte Jonas wörtlich, "ist die als Pflicht anerkannte Sorge um anderes Sein, die bei der Bedrohung seiner Verletzlichkeit zur Besorgnis wird."

Aber wo bleibt die Sorge um anderes Sein, wenn die USA und die anderen westlichen Mächte die armen Länder in Schulden von 2.500 Milliarden Dollar ersticken lassen? Wenn sie ihnen durch Zollbarrieren und Subventionen verwehren, gleichberechtigt an den Vorteilen der Globalisierung zu partizipieren? Wo bleibt die Verantwortung dafür den Abwärtstrend der Entwicklungshilfe umzukehren, den selbst der Chef der Weltbank ein Verbrechen nennt? Wo bleibt die Verantwortung, wenn die USA ihren Militäretat in den nächsten Jahren um 120 Milliarden bis auf 451 Milliarden Dollar aufstocken wollen, aber zum Beispiel nur ganze 300 Millionen für die Aids-Bekämpfung in Afrika übrig haben, wo Kofi Annan jährlich 10 Milliarden fordert, um das dortige unvorstellbare Massensterben einzudämmen?

Hier überall geht es um Verantwortung, bzw. um Beseitigung schwerwiegender Unverantwortlichkeit. In Deutschland bekommen wir nun seit der Wiedervereinigung fast pausenlos zu hören, erweiterte deutsche Verantwortung sei vor allem die Pflicht zum Mitschießen in Kriegen. Die Deutschen wieder mit vornean an allen Fronten, das wird als Reifung zu neuer Erwachsenheit gepriesen und ist doch in Wahrheit nur ein Rückfall auf eine pubertäre High-Noon-Mentalität, in welcher das Erschlagen von immer neuen Monstern als heroischer Beweis von männlicher Vollwertigkeit erträumt wird. Aber, liebe Freundinnen und Freunde, deutsche Verantwortung sieht anders aus als gehorsame Unterwerfung unter eine neue Strategie, die mit Krieg immer nur neuen Hass, neue Rache, neue Gegengewalt säht, so wie uns das im Nahost täglich vorgeführt wird.

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Wer einmal in den Worten nachgibt, kapituliert schließlich auch in der Sache, das habe ich von meinem Lehrmeister Sigmund Freund gelernt. Das heißt, wir dürfen uns unser Verständnis von Solidarität und Verantwortung nicht enteignen lassen. Den echten Sinn von Solidarität verwendet mit Recht die neue globalisierungskritische Bewegung, die im Sinne einer gerechteren Weltordnung eine globalisierte Solidarität anstrebt. In dieser Bewegung treffen sich bereits in über 60 Ländern Gruppen mit einem Verantwortungsgefühl, das der Computerwissenschaftler Joseph Weizenbaum einmal benannt hat, als er schrieb, dass jeder von uns sich nur dann als ganze Person und nicht bloß als Figur in einem Drama ansehen könne, das anonyme Mächte geschrieben habe, wenn er so handle, als hänge die Zukunft des Ganzen von ihm ab. Das klingt phantastisch und idealistisch, beschreibt aber für die Menschen in der Friedensbewegung und in der neuen Bewegung attac schlicht ein unmittelbares Bewusstsein davon, dass wir alle auf der Welt aufeinander angewiesen sind.

Als Präsident Bush gerade seine Gedenkrede zur halbjährigen Erinnerung an den 11. September hielt und gerade beendete, intonierte zum Abschluß des Musikcorps der Marine Beethovens Ode: "Alle Menschen werden Brüder." So behielt die hoffnungsvolle Utopie das letzte Wort. Und warum sollte man darin keinen Sinn sehen?

Liebe Freundinnen und Freunde, mich belastet immer noch, dass ich mit 18, 19 Jahren einmal in einem Krieg in Russland auf Feinde schießen musste, die nicht meine Feinde waren und mit denen ich bestimmt gut ausgekommen wäre, hätten wir uns unter normalen Verhältnissen getroffen. In Afghanistan haben die Bomberpiloten das Leben tausender von unschuldigen Zivilisten ausgelöscht. Wie jüngst zu lesen war, haben französische Kampfflieger unlängst verschiedentlich Einsätze aus humanitären Einsätzen verweigert, um die sonst gefährdete Zivilbevölkerung zu schonen. Längst hat der Krieg die Schuldigen am 11. September aus den Augen verloren. Wenn sich Soldaten zu Tötungswerkzeugen in einem Szenario erniedrigt fühlen, das sie zur Unterdrückung ihres Verantwortungssinnes nötigt, dann macht sie die Politik auch an ihnen schuldig. Sie nötigt sie zu einer psychischen Verrohung, die lange nachwirkende traumatische Spuren hinterlässt.

In diesem Augenblick, da neue Feindländer als Ziel für Bomben und Raketenangriffe ausgeguckt werden, ist noch einmal eine Chance da, das Zerstörungswerk zu stoppen. Es ist gewiss nicht schwierig, dem Wählervolk klarzumachen, dass eine Ausweitung des Krieges den Terror nicht ausrotten, sondern ihm nur neue Nahrung geben würde. In Israel/Palästina läuft täglich in kleinerem Maßstab ab, was uns im Großen bevorstehen würde, keine noch so gewaltige militärische Überlegenheit schützt vor selbstmörderischer Rachebereitschaft. Das einzusehen ist nicht schwer. Schwerer scheint aber wohl, den Mut aufzubringen, eine erweiterte deutsche Verantwortung im europäischen Bündnis endlich nicht mehr militärisch, sondern friedenspolitisch sichtbar zu machen. Das ist unsere Forderung. Beweist endlich in Berlin diesen Mut, ehe es definitiv zu spät ist.



E-Mail:   ippnw@ippnw.de
Internet: http://www.ippnw.de
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