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Krieg in Tschet- schenien - Inhalt


vom:
07.10.1999


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Krieg in Tschetschenien:

  Hintergrund-Informationen

Machtspiel und Gewalt - Die Politik des Kreml in Moskau und im Nordkaukasus

Claudia Wagner

Wer dieser Tage die Zeitung aufschlägt und die Berichte über brennende Ölraffinerien in Groznyj und zerbombte tschetschenische Dörfer liest - der fühlt sich um fünf Jahre zurückversetzt: Bomben auf "tschetschenische Banditen", Flüchtlingsströme, der Aufmarsch tausender rußländischer Soldaten an der tschetschenischen Grenze: all dies klingt nach Wiederholung des 1994 begonnenen Tschetschenienkriegs. Aber wiederholt sich Geschichte wirklich?

1994 griff die rußländische Armee die Republik Tschetschenien, die sich von Rußland unabhängig erklärt hatte, an, nachdem der Versuch, ihren Präsidenten Dudaev mit Hilfe der innertschetschenischen Opposition zu stürzen, kläglich gescheitert war. Gegenstand des jahrelang schwelenden Konflikts zwischen Rußland und Tschetschenien war die Statusfrage der Republik: Unabhängigkeit vs. territoriale Integrität Rußlands, die Positionen waren festgefahren. Der eineinhalb Jahre dauernde Krieg trug nicht zu einer Lösung bei. Der am 31.8.1996 ausgehandelte Waffenstillstand ließ die heikle Statusfrage bewußt offen.

1999 ist es eine Eskalation der Ereignisse, die zunächst Ratlosigkeit auslöst: Stehen wir vor einer Neuauflage des nie gelösten Tschetschenienkonflikts oder ist dies ein absurdes Spiel des Kremls, um von den eigenen Ränkespielen der Macht abzulenken?

Zu trennen sind drei Ereignisse, die sich zum Teil zeitlich überschneiden: die Kämpfe in Dagestan, die Terroranschläge auf Wohnhäuser in Moskau und anderen Städten sowie schließlich die Bombardements Tschetscheniens, die sich inzwischen zu einem Krieg ausweiten.

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Am 2.8.1999 dringt eine Gruppe bewaffneter Kämpfer nach Dagestan ein. Ziel der von den bekannten tschetschenischen Feldkommandeuren Basaev und Chatab geführten Gruppen ist die Errichtung eines "islamischen" Staates Dagestan. Zu vermuten ist, daß die tschetschenischen Feldkommandeure langfristig die Bildung eines vereinigten tschetschenisch-dagestanischen Staates im Sinn haben. Rußländische Truppen schlagen die Eindringlinge zurück. Am 22.8.1999 ziehen sich die Kämpfer zurück. Während die Kämpfe andauern, wird in Moskau Premierminister Stepaschin entlassen, Putin wird zu seinem Nachfolger ernannt. Er tritt an mit dem Versprechen, die Kämpfe in Dagestan innerhalb von zwei Wochen unter Kontrolle zu bekommen. Schon am 23.8.1999, als die Kämpfer zunächst vertrieben sind, beginnt die rußländische Luftwaffe, Angriffe auf tschetschenische Ziele nahe der Grenze zu Dagestan zu fliegen in der erklärten Absicht, die terroristischen Basislager zu zerstören.

Am 9.9. und 13.9.1999 explodieren in Moskau zwei Wohnhäuser, insgesamt gibt es über 300 Tote. Auch in der dagestanischen Stadt Buinaksk und in Volgodonsk finden Terroranschläge auf Wohnhäuser statt. Zeitgleich setzen in Dagestan wieder Kämpfe ein, die Kämpfer werden erst am 15.9.1999 vertrieben. In Moskau beginnt ein Kesseltreiben bei der Suche nach Schuldigen. Der Moskauer Bürgermeister Luschkow und Premier Putin ziehen sofort die Verbindung zwischen den Kämpfen in Dagestan und den Terroranschlägen: Hinter beiden steckten tschetschenische Terroristen. Die Konsequenz Luschkows aus dieser Überzeugung ist, tschetschenische Bürger in so großer Zahl festzunehmen und aus Moskau auszuweisen, daß man sich an ethnische Säuberungen erinnert fühlt. Andere Stimmen vermuten den rußländischen Geheimdienst oder den Finanzmagnaten Boris Berezovskij hinter den Ereignissen: Sie seien angezettelt worden, um einen Vorwand zu haben, den Ausnahmezustand zu erklären und die Wahlen zu verschieben.

Seit dem 23.9.1999 fliegt die rußländische Luftwaffe regelmäßig Angriffe auf Tschetscheniens Hauptstadt Groznyj, inzwischen sind Bodentruppen in die Republik eingerückt. Ziel ist es angeblich, eine "Sicherheitszone" in Tschetschenien zu errichten und "terroristische Gruppierungen" zu bekämpfen. Statt "Terroristen zu vernichten" treffen die Angriffe allerdings vor allem Zivilisten, Angaben über die Zahl der Toten schwanken zwischen 400 und 600.

Ein tschetschenisch-rußländischer Konflikt?
Während Rußlands Streitkräfte 1994 die Regierungstruppen des damaligen tschetschenischen Präsidenten Dudaev direkt angriffen - letztere allerdings damals auch als "bewaffnete Banditen" bezeichnet wurden - ist die Stoßrichtung der Angriffe 1999 verworren. Der tschetschenische Präsident Maschadov versichert glaubhaft, mit den Kämpfen in Dagestan nichts zu tun zu haben, geschweige denn mit den Anschlägen auf die Moskauer Wohnhäuser. Wer sie verantwortet und ob Tschetschenen daran beteiligt waren, ist bis heute völlig unklar. Es gibt also keinen aktuellen Konflikt zwischen Moskau und dem offiziellen Tschetschenien. Stattdessen richtet sich die Moskauer Aggression gegen Terroristen tschetschenischer Herkunft - Basaev und die mutmaßlichen Bombenleger -, die nicht unter der Kontrolle der tschetschenischen Regierung stehen. Daß es ein menschenverachtendes Vorgehen ist, die ganze Republik Tschetschenien unter Beschuß zu nehmen, um ihrer habhaft zu werden, dürfte auch der Moskauer Führung klar sein.

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Bevorstehende Wahlen in Rußland
Ein Motiv, den Tschetschenienkrieg 1994 zu initiieren, war der Versuch, Jelzins Popularität zu steigern. Laut Umfragen hatte das Bedürfnis der Bevölkerung nach Sicherheit und Ordnung, nach einer "starken Führung" seit 1991 stets zugenommen. Ein "kurzer siegreicher Krieg" in Tschetschenien hätte diesem Bedürfnis, in der abtrünnigen Republik Ordnung zu schaffen, Rechnung getragen. Jelzins Kalkül ging damals nicht auf: Nach anderthalb Jahren eines grausamen und verlustreichen Krieges mußte 1996 rasch ein Waffenstillstand her, um eine Wiederwahl Jelzins zu ermöglichen, da etwa 75% der rußländischen Bürger gegen den Krieg waren.

Im Jahr 2000 finden erneut Präsidentschaftswahlen in Rußland statt, im Dezember 1999 Parlamentswahlen. Diesmal geht es nicht um Jelzins Wiederwahl, sondern um seinen Nachfolger. Wird ein Jelzin wenig wohlgesonnener Kandidat gewählt, ist Jelzin auch vor einer Anklage etwa wegen persönlicher Bereicherung während seiner Amtszeit nicht sicher. Jelzin ist deshalb ein Interesse zu unterstellen, einen ihm gegenüber loyalen Kandidaten günstig zu positionieren. Vladimir Putins Popularität ist durch seine scharfen Äußerungen über die Absicht, die "tschetschenischen Banditen alle zu vernichten", kontinuierlich gestiegen. Die Bombenanschläge in ihrer Stadt haben die Moskauer Bürger zweifellos erschüttert. Geradezu schamlos erscheint aber die Reaktion der Politiker, dieses Entsetzen gezielt für die Zwecke ihres Wahlkampfs zu instrumentalisieren. Moskaus Bürgermeister Luschkow hat durch massenhafte Verhaftungen von "Personen kaukasischer Nationalität" und deren tausendfacher Ausweisung aus Moskau der anti-tschetschenischen Haltung der meisten Russen Vorschub geleistet und eine pogromartige Stimmung geschürt. Luschkow gilt als einer der aussichtsreichen Kandidaten für das Präsidentenamt. Es dürfte kaum ein Zufall sein, daß sich derzeit kein Parteiführer in Moskau gegen die Vergeltungsaktion gegen Tschetschenien ausspricht. Auch Grigorij Javlinskij, 1994-1996 einer der konsequentesten Gegner des Krieges, beschränkte sich vor wenigen Tagen noch darauf, vor dem Einsatz von Bodentruppen zu warnen, da dies rußländische Soldaten gefährden würde. Zu vermuten bleibt, daß die öffentliche Meinung kurz vor den Präsidentschaftswahlen ein Faktor sein wird, der über die Frage von Krieg und Frieden im Nordkaukasus mitentscheidet.

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Zudem nutzt die rußländische Führung möglicherweise die Gelegenheit, um mit dem tschetschenischen Problem ein für allemal aufzuräumen und die Republik Tschetschenien wieder unter Moskauer Kontrolle zu stellen. Diesmal sollen Fehler, die 1994 einen militärischen Sieg verhinderten, vermieden werden. Dann hätte auch der mühselige Verhandlungsprozeß über die Statusfrage der Republik ein Ende. Ein Beleg für diese Absicht ist die Tatsache, daß die rußländische Regierung seit dem 1.10.1999 die Legitimität der gewählten Regierung Tschetscheniens nicht länger anerkennt.

Ein sich immer wiederholendes Muster im rußländisch-tschetschenischen Konflikt ist, daß die Moskauer Führung den Konflikt instrumentalisiert, um eigene Interessen zu verfolgen: sei es, um von unangenehmen Korruptionsvorwürfen abzulenken oder die Popularität von Führungsfiguren durch einen Gewalteinsatz zu steigern. Dabei rückt der eigentliche Konfliktgegenstand, die Frage nach dem Status Tschetscheniens, völlig in den Hintergrund. Versuche, sie konstruktiv und gewaltfrei zu lösen, finden fernab vom politischen Rampenlicht statt und haben offensichtlich keinen langen Atem. Opfer dieser Politik aber wird nun schon zum zweiten Mal die tschetschenische Zivilbevölkerung. Ihr bleibt im Moment als einzige Handlungsoption die Flucht vor den Bomben ohne die Aussicht, in absehbarer Zeit in Frieden in Tschetschenien leben zu können.

Zur Autorin: Claudia Wagner ist seit Mai 1999 am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES) beschäftigt und bearbeitet ein Projekt zur zivilen Konfliktbearbeitung ethnopolitischer Konflikte in der GUS. Ihre Magisterarbeit schrieb sie über die Ursachen des Tschetschenienkriegs 1994-1996



E-Mail:  Claudia.Wagner@mzes.uni-mannheim.de
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