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Krieg in Tschetschenien - Inhalt


vom:
01.12.1999

Krieg in Tschetschenien:

  Echo/Presse

Der Kaukasus im Krieg

Wer stoppt die Brandstifter?

Sonia Mikich

Brennender Kaukasus - ein Land soll zerstört erden. Es ist viel näher an Europa als Osttimor. Und die Verwüstungen sind schlimmer als alles, was Sarajewo oder Pristina je erdulden mußten. Über 200.000 Bewohner der kleinen Kaukasusrepublik Tschetschenien sind geflüchtet, ihre Häuser brennen, ihre Felder werden vermint, ihr Hab und Gut wird von plündernden rnssischen Soldaten gestohlen. Vor ein paar Monaten hätte man so etwas "humanitäre Katastrophe" genannt. Aber es ist nicht Mode, nicht profitabel, nicht image-fördernd, sich für dieses Kaukasusvolk einzusetzen. Zu gerne haben Politiker und Öffentlichkeit im Westen die rnssische Propaganda-Lüge geschluckt, es handele sich nicht um einen Vernichtungsfeldzug, sondern um eine Aktion gegen Terroristen. Zu flott haben sie genickt, wenn der Kreml vor der islamischen Osama-Bin-Laden-Verschwörnug warnte.

Die Heuchelei im Westen ist perfekt. Ein paar Ermahnungen, ein paar Sorgenfalten - mehr nicht. Dabei finanzieren wir auch diesen zweiten Kaukasuskrieg wieder indirekt mit. Der russische Staat könnte sich die Millionen für den Verteidigungshaushalt ohne die stabilisierenden Geldspritzen aus dem Westen nicht leisten. Längst dürften Kredite an Rußland nicht mehr fließen und die Mitgliedschaft Moskaus in internationalen Strukturen wie OSZE, Partnerschaft für den Frieden und Europarat müßte infrage gestellt werden.

Die neue "ethische Außenpolitik" ausgerechnet der sozialdemokratischen und Neue-Mitte-Regierungen in Europa und den USA - sie unterscheidet nach Opfern "erster" und "zweiter" Masse. Das erste Standardargument lautet: "Wir mußten anfangen, uns einzumischen" - siehe Kosovo. Das zweite lautet: "Wir können uns nicht überall einmischen" - siehe Tschetschenien. Zwei Haltungen und kein Rückgrat. Rußlands "innere Angelegenheiten" sind tabu. Von der neuen "ethischen Außenpolitik" bleibt so nur altbekannter politischer Opportunismus übrig. Milosevic hatte eben keine Atombomben.

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Was Boris Jelzin von dem Rachefeldzug seiner Militärs und Geheimdiensiler weiß, ist nicht bekannt. Ob er wie eine Marionette nur die Realpolitik des Ex-Geheimdienstlers Putin nachvollzieht oder sie als Machtkonsolidierung seines Thronprinzen billigt, ist schwer auszumachen. Zu sprunghaft sind seine Taktiken gegenüber dem unruhigen südlichen Rand der Föderation. Nach dem ersten Krieg (1994-96), der nach außen und innen ein Debakel für Rußland war, gab der Kreml-Herrscher zu, den schlimmsten politischen Fehler seiner Amtszeit verantwortet zu haben. Einsicht schien möglich. Frieden schien möglich. Rußland verweigerte dann aber dem Land Wiederaufbauhilfe und isolierte den gemäßigten und demokratisch gewählten Präsidenten Aslan Maschadow. Tschetschenien versank in ein krminelles Chaos. Fabriken, Straßen, Schulen waren zerbombt. Nichts konnte im Land hergestellt werden. Die einzigen Einnahmequellen waren Schwarzhandel mit Schmuggelgut, Öldiebstahl aus angezapften Pipelines und Erpressungen.

Es war ein moralisches Verbrechen, einem ganzen Volk die Existenzgrundlage zu verweigern. Was aktuell in Tschetschenien passiert, ist zu definieren als "ethnische Säuberung", Massenmord an Unschuldigen, systematische Verwüstung und Zwangsumsiedlung. Hinzu kommen schwere Menschenrechtsverletzungen in Rußland selbst. Tschetschenen oder andere Kaukasusbewohner werden willkürlich verhaftet, insbesondere junge Männer. Wer kann, meidet die Straße, hat immer Bestechungsgeld dabei und näht sich die Taschen an der Kleidung zu, damit russische Polizisten kein Rauschgift unterschieben können. Illegale Verhaftungen sind an der Tagesordnung, Verwandte müssen viel Geld zahlen, um Festgenommene freizukaufen. Viele Gefangene werden mißhandelt und ohne Rechtsgrundlage abgeschoben. Die ersten Fälle von "Verschwundenen" werden bekannt. Es bleibt zu hoffen, daß Juristen und Menschenrechtler die offensichtlichen Parallelen zu Pinochet beziehungsweise Milosevic finden und nach den Verantwortlichen ganz oben in der russischen Befehlskette suchen. Werden zur Zeit in Den Haag Dossiers gegen Präsident Jelzin, Ministerpräsident Putin und Verteidigungsinmister Sergejew angelegt?

Es ist zu bezweifeln, daß Boris Jelzin seine Generalität noch kontrolliert. In Moskau, so fürchten die wenigen übriggebliebenen Liberalen und Zweifler, findet in diesen Wochen ein kalter Militärputsch statt. Nie zuvor hat sich die Armee so offen gegen die Zivilisten in Kreml und Parlament gestellt. Und die Meinungsfreiheit hat sich ebenfalls verabschiedet: Wer gegen diesen mörderischen Feldzug argumentiert, wird als Terroristenfreund gebrandmarkt.

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Ein ganzes Volk wird ins Elend, in eine mörderische Hoffnungslosigkeit geschickt.

Die Drahtzieher sitzen in Moskau. Jelzin, Putin und Sergejew züchten die Taliban des Kaukasus heran. Denn eines ist klar: Bis zum Ausbruch dieses Krieges waren die wenigen fundamentalistischen Gruppen in Tschetschenien Randerscheinungen - aus Afghanistan, Saudi-Arabien und Jordanien importierte Eiferer. Die tschetschenischen Freiheitskämpfer des ersten Krieges waren nationalistisch, nicht religiös motiviert, denn der Islam war nur oberflächlich in der Bevölkerung verankert. Nun werden die Radikalen Zulauf erhalten, die anti-russische Front wird weit über Tschetschenien hinaus wachsen und sich gefährlich einen mit religiösen Fanatikern. Wehe auch uns im Westen, wenn todesbereite Mudschaheddin sich zivile Ziele, etwa Atomkraftwerke, vornehmen.

Rußland hat offensichtlich nicht verstanden, daß Haß, Mord und Plünderei nicht geeignet sind, Stabilität zu schaffen. Es hat keine Strategie, keine Vision, wie es mit Tschetschenien im (unwahrscheinlichen) Fall einer dauerhaften militärischen Unterwerfung der Rebellen weitergehen soll. Eine Ausdehnung des Krieges auf den gesamten Kaukasus steht bevor. Aber Georgien, Armenien und Aserbeidschan haben eine bessere Interessens-Lobby im Westen - allein schon wegen der Ölgeschäfte in der Region. Wenn wir im Westen weiter nur Realpolitik betreiben, bescheren wir uns ein Afghanistan vor der Haustür.

Aus ai-Journal 12/99, Seite 18


Sonia Mikich war von 1992 bis 1998 ARD-Korrespondentin in Moskau und berichtete auch vom ersten Tschetschenien Krieges. Heute ist sie Studioleiterin des ARD-Büros in Paris.

E-Mail:  ai-de@amnesty.de
Internet: http://www.amnesty.de
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