Netzwerk Friedenskooperative



Krieg in Tschet- schenien - Inhalt


vom:
08.12.1999

Krieg in Tschetschenien:

  Echo/Presse

Moskauer Armee-Experte Felgenhauer über Tschetschienien, die Angst der Russen und Strategien, die keine sind

"Militärisch macht dieser Krieg keinerlei Sinn"

FR 8.12.99

Pawel Felgenhauer (48) ist einer der renommiertesten russischen Militärspezialisten. Von 1991 bis 1993 schrieb er für die Tageszeitung Nesawissirnaja Gaseta, 1993 wurde er Militärkorrespondent der Tageszeitung Segodnja. Nachdem die Zeitung seine kritischen Artikel zum zweiten Tschetschenienkrieg nicht veröffentlichte, reichte Felgenhauer seinen Abschied ein. Mit Felgenhauer sprach FR-Korrespondent Florian Hassel.


Frankfurter Rundschau: Pawel Jewgenjewitsch, der Krieg dauert bereits zwei Monate, sogar vier, wenn man seit Beginn der Kämpfe im benachbarten Dagestan rechnet. Wie beurteilen Sie den Kriegsverlauf?

Felgenhauer: Unsere Militärs versichern täglich, dass der Krieg erfolgreich ist und sie von Sieg zu Sieg eilen. Tatsächlich hat die Armee mehr als 2000 Mann verloren und nicht einen ernsthaften militärischen Erfolg errungen.

Frankfurter Rundschau: Wie das? Die Armee hat doch den Norden Tschetscheniens erobert und jetzt die Hauptstadt Grosny eingeschlossen.

Felgenhauer: Die einfache Eroberung von Territorium ist nie das Ziel eines Krieges, schon gar nicht eines Krieges gegen Partisanen. Jemehr Städte und Dörfer die russische Armee erobert, desto schwächer wird sie: Immer mehr Soldaten müssen statt zu kämpfen ein ihnen feindliches Gebiet kontrollieren. Die Eroberung von Gudermes, Argun, letztlich selbst von Grosny schwächt die Tschetschenen nicht wirklich. Für sie sind ihre Städte lediglich der Kampfschauplatz, von dem sie sich schnell zurückziehen und an anderer Stelle wieder auftauchen.

  zum Anfang


Krieg in Tschet- schenien - Inhalt
Frankfurter Rundschau: Welches Ziel verfolgt Moskau mit dem am Samstag ablaufenden Ultimatum an alle Einwohner Grosnys?

Felgenhauer: Das Militär wird Grosny zur feuerfreien Zone erklären und sehr viel ernsthaftere Waffen einsetzen. Militärisch ist es sinnlos, über Grosny einfache Bomben abzuwerfen. Grosny ist, wie alle sowjetischen Städte, für den Fall eines Atomkrieges mit den USA gebaut worden. Viele Häuser haben Betonbunker, fast alle öffentlichen Gebäude Atomschutzbunker. Es gibt ein unterirdisches Kommunikationsnetz.

Frankfurter Rundschau: Wie sehen die "ernsthafteren" Waffen aus?

Felgenhauer: Da sind zunächst betonbrechende Bomben. Sie durchschlagen mehrere Etagen und zerstören auch noch meterdicke Bunkerwände. Dann gibt es so genannte Vakuum- oder Aerosolbomben: Die segeln an einem Fallschirm zur Erde und setzen entzündbares Gas frei. Dieser Nebel wird gezündet und sorgt für eine mächtige Explosion, die selbst in schlecht gesicherte Bunker eindringt und alles Leben im Umkreis von mehreren hundert Metern vernichtet. Solche Bomben sind bereits im August im dagestanischen Dorf Tando abgeworfen worden. Außerdem schließe ich den Einsatz chemischer Waffen nicht aus.

Frankfurter Rundschau: Warum?

Felgenhauer: Mich machen die Meldungen unserer Militäraufklärung misstrauisch, die Tschetschenen bereiteten einen chemischen Angriff vor. Das ist eine Lüge, die Tschetschenen haben keinerlei Chemiewaffen. Aber sie mag dem russischen Militär als Vorwand dienen, um selbst eine Gas-Attacke zu starten und die Schuld dann den Tschetschenen in die Schuhe zu schieben.

Frankfurter Rundschau: Das klingt doch, als hätten die Tschetschenen keine Chance.

Felgenhauer: Nein. Man kann keinen Krieg ohne direkte Feindberührung und Bodenkämpfe gewinnen. Unsere Militärs nennen die Tschetschenen zwar aus Propagandagründen Terroristen und Banditen, haben aber in Wahrheit einen Höllenrespekt, ja Angst vor ihnen. Unsere Infanterie ist den Tschetschenen hoffnungslos unterlegen.

Frankfurter Rundschau: Weshalb?

Felgenhauer: In der russischen Armee sind mehr als neun Zehntel der Soldaten und Unteroffiziere Wehrpflichtige. Viele Offiziere kommen von zivilen Universitäten und leisten nach dem Studium den zweijährigen Dienst ab. Die Tschetschenen dagegen sind als Verteidiger ihrer Heimat hoch motiviert, haben bereits lange Kampferfahrung und lernen auch jetzt im Krieg ständig weiter. Es ist, als ob eine Schulmannschaft gegen ein Bundesligateam antreten müsste.

Frankfurter Rundschau: War die bisherige Preisgabe von Territorium also eine bewusste Taktik des tschetschenischen Präsidenten Aslan Maschadow?

Felgenhauer: Maschadow ist ehemaliger sowjetischer Artillerieoffizier und hat sich schon im ersten Tschetschenienkrieg als glänzender Taktiker bewiesen. Er plant seine Aktionen sehr sorgfältig. Er hat eine Freiwilligenarmee und kann sich nicht wie unsere Generäle erlauben, seine Jungs ins Feuer zu schicken und dann zu sagen: Tja, sie sind gestorben, schade drum, aber was soll`s. Wenn sich ein tschetschenischer Kommandeur als unfähig erweist, laufen ihm seine Leute weg. Bezeichnenderweise zeigt das russische Fernsehen bestenfalls einmal zwei, drei getötete tschetschenische Kämpfer, Gefangene sind gar nicht zu sehen. Natürlich haben die Tschetschenen Verluste, aber sie sind nicht sehr hoch. Der russische Generalstabschef Anatolij Kwaschnin dagegen hat schon mehr russische Soldaten getötet als Schamil Bassajew und Chattab (die tschetschenischen Kommandeure, d. Red.) zusammen.

  zum Anfang


Krieg in Tschet- schenien - Inhalt
Frankfurter Rundschau: Sie scheinen ja nicht sehr viel vom russischen Generalstabschef zu halten.

Felgenhauer: Kwaschnin ist ein vollendeter Idiot Er, hat mir einmal stolz erzählt, wie toll er den Sturmangriff auf Grosny im Dezember 1994 geplant habe, bei dem Tausende, unserer Soldaten ums Leben kamen Aber er ist dienstbeflissen, bläst sich nicht auf und macht vor der Führung seinen Diener, während er seine Untergebenen wie den letzten Dreck behandelt. Militärisch macht dieser Krieg keinerlei Sinn, das sagen mir auch viele Generäle: zum Beispiel Machmud Gorejew, Präsident der Militärakademie und einer der angesehensten russischen Militärs. Die russische Armee begeht in Tschetschenien massenhafte Kriegsverbrechen, vor allem an der Zivilbevölkerung. Auch das Ultimatum an Grosny widerspricht der Genfer Konvention und ist ein Kriegsverbrechen. Viele Offiziere sind gegen diesen Krieg. Dessen einziger Sinn ist, Putins Rating zu heben.

Frankfurter Rundschau: Wie lange lässt sich die Wahrheit über den Krieg verheimlichen?

Felgenhauer: So lange man will. Es ist wie im Witz mit Napoleon, der die Prawda liest und sagt: Hätte ich so eine Zeitung gehabt, hatte niemand von Waterloo erfahren. Das Fernsehen, für die meisten Russen die einzige Informationsquelle, ist eine sehr effektiv arbeitende Propagandamaschine und längst nicht so langweilig wie zu Sowjetzeiten. Und in der Presse? Ich selbst habe Segodnja (die Tageszeitung gehört wie der Fernsehsender NTW zum Media-Most Imperium des Oligarchen Wladimir Gussinskij, d. Red.) verlassen, weil die Zeitung meine kritischen Artikel seit Beginn des Krieges im August nicht mehr druckte. Die Propaganda funktioniert auch, weil die Gesellschaft bereit ist, sie zu glauben. Die Russen fühlen sich schon seit Jahren erniedrigt. Sie wollen nicht die Wahrheit hören, sondern die Lüge, dass Russland siegt. Aber letztlich kann Russland in Tschetschenien nur verlieren.


Internet: http://www.fr-aktuell.de
 zum Anfang

 vorheriger

       
Einige weitere Texte (per Zufallsauswahl) zum Thema

Russland, Kaukasus:
Krieg in Tschetschenien - Inhalt
Tschet.: Mahnwachen
Tsche: Sonia Mikich ai 12/99
Tsche: Brief des Bremer Friedensforums
Tsche: Städtepartnerschaft 3
Tsche: Forum ZFD

Einige weitere Texte (per Zufallsauswahl) betreffend Land

Russische Föderation:
FF 5/97 Soldatenmütter
Tsche: Christen f.d. Frieden Dortmund
Tsche: Friedensbüro Heilbronn
Tsche: Nürnberger Friedensforum
FF4/99 - Internationale Konferenz in St. Petersburg

Bereich

 Themen 

Die anderen Bereiche der Netzwerk-Website
         
Netzwerk   F-Forum  Termine  Jugo-Hilfe Aktuell